Rückzug in die Wälder
Zwei Berner Galerien zelebrieren den Wald als Ort der Inspiration. Während die multimediale Künstlerin Victorine Müller im Urner Bergforst arbeitete, setzte sich Fotograf Alexander Jaquemet den tropischen Wäldern von La Réunion aus.

Langsam schreitet die Künstlerin durch den Wald. Ihr Haupt ist von einer Kunststoffblase umgeben. Äste halten die Hülle zusammen. Sie durchziehen sie wie Adern – und lassen das künstliche Material äusserst organisch erscheinen. Victorine Müller spricht von «Selbstbildnis», und die Videoarbeit steht exemplarisch für das poetische Werk der in Zürich lebenden Solothurnerin.
Es steht für ihre Verbindung zur Natur, für die Zeit, die sich ihre Kunst nimmt und die sie von ihren Betrachtern einfordert. Und sie steht für die Performances, die Müller bekannt gemacht haben. Etwa «Him»: Stunden harrte die Künstlerin im Herbst 2004 in einem mit Luft gefüllten Kunststoffflügel aus – an der Sandsteinfassade der Gerechtigkeitsgasse 40, oberhalb des Kunstkellers Bern.
Neuanfang
Nun sind Victorine Müllers aktuellste Arbeiten in den Räumlichkeiten des Kunstkellers ausgestellt. «Bin im Wald, komme später . . .» heisst die erste Ausstellung der neuen Leiterin Barbara Marbot, die mit ihrer Galerie da Mihi vom Bubenbergplatz in die Altstadt gezogen ist. Neben den performativen Videoarbeiten sind Aquarelle Victorine Müllers ausgestellt – die Ernte eines fruchtbaren Schaffensprozesses in einem Künstleratelier in Göschenen. Umgeben von den Urner Wäldern, schuf die 56-Jährige blaue, biomorphe Mischwesen, die tierische, pflanzliche und menschliche Charakteristika vereinen. Das Performative ist durch die dynamische Pinselführung auch den Aquarellarbeiten eigen.
Seepferdchen mit Rippenkasten, ein Vogelkopf, aus dessen Augenhöhlen Ströme fliessen, eine mit einem Baumstrunk verwachsene Tatze: Mischwesen hat Müller zudem in Bronze gegossen – ein ungewohnt statisches Material im filigranen Œuvre der Künstlerin. Doch durch die Oberflächenbehandlung erscheinen die kleinformatigen Skulpturen wie aus dunklem Holz geschnitzt. Das wirkt düster, aber nie bedrohlich. Ein kraftvoller Start in eine neue Galerienära.

Kraftvoll
Kraftvoll wirken auch die Fotoarbeiten des Berners Alexander Jaquemet, die nur wenige Schritte von da Mihi entfernt in der Galerie Béatrice Brunner ausgestellt sind. Auf stundenlangen Wanderungen durch die Regenwälder der Insel La Réunion suchte Jaquemet nach geeigneten Orten, die haften bleiben, nach den titelgebenden «Lieus». Man kann sich nicht satt sehen an der abgebildeten, dichten Flora, diesem «botanischen Cocktail», wie es Jaquemet beschreibt. Das sind keine zufälligen Waldaufnahmen, keine spontanen Bilder, wie es sie im Zeitalter der Digitalfotografie zuhauf gibt. Das sind komponierte Ausschnitte, mit Bedacht und im optimalen Tageslicht aufgenommen.
Gereift im Atelier, in dem sie der 39-jährige Fotokünstler mehrere Wochen liegen und ihre Wirkung entfalten lässt. Erst dann entscheidet er, welche es in den Galerieraum schaffen – einige in Farbe, viele in Schwarzweiss.Den grossformatigen Waldbildern sind Himmelsaufnahmen gegenübergestellt. Die Blauverläufe wirken abstrakt neben den detaillierten Urwaldausschnitten. Verbindend ist der Blick, der ins Unbekannte, ins Endlose führt. Dazwischen hängen Landschaftsaquarelle, bildnerische Notizen, die Alexander Jaquemet nicht vor Ort, sondern aus der Erinnerung schafft. Wie bei Victorine Müller ergibt sich so ein überzeugendes Gesamtwerk, das sich an der Inspirationsquelle Natur nährt.
«Victorine Müller – Bin im Wald, komme später . . .»: bis 28. Oktober, Galerie da Mihi, Gerechtigkeitsgasse 40. Performance der Künstlerin am 21. Oktober vor der Galerie (bei schlechter Witterung am 28. Oktober).«Alexander Jaquemet. Lieu»: bis 14. Oktober, Galerie Béatrice Brunner, Nydeggstalden 26.
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