Revolution im Trainerjäckchen
Kieran Joel inszeniert erstmals in Bern. «Kinder der Sonne» von Maxim Gorki aus dem Jahr 1905 ist für den 33-jährigen Regisseur brandaktuell.

Palmentapete, Wintergarten und ein Wohnzimmer voller alter Schmöker, die Aquarien stützen. Im Theatersaal Vidmar 1 im Liebefeld wird das Zerrbild eines bürgerlichen Hauses aufgebaut. Ein Bühnenbild, das am Boden scharrt, weil es endlich eine Geschichte erzählen will. Nur welche? «Kinder der Sonne» von Maxim Gorki hat heute Donnerstag Premiere.
Mit der Umsetzung ist ein neues Team betraut, wie das frische Bild unschwer erkennen lässt. Der junge deutsche Regisseur Kieran Joel führt zum ersten Mal Regie in Bern, und hat das Team seines Vertrauens mitgebracht: Videodesigner Sebastian Pircher, Musiker Lenny Mockridge. Und Bühnen- und Kostümbildnerin Belle Santos.
Joels Weg führt steil nach oben. Vor einem knappen Jahr erst hat er von der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch sein Regie-Diplom erhalten, mit Auszeichnung. Und doch hat er bereits an der Berliner Volksbühne und in Köln Regie geführt. Eben hat er am Münchner Volkstheater eine viel beachtete «Romeo und Julia»-Inszenierung abgegeben. Und jetzt Bern.
Neue Sternstunde für das Berner Theater?
Frisches Team, frisches Bild, frischer Stoff? Blüht dem Berner Theater wieder eine Sternstunde wie mit Regisseur Ersan Mondtag, der mit «Die Vernichtung» 2016 ein Gesamtkunstwerk ablieferte?
Es sind ganz andere Voraussetzungen. «Kinder der Sonne» ist über hundert Jahre alt. Der Russe Maxim Gorki (1868–1936), bei dem immer ein wenig Sehnsucht nach Revolution mitschwingt, verfasste eine vorrevolutionäre Parabel: Der Sohn eines Generals hat sich in seinem Labor der chemischen Forschung verschrieben. So versessen, dass er nichts um sich herum wahrnimmt, weder die Unzufriedenheit seiner Frau noch der Unmut seiner Angestellten. Gleichzeitig wütet draussen eine Choleraepidemie.
Zu Gorkis Zeiten brodelte es in Russland. Doch das Bürgertum trank Tee und kriegte von alldem nichts mit. Kieran Joel, der Mann im Trainerjäckchen, sieht Parallelen zu heute. Nationalisten, die nach Mauern schreien, sind in Amerika und Europa auf dem Vormarsch wie bei Gorki die Cholera. Und die Bildungsbürger sehen machtlos zu, wie die Unzufriedenheit wächst.
Die radikal ehrliche bürgerliche Klasse
Für Joel gibt es einen grossen Unterschied: «Bei Gorki gehörte man zur bürgerlichen Klasse, wenn man alles weglügen konnte. In unserer Zeit kriegen wir alles mit, wir können nicht mehr lügen. Die Fakten liegen auf dem Tisch.» Jeder wisse, dass die seltenen Erden in seinem Smartphone im Kongo unter traurigen Verhältnissen geschürft wurden und die Kleider aus dem Ausbeuterbetrieb kommen. Gleichzeitig wachse das Unverständnis gegenüber den Unzufriedenen, etwa den Protestwählern der AfD.
«Gewisse Dinge sind nicht mehr verhandelbar», sagt Joel. Die Klasse der Aufgeklärten verbiete sich (und allen anderen) Ansichten, die von der Ideallinie abweichen. «Es ist ein schmerzhafter Prozess, Verständnis für die AfD zu haben», sagt der 33-Jährige. Aber er ist überzeugt, dass die Bildungsbürger – es sind die, die ins Theater gehen – nicht darum herumkommen.
Den Unterschied zu Gorkis vorrevolutionärem Russland will Joel auf die Bühne tragen. «Was ist, wenn alles radikal auf den Tisch kommt und wenn alles öffentlich verhandelt wird?», hat er sich bei der Erarbeitung des Stoffs gefragt. Während bei Maxim Gorki die Figuren meist das Gegenteil von dem sagen, das sie meinen, setzt Kieran Joel auf die maximale Transparenz unserer Zeit. Klare Ansagen statt Beiläufigkeit. «Das kann auch mal laut werden.»
Aber auch lustig. Kieran Joel spricht zwar ernst, aber im Theater setzt er immer auf den Humor, weil wir uns davon überlisten lassen. «Lachen ist der erste Impuls. Wir lachen, bevor wir denken», sagt er. Das Niedliche hingegen, die Rührung lässt ihn kalt. «Das ist Hollywood.»
Er konfrontiert lieber das Publikum mit sich selbst. «Die Zuschauer sollen über sich staunen, wenn sie das Theater verlassen». Vielleicht noch ein wenig über das Bühnenbild – und den frischen Blick aufs Theater.
Premiere: heute Donnerstag, 8. März, 19.30 Uhr, Vidmar 1, Liebefeld. Vorstellungen bis 7. Juni. www.konzerttheaterbern.ch
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