Zu schönes Wetter zum Arbeiten
pädu anliker
Draussen schlagen die Mittagsglocken. warum eigentlich? Ist das nicht ein alter überholter Brauch in unserer schnellen, nervösen Zeit, wo kaum mehr je ein Zustand von Ruhe oder Zufriedenheit aufkommen kann, wo wir täglich tausendfach Multitasking betreiben, mehrfach aktiv sind, mehrere Sachen immer parallel laufen lassen und uns kaum mehr konzentrieren können auf das, was wir wirklich wollen oder sollten? Und dann noch Kirchenglocken? Ja, die moderne Welt: 70 Mails kommen pro Tag auf meinen Mailserver, davon sind 40 Müll, dann checke ich im Schnitt 20 Myspace-Links und höre in die Musik aus der ganzen Welt rein, um die neuen Acts, die zu Tausenden, trotz Krise in der Musikbranche, existieren, irgendwie erfassen zu können. Das Ziel ist: ein attraktives, zeitgenössisches Musikprogramm in unserem Club anzubieten. Die ganze Arbeit in der Showbranche hat sich mit der Digitalisierung unserer Welt ver-x-facht, und wir müssen dazu technisch ziemlich parat sein, weil heute 80 Prozent der Kommunikation in der Branche über das Kabel geht. Durch die Ungenauigkeit des Mediums E-Mail haben wir aber viel Arbeit, sodass man immer allem hinterherrennt und nie das Gefühl hat, mit der Arbeit fertig zu sein. Heute ist es für mich die Norm, dass ich am Morgen aufwache mit dem Gefühl, schon verloren zu haben, was definitiv nicht gesund für Körper und Seele ist. Vor Jahren dachte ich immer, dass ich später einmal, so mit Mitte 50, zurückblicken kann auf das Erarbeitete, auf das Geleistete und stolz sein darf darauf und mich ein wenig zurücklehnen kann, mit einem guten Gewissen. So wie Miles Davis, der ja am Schluss seiner Karriere in schillernder Kleidung mit der goldenen Trompete, inmitten seiner Band junger dynamischer Musiker, auf der Bühne stand und nur noch hie und da ein Riff einstreute und ansonsten cool die Band dirigierte und den Ruhm genoss. Dies ist leider Wunschdenken, das merke ich leider immer wieder. Ich habe vor 25 Jahren in einer vollständig anderen Zeit damit angefangen, zeitgenössische Kultur in eine Stadt zu bringen, in der damals um 21 Uhr noch die Trottoirs hochgeklappt wurden, in der es 4 bis 6 Wirtschaften mit Gartenbetrieb gab und die Prokuristen der Berner Kantonalbank noch Lederpolster an ihren Bürojacken aufgenäht hatten und wir mit unseren Aktivitäten noch Rebellen waren. Thun war ein Kaff und der Fuhlehung war etwas für die Leute aus der Innenstadt und den stadtnahen Quartieren, zu denen der Dürrenast, das Quartier, in dem ich pubertierte, nicht gehörte. Alles war gemütlich und überschaubar, bieder und berechenbar. Alles klar! Mit etwas Hirnmasse war man hier dabei, definitiv. Nun, diese Zeiten sind vorbei. Nicht dass ich sie wirklich zurückwünsche, obwohl in Sachen Sex und Drogen damals mehr los war als heute, und dies auch hier, in der kleinen Stadt am Rande der grossen Alpen. Nun sind wir hier auch angelangt, in der modernen Welt, wo nur noch alte Säcke eine richtige Zeitung lesen und sogar die Kolumnenschreiber schon fast im AHV-Alter sind, wo Gratiszeitungen zur Hälfte mit Inseraten von Mobiltelefonfirmen und die andere Hälfte mit Berichten über Mobiltelefonie, iPhone-Apps und neue Telefone gefüllt sind und somit der jungen Leserschaft vorgeben, womit sie ihr Leben zu vergeuden haben, und dies nicht gratis bitte, weil ja schon all diese Inserate viel Geld kosten und die Firmen ja auch noch Gewinn machen wollen. Telefonieren ist der Super-Hype unserer Zeit und zieht den Menschen das Geld so geschickt aus der Tasche, dass sie noch fast dankbar sind, zahlen zu dürfen, um dabei zu sein. Nun, diese Schreibe soll nicht generell um den Wahnsinn Telefonieren gehen Da würde eine ganze Ausgabe des ²Thuner Tagblattes² nicht reichen. Es ist Donnerstag, 7.Oktober 2010, ein Altweibersommertag, wie er selbst auf Wikipedia nicht beschrieben werden kann Ein Herbsttag, der mich so kribbelig macht, so flickrig-nervös und unkonzentriert, quasi arbeitsunfähig, trotz einem vollen Programm, das ich nicht verschieben kann. Alle, die heute nicht irgendwie arbeiten müssen, treibt dieses übersinnliche Wetter aus dem Haus und in die Wanderschuhe Der Bahnhof Thun glich heute Morgen einem Bienenhaus, die BLS führte ihre Schiffkurse doppelt, alle besannen sich der Grossmutter, die ja auch noch im Altersheim vegetiert, und holten ihre 175-Jahre-Thunersee-Schiffahrt-Jubiläumsgutscheine aus dem Heimtresor, die sich mit dem Saisonschluss am 17.Oktober in Luft auflösen – was zu hart ist für einen materialistischen Schweizer Bürger –, und stürmten die Schiffe. Über die Schifffahrt auf dem Thunersee, über den Thunersee, über die Stadtpräsidiumswahlen, über Kampftrinken am Fuhlehung, über die Zeder, die in Oberhofen gefällt werden soll, über Working Poor, über die immer wieder neu lancierte Verschandelung des Stockhorn-Gipfels und über weiss nicht was alles habe ich nachgedacht, bevor ich mit dem Schreiben dieser Kolumne angefangen habe Alle diese Themen sind es wert, dass darüber geschrieben wird, und würden alle eine Kolumne ergeben. Ich gehe diesmal den modernen Weg und schreibe im Stil eines Remixes über alle Themen in einem Abschnitt. REMIX ZUM SCHNELL LESEN: Eine meiner liebsten Freizeitaktivitäten ist eine Schifffahrt auf dem Thunersee, 1.Klasse, weil dort die Aussicht so schön ist. Manchmal lese ich gekaufte Zeitungen, und manchmal lasse ich nur die Seele baumeln und den Blick schweifen. Wir leben in einer unwahrscheinlich schönen Gegend, was mir zu meinem Glück immer wieder von all den ausländischen Künstlern auf die Nase gebunden wird. Die Thunersee-Gemeinden wie Hilterfingen, Oberhofen, Gunten und Merligen sind heute, wie die Quartiere der Stadt Thun, ziemlich dicht verbaut. Bausünden, wie die österreichischen Fertighäuser in unmittelbarer Umgebung des Schlössleins Oberhofen, sind ein Zeichen, dass hier Denkmal- wie ein Uferschutz vollständig versagt haben, jedes Mal zieht es mir fast die Schuhe aus, wenn das Schiff dort vorbeifährt. So was vo grusig! Nun steht im optischen Blickfeld dieser sprengungswürdigen Objekte noch eine alte Zeder, die vom Besitzer des Grundstückes gefällt werden soll, weil sie angeblich gefährlich für die Umwelt ist. Alte Bäume sind ein Kulturgut und sollten es bleiben. In Oberhofen geht es wohl eher um die Aussicht, die durch den Baum beeinträchtigt wird. Wenn Grundstücke nur noch an die Meistbietenden verkauft werden, muss man sich nicht wundern, dass plötzlich die Natur zum Feind wird. Meine Meinung zu den Stadtpräsidiumswahlen gebe ich gerne persönlich ab, ein öffentlicher Klartext ist zu brisant für einen Kulturschaffenden, der auch mit öffentlichen Geldern arbeitet Denn Working Poor haben wir in unserem Club in den letzten Monaten mehr als zu Genüge als ungesund erfahren müssen Noch zum Kampftrinken am Fuhlehung: Es ist eine unschöne Entwicklung, geht aber gut zusammen mit dem Fussballkult und der Nazifizierung unserer Gegend. Um einen besseren Blick auf unsere kleine Welt hier an den lieblichen Gestaden des Thunersees zu haben, brauchen wir keinen Metall-Nasenring am Stockhorn, denn Piercing ist mittlerweile etwas für Schulmädchen, die sich ja schon in der 4.Klasse, mit dem Segen ihrer fehlgeleiteten Eltern, das erste Mal stechen lassen und: Das Meer saugt alle Flüsse aus, und wo der Fluss am weitesten weg vom Meer, ist das Saugen schwach und der Bach dünn. E-Mail: sucks@mokka.ch redaktion-tt@bom.ch >
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