Wenn das Violoncello zur Glocke wird
Berner MünsterDieser Abend hallt nach: Daniel Glaus, Conradin Brotbek und das Berner Kammerorchester begeistern am Musikfestival Bern mit einem Konzertprogramm voller Spiegelungen und Spielereien – und einer Hommage an die grosse Glocke des Münsters.
Kommt da noch was? Ein Ton? Oder ein später Nachklang? Gebannt sitzt das Publikum auf den beinahe voll besetzten Münsterbänken und lauscht. Conradin Brotbek sitzt in der Mitte der Kirche, alleine mit seinem Cello, das in den vergangenen Minuten zur Glocke geworden ist. «Passacailles fugitives für Violoncello und die Grosse Glocke des Berner Münsters», nennt der Komponist und Organist Daniel Glaus sein neues Werk – eine klingende Hommage an Susanna, die grösste Münsterglocke, gegossen vor genau 400 Jahren. Noch bleibt sie stumm, zu Beginn der Uraufführung: Erst behutsam, dann zunehmend energisch baut Brotbek mit seinem Cello einen Klangraum auf. Zupfend (Pizzicato) ahmt er die Glocke nach, variiert, verfremdet, schafft flüchtige Klangbilder, geprägt von Unruhe. Erst im Verlauf des Werks, fast unbemerkt, kommt der reale Glockenton aus der Höhe hinzu, legt sich unter den Klang des Cellos, das nun mit gleissendes Obertönen (Flageoletts) antwortet. Wenn sich die Farben von Cello und Glocke ununterscheidbar mischen, hat das etwas Magisches. Samtig, dezent, fast beruhigend wirkt die unsichtbare Susanna mit ihrem tiefen Schlagton im Innern der Kirche. Genau hundertmal schlägt die Glocke, bevor sie langsam auspendelt – und mit ihr das Cello von Conradin Brotbek, der zuletzt eine gespannte Ruhe ausstrahlt. Ein fast meditatives Werk, das ohne ausgreifende Gesten den Eindruck von Grösse vermittelt und manche Assoziationen zulässt. An einen einsamen Wanderer etwa könnte man denken – und an eine Sonntagsglocke, die zur Todesglocke wird. «Passacailles fugitives» («flüchtige Gassenspaziergänge») – das passt nicht nur zu dieser Komposition. Es passt auch zum Programm, das Daniel Glaus zum Saisonauftakt für das Berner Kammerorchester zusammengestellt hat. Alles dreht sich hier um die alte musikalische Form der Passacaglia, bei der sich über einer wiederkehrenden Bassfigur eine Reihe von (oft improvisierten) Variationen entfaltet. Eines der berühmtesten Beispiele ist ganz zu Beginn zu hören – als Referenzwerk, auf das sich an diesem Abend fast alles bezieht: Johann Sebastian Bachs (1685– 1750) c-Moll-Passacaglia für Orgel. Münsterorganist Daniel Glaus spielt sie fern von pseudoromantischer Gravität – überraschend schnell, dabei filigran und transparent, vor allem im Fugenteil mit seinen mehrstimmigen Verästelungen. Über dem bohrendem Bass lässt der Organist den Klang der Variationen sich wellenartig ausbreiten, schafft aber auch Inseln der Intimität. Wie anders klingt das Werk in der Orchesterfassung von Daniel Glaus, die erstmals zu hören ist: expressiver, wärmer, aber auch gewichtiger. Das Berner Kammerorchester – erweitert durch Blechbläser, Pauke und Harfe – verleiht dem Werk verblüffende Farben, aber auch eine strenge, beinahe steife Würde. Und in den vertrackten Passagen der Fuge wirkt das Orchester etwas behäbig. Flüchtige Erinnerungen Fast spätromantisch expressiv wirkt die Streichorchesterfassung der Orgel-Passacaglia von Frank Martin (1890–1971), die 1944 im Münster uraufgeführt wurde und als Original im Vorkonzert zu hören ist. Bachs berühmte c-Moll-Passacaglia erscheint hier verfremdet, angereichert mit herben Halbtönen und Dissonanzen – gesehen im Zerrspiegel des 20.Jahrhunderts sozusagen. Am Ende des Konzerts ist Bachs Passacaglia-Klassiker bloss noch eine ferne, flüchtige Erinnerung, zersplittert im wahrsten Sinn des Wortes: Für die Uraufführung seiner «Réminiscences évoquées par la Passacaille de Bach pour violoncelle et orchestre» hat Daniel Glaus die Orchestermusiker in der ganzen Kirche verteilt. Glaus, der als Dirigent in der Münstermitte thront, erzielt dadurch zwar unerhörte Klangwirkungen, doch der Effekt verblasst auf Dauer – das Werk franst etwas aus, und mit ihm der Abend. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihn mit der berührenden Glockenhommage auspendeln zu lassen. Oliver Meier;Das Musikfestival Bern dauert bis Sonntag, 18.9. Infos und Tickets: www.musikfestivalbern.ch.>
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