
region
Magische Innenansicht der Gletscher
Die Bilder des Berner Fotografen Bernd Nicolaisen zeigen eine Welt bizarrer Schönheit: Plastische Strukturen von kristallklarem Eis schimmern kraftvoll in kargem Restlicht.
Nur einer der 18 im Oberland unter Beobachtung stehenden Gletscher wuchs im letzten Jahr an. Alle anderen schmelzen weiter. Der Gamchi- und der Untere Grindelwaldgletscher haben sich von ihren Gletscherzungen abgelöst.
Der schmelzende Steinlimigletscher. Im Hintergrund der Parkplatz Umpol, ganz hinten links die Susten-Passhöhe.
(Bild: Bruno Petroni)
Der neuste Kryosphärenbericht – er beschäftigt sich mit allem, was von Schnee und Eis bedeckt ist – der ETH Zürich zeigt deutlich: In der Hitze des letzten Sommers erlitten vor allem die Gletscher in den Waadtländer und Berner Alpen einen Dickenverlust von 1 bis 2 Metern, vereinzelt aber auch noch gröbere Schmelzprozesse wie zum Beispiel am Plaine-Morte-Gletscher auf dem Gemeindegebiet der Lenk mit rund 21/2 Metern.
Die Massenbilanzunterschiede zwischen den untersuchten 20 Schweizer Gletschern waren aber im letzten Jahr besonders gross, denn weit weniger dramatisch als in den Berner Alpen war beispielsweise der Eisverlust im südlichen Wallis mit rund 70 Zentimetern Rückgang.
Schlimm für die Kleinen
«Besonders verheerend wirkte sich der Hitzesommer 2015 auf die kleineren Gletscher ohne hoch hinaufreichendes Einzugsgebiet aus, waren doch Ende Juli bereits viele von ihnen gänzlich ausgeapert», weiss der ETH-Glaziologe Andreas Bauder.
Dem zögerlichen Ausapern im Verlaufe des Frühsommers sowie Schneefällen Mitte August und im September ist es zu verdanken, dass eine noch stärkere Gletscherschmelze ausblieb; dies, obwohl das Jahr 2015 als wärmstes seit Beginn der Messung in die Annalen einging.
2,5 Prozent abgeschmolzen
Bauder hat noch weitere Erkenntnisse: «Auf die gesamten rund 900 Quadratkilometer Gletscherfläche der Schweiz hochgerechnet ergibt sich für das Beobachtungsjahr 2014/2015 ein Eisverlust von 1,3 Kubikkilometern Eis, was einer Reduktion des aktuell in der Schweiz vorhandenen Gletschervolumens von etwa 2,5 Prozent entspricht und ausreichen würde, um den Bielersee zu füllen.»
Trotz allem wurden die Rekordwerte aus dem Hitzesommer 2003 nicht ganz erreicht: «Die Massenbilanz liegt aber im Bereich der ebenfalls sehr negativen Jahre 2006, 2011 und 2012», so Bauder.
Während die Massenbilanz direkt von den Witterungsbedingungen abhange, widerspiegle die Längenänderung der Gletscher vor allem die längerfristige Veränderung der klimatischen Verhältnisse, sagt der Glaziologe.
«Diese wirkt sich je nach Grösse des Gletschers mit unterschiedlicher Verzögerung auf das Gletscherende aus. So wurden im letzten Beobachtungsjahr 92 Schweizer Gletscher kürzer, während 3 Gletscher ihre Zungenposition nicht veränderten und deren 4 gar leicht anwuchsen.» 1 von diesen 4 ist der Obere Grindelwaldgletscher, der 2 Meter vorrückte.
«Im letzten Beobachtungsjahr wurden 92 Schweizer Gletscher kürzer, während 3 Gletscher ihre Zungenposition nicht veränderten und wir bei deren 4 gar ein leichtes Vorrücken fest- gestellt haben.»Andreas Bauder, Glaziologe ETH
Wenn sich die Zunge abtrennt
Grosse Veränderungen gab es am Gamchi- und am Unteren Grindelwaldgletscher. So trennte sich bei letzterem letztes Jahr im Bereich des Zäsenbergs die fast 500 Meter lange Gletscherzunge vom Muttergletscher ab; die riesigen Eisresten zerbröseln langsam, aber stetig. Eine weitere Abtrennung im Bereich der Heissen Platte auf 2100 Metern Meereshöhe ist nur eine Frage der Zeit. Andreas Bauder: «Diese markanten Rückgänge um mehrere Hundert Meter sind die Folge einer Entwicklung über die letzten Jahre.
Zum Vergrössern bitte Bild anklicken.
Wegen der teilweise starken Schuttbedeckung der Zunge und des ausbleibenden Eisnachschubs aus dem Firngebiet schmelzen die Eismassen sehr unregelmässig. Die Gletscherzungen dünnen aus, ohne dabei markant an Länge einzubüssen. In einem einzelnen Jahr können dann plötzlich grosse Flächen abschmelzen.» Trennt sich an einer engen Stelle ein grösserer Teil ab, verschiebt sich das aktive Gletscherende schlagartig weit nach hinten.
Ein Gemeinschaftswerk
Die Beobachtung der Kryosphäre umfasst sowohl Schnee als auch die Gletscher und den Permafrost. Eine Expertenkommission koordiniert die Beobachtungen und Messnetze. Schneemessungen werden gemeinsam von Meteo Schweiz und dem WSL-Institut für Schnee und Lawinenforschung durchgeführt und umfassen 150 Messstationen.
Messungen an 120 Gletschern werden im Rahmen des Schweizer Gletschermessnetzes Glamos durch verschiedene Hochschulen, kantonale Forstämter, Kraftwerkgsgesellschaften und Privatpersonen erhoben.
Nicht weniger als sechs Institutionen sind an einer neuartigen Überwachung der Schweizer Gletscher beteiligt. Im Zuge des seit 140 Jahren bestehenden Monitoringprojekts Glamos ist eine moderne und systematische Beobachtung der Gletscher langfristig gesichert.
Die jährlichen Kosten von 400'000 Franken teilen sich das Bundesamt für Umwelt, Meteo Schweiz, die Akademie der Naturwissenschaften, die ETH Zürich und die Universitäten Freiburg und Zürich.
Hauptziel der Überwachung mittels Gletschermessnetz ist es, die langfristigen und regionalen Gletscherveränderungen zu dokumentieren. Dabei werden Veränderungen der Gletscherlängen, die Bilanz der Gletschermassen, die Änderung von Volumen, Flächen, Geschwindigkeiten des Eisflusses sowie die Eistemperaturen gemessen. Diese Daten werden von den Partnern zusammengetragen und auf einer Plattform zusammengeführt.
Diese Klimaindikatoren machen die Einflüsse von Temperatur und Luftfeuchtigkeit auf den Gletschern sichtbar. Auch sollen die Daten der Wasserwirtschaft und der Gefahrenprävention dienen. Auch die Öffentlichkeit soll dereinst von den Daten profitieren können. Eine entsprechende Info-Website befindet sich im Aufbau.
Das Schweizerische Gletschermessnetz Glamos beobachtet in den Schweizer Alpen 120 Gletscherzungen. Dazu zählen auch 18 Gletscher des Berner Oberlandes. 4 der 120 Gletscher verzeichneten 2015 einen Vorstoss (2014 waren es deren 6) – unter ihnen auch der Trift- und der Obere Grindelwaldgletscher.
Die Zahlen von 13 Oberländer Gletschern mit den Veränderungen des Jahres 2015 im Vergleich zu 2014: Ammerten (Lenk): Abnahme 3 Meter (2014 0 m), aktuelle Länge (letzte Messung 2010) 2,45 Kilometer, Fläche 1,17 Quadratkilometer. Blüemlisalp (Kandersteg): –39 m (–101), 2,47 km/2,23 km2. Eiger (Lauterbrunnen): –12 m (–7 m), 2,59 km/ 1,54 km2. Gamchi (Reichenbach): –387 m (–50 m), 1,79 km/ 1,24 km2. Gauli (Innertkirchen): –13 m (–51 m), 6,38 km/11,4 km2. Kanderfirn (Kandersteg): –24 m (–24 m), 6,28 km/12,23 km2. Oberer Grindelwald (Grindelwald): +2 m (–12 m), 6,22 km/8,42 km2. Plaine-Morte (Lenk): –4 (–9), 3,73 km/7,29 km2. Stein (Gadmen): –99 m (–88 m), 4,23 km/5,69 km2. Steinlimi (Gadmen): –39 m (–89 m), 2,33 km/1,59 km2. Trift (Gadmen): –3 m (–1 m), 6,42 km/14,91 km2. Tschingel (Lauterbrunnen): –39 m (–14 m), 3,64 km/6,16 km2. Unterer Grindelwaldgletscher (Grindelwald): –450 m (–472 m), 8,05 km/16,7 km2.
Keine neuen Angaben gibt es zu den restlichen 6 beobachteten Oberländer Gletschern. Diese wiesen bei der letzten Messung folgende Daten auf: Gelten (Lauenen): Abnahme per 2008 8 m, 2009 16 m, Länge 0,84 km, Fläche 0,45 km2. Oberaar (Guttannen): Abnahme 2009–2012 48 m, 2012–2013 9 m, 4,83 km/4,1 km2. Rosenlaui (Schattenhalb): Keine neuen Daten vorhanden, 4,7 km/5,4 km2. Tungel (Lauenen): –171 m, 2011 4 m, Länge 1,873 km. Unteraar (Guttannen): Abnahme 2009–2012 62 m, 2012–2013 16 m, 12,62 km/22,51 km2.
Zum Vergleich die aktuellen Daten über den grössten Schweizer Gletscher, den Grossen Aletsch (Naters): Abnahme 54 m (32 m), Länge 23,58 km, Fläche 78,38 km2. Oder der grösste Gletscher Europas, der Vatnajökull (Island): Massenverlust in den letzten 40 Jahren 4,4 Prozent, Länge 150 km, Fläche 8?100 km2. Schliesslich der Lambertgletscher (Antarktis) als grösster Gletscher der Welt: Dieser kalbt bis zu 1000 Meter pro Jahr ins Meer hinaus. Länge 420 km, Fläche 45?000 km2.
Erhalten Sie unlimitierten Zugriff auf alle Inhalte:
Abonnieren Sie jetzt