Der Schatz im Industriebau
Er lebte in Amsterdam ein Doppelleben: Der aus Wangen an der Aare stammende Künstler Hans Obrecht (1908–1991). Eine Stiftung will sein Werk wieder der Öffentlichkeit zugänglich machen, doch ihre Mittel sind beschränkt.

Gaswerkstrasse 33: ein nüchterner Industriebau in Langenthal. Marlis Roggwiller öffnet eine unscheinbare Tür. Dann fällt der Blick auf fein säuberlich aneinander gereihte Bilder und grossflächige Zeichenmappen. In Kisten befinden sich geordnete Stapel von vergilbten Briefen und Skizzen. Das ganze Leben eines Mannes in einem einzigen Raum – der Nachlass des Künstlers und Menschenfreundes Hans Obrecht aus Wangen an der Aare. Marlis Roggwiller verwaltet ihn als Geschäftsführerin der 1993 gegründeten Hans-Obrecht-Stiftung.
Bewegtes Leben
Sie erzählt: Hans Obrecht wurde im Jahr 1908 als Sohn eines Textilfabrikanten in Wangen an der Aare geboren. Ursprünglich hätte er gemeinsam mit seinem älteren Bruder die Textilfirma seines Vaters übernehmen sollen. Es zeichnete sich jedoch ab, dass Hans ein anderes, freieres Leben anstrebte. Sein Vater, durch einen Konservator des Kunstmuseums Winterthur vom Talent seines zweitältesten Sohnes überzeugt, schickte diesen nach Zürich zum bekannten Maler, Zeichner, Grafiker, Illustrator und Lyriker Ernst Georg Rüegg in die Lehre.
Hans Obrecht liess damals das gutbürgerliche Leben ein für alle Mal hinter sich. Getrieben von dem Wunsch, seine Fähigkeiten zu pflegen, zog es ihn von Zürich nach Karlsruhe, dann nach Paris und schliesslich nach Amsterdam, wo er den Grossteil seines Lebens verbringen sollte.
Von 1934 bis 1986 lebte Hans Obrecht in der Hauptstadt der Niederlande, wo er auf die Liebe seines Lebens traf: die zwanzig Jahre ältere Lehrerin und Malerin Miep. Diese Liaison hielt vierzig Jahre, bis zu Mieps Tod. Gemeinsam führten die beiden eine Leihbibliothek und eine Frühstückspension.

Anzug und Krawatte
Hans Obrecht war in gewisser Hinsicht ein eigenartiger Künstler; stets in Anzug und Krawatte gekleidet, trennte er sein Berufsleben verhältnismässig strikt vom Künstlerdasein. Man könnte sagen, er führte ein Doppelleben. Tagsüber leiteten er und Miep ihr Hotel Amstelrust und die Bibliothek, nachts schuf er seine Werke.
Hans Obrecht stand in regem Austausch mit seiner Umwelt. Seine Frühstückspension war wegen der günstigen Zimmer gerade bei jugendlichen Reisenden sehr beliebt, mit denen er trotz des Altersunterschieds stets belebende und auch philosophische Gespräche führen konnte. Obrecht war ein weltgewandter Mensch ohne Berührungsängste. Arbeiter, Hippies, Kleinkriminelle und Prostituierte: Er begegnete allen Menschen gleich und vermochte mit ihnen seinen Witz zu teilen.
Er war ein altersloser Mensch, lebte jenseits aller Konventionen, passte in keine Schublade. Seine Begabungen waren vielseitig. Neben seiner Passion für das Malen und Zeichnen war er in jungen Jahren sehr sportlich. Auch schriftlich wusste sich Obrecht vorzüglich auszudrücken, schrieb neben einigen Kurzgeschichten lange Briefe an seine Familie und seine Freunde. Auch sein Schalk war charakteristisch für Hans Obrecht: Als Kind habe er Clown werden wollen, weiss Marlis Roggwiller. Dieser Wunsch erfüllte sich nicht, was ihn zu Lebzeiten aber nicht davon abhielt, seine Mitmenschen mit Charme, Witz und Optimismus mitzureissen.
Seine Kunst war für ihn nie ein Broterwerb. Ihren bescheidenen Lebensunterhalt bestritten Miep und er mit dem Hotel und der Bibliothek. Das Malen war für Obrecht ein Mittel zum Zweck, ein Bedürfnis. Wie manche Menschen vor dem Zubettgehen in ihr Tagebuch schreiben, malte er in einem Guss ein Bild. «Für ihn war das Zeichnen gleichbedeutend mit einer Unterhaltung mit einem engen Freund», so Marlis Roggwiller.
Sinn für Moral und Ethik
«Hans Obrecht hatte einen starken Sinn für Moral und Ethik», erzählt Marlis Roggwiller weiter, «während des Zweiten Weltkrieges, von dem auch Amsterdam nicht verschont blieb, waren er und seine Frau in der Untergrundbewegung tätig.» Die Bibliothek diente dieser als Dreh- und Angelpunkt.
Aus Kriegszeiten stammt zudem das Material, auf dem Obrecht bevorzugt zeichnete: Verdunkelungspapier war in rauen Mengen vorhanden und günstig. Damit wurden alle Fenster der Stadt abgedeckt dazu, Luftangriffen zu entgehen. Dem Maler diente es als Leinwand.
Obrecht war ein unperfektionistischer Realist, der seine Inspiration aus seinem aufregenden Leben und den Menschen erhielt, mit denen er es teilte. Der Mensch ist das häufigste Sujet in seinen Werken. Daneben finden sich auch Natur- und Stadtlandschaften und einige Plastiken.

Menschenfreund
Hans Obrecht, der 1991 starb, war Zeitzeuge eines bewegten Jahrhunderts. Nun also lagert sein Nachlass in einem Industriegebäude in Langenthal. Einer der Aufträge der Stiftung sei es, dieses Werk bekannt zu machen, hält Marlis Roggwiller fest. Allerdings seien die Mittel, die dafür zur Verfügung stünden, beschränkt und müssten vor allem aus Bilderverkäufen beschafft werden. Wenn dies nicht ausgereicht habe, hätten auch schon mal Verwandte und Stiftungsräte ausgeholfen, sagt Marlis Roggwiller, die eine Nichte des Künstlers ist.
Vier Bildbände hat die Stiftung bisher herausgegeben, dazu verschiedene Ausstellungen organisiert. Ihren Bestand als Ganzes bei einer Institution unterzubringen, ist jedoch nicht Zweck der Nachlassverwalterin. Immerhin, einen Erfolg konnte diese bei einem Museum doch verbuchen: «Das Kunstmuseum Bern nahm zwei Werke von Hans Obrecht in seine Sammlung auf», hält die Geschäftsführerin der Stiftung fest. «Das bestätigt uns den künstlerischen Rang von Hans Obrecht, denn dieses Museum nimmt nicht jedes Bild.»
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