Neue Nachrichten aus dem Erdbebengebiet Haiti
Alle Versuche, nach Haiti zu telefonieren, scheiterten. Ursula Morgenthaler aus Kirchberg wusste nur, dass ihre Schwester das schwere Erdbeben heil überstanden hatte. Jetzt bringt eine Zeitungsreportage etwas mehr Klarheit.
«Sie lag im Bett, als am Nachmittag des 12.Januar die Stösse der Stärke 7,1 durch die Erde fuhren. Marianne Lehmann liegt gerne am Fenster und hört den Gesprächen draussen zu. 52 ihrer 73 Lebensjahre hat sie hier verbracht, Französisch und Kreolisch sind ihre Sprachen geworden. Plötzlich wackelten Boden und Wände mit den beiden Voodoo-Bildern über ihr, darauf der Gott Grand Bois sowie Ruderer einer Galeere in Form eines Pferdes. ‹Natürlich hatte ich nicht dafür trainiert, blöd wie ich bin.› Doch sie humpelte trotzdem vor die Tür, wo die Stimmen zu Schreien, Schluchzen und Gebeten wurden. Feine Risse ziehen sich seither durch ihre Wände. Auch die Nachbargebäude blieben heil, doch ist die Place Saint Pierre nebenan ein Zeltlager Obdachloser geworden.»
Ursula Morgenthaler sitzt am Stubentisch zu Hause in Kirchberg und vertieft sich in die Reportage, die vor ihr liegt. Ausführlich hat die «Süddeutsche Zeitung» vor Wochenfrist aus dem Erdbebengebiet Haiti berichtet – und endlich, ja endlich erfährt sie, wie es ihrer Schwester Marianne Lehmann in der Katastrophe ergangen ist.
Bilder der Zerstörung
Vom Unglück, das vor einem guten Monat über den Karibikstaat hereingebrochen ist, hatte sie schon Stunden später gehört. Wie so oft war Ursula Morgenthaler auch in der Nacht vom 12. auf den 13.Januar im französischen Fernsehen hängen geblieben. Als sie die Bilder der gewaltigen Zerstörung sah, «war dies erst einmal ein Schock». Sofort drängte sich die quälende Frage auf: Lebt die Schwester noch? Und was ist mit deren Tochter, der Nichte also, die ebenfalls auf der Insel lebt?
Tags darauf hörte Ursula Morgenthaler, dass der Bund für die Angehörigen in der Schweiz eine Hotline eingerichtet habe. Sie telefonierte und erfuhr, dass die Leitungen nach Haiti unterbrochen seien. Das hatte sie bei ihren Versuchen, die Schwester direkt anzurufen, schon selber gemerkt – deshalb, so der Bescheid aus Bern weiter, werde es einige Tage dauern, bis man Genaues über die zwei Frauen wisse.
Eine Stimme ab Band
In der Tat verstrich mehr als eine Woche, bis die Nachricht eintraf. Wobei Ursula Morgenthaler zu der Zeit bereits wusste, dass ihre Schwester lebte. Just am Abend zuvor hatte das Schweizer Fernsehen aus Haiti berichtet und als Augenzeugin Marianne Lehmann zu Wort kommen lassen. «Sie redete von Leuten, die auf der Suche nach etwas Essbarem zu Plünderern geworden seien, und davon, dass in den Quartieren Schüsse zu hören seien» – in die Erleichterung über das unerwartete Lebenszeichen mischte sich unvermittelt neue Angst. Ob in all dem Chaos nicht neue Gefahren drohten?
Dazu kam, dass ihr der Bund zwar zur Schwester Auskunft geben konnte, nicht aber zur Nichte. «Ich weiss nach wie vor nicht, was mit ihr ist», stellt sie fest. Nicht ohne noch darauf hinzuweisen, dass es mit dem Telefonieren bis heute nicht geklappt habe. «Mal kam das Besetztzeichen und mal eine Stimme ab Band, dass das Netz gestört sei.»
Voodoo-Figuren in Genf
Gut, es gäbe in Kanada zwei weitere Nichten und in den USA noch einen Neffen, doch dabei kommt Ursula Morgenthaler in die Quere, dass der Kontakt in der Verwandtschaft seit Jahren nicht mehr eng ist. Von den zwei Nichten hat sie nicht einmal eine Adresse, und dem Neffen, ja, sagt sie, ihm wolle sie nun eine E-Mail schreiben. «Ich bin sicher, dass er alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um Klarheit über das Schicksal seiner Familie zu bekommen.»
Dass sie nicht besser auf dem Laufenden ist, führt sie nicht zuletzt darauf zurück, «dass meine Schwester mit der Schweiz abgeschlossen hat». Spätestens seit dem Tod der Mutter 1994 sei das so, aber auch früher sei Marianne Lehmann nur sporadisch zurück in die alte Heimat Kirchberg gekommen. Ursula Morgenthaler weiss noch von zwei längeren Besuchen 1972 und 1993, dazu kamen ein paar Tage Ende 2007.
Wobei bei dieser letzten direkten Begegnung die Leidenschaft im Zentrum stand, um derentwillen Marianne Lehmann seit Jahren Thema in den Medien ist. Die 73-Jährige gilt als Kennerin der in Haiti beliebten Voodoo-Religion mit ihren von Trommel, Tanz und Trance geprägten Ritualen. In diesem Zusammenhang hat sie eine weltweit einzigartige Sammlung voodooistischer Kultfiguren zusammengetragen – ein Querschnitt war damals in Genf zu sehen.
Das Flair fürs Neue
Die Hingabe an den Voodoo sei für die Schwester irgendwie typisch, schliesst Ursula Morgenthaler. «Sie hatte schon immer ein Flair fürs Neue, Unkonventionelle.» Wie bei ihrer Begeisterung für die Leichtathletik, die sie zu einer Zeit betrieb, als dieser Sport eine reine Männerdomäne war. Dass sie 1957 die Koffer packte und ihrem Mann in die haitianische Heimat folgte, passte ins Bild. «Es gab ja noch kein Internet, und geflogen wurde auch noch kaum. Man wusste sehr, sehr wenig über dieses ferne Land.»
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