«Ich wollte es allein schaffen»
Rojin Firat schätzt die Sprachenvielfalt in der Schweiz. Ihre eigene Sprache war in ihrer Heimat verboten. Der Konflikt zwischen Kurden und Türken hat ihr Leben massgeblich geprägt – und sie stark gemacht.

«Ich will überall ein Land wie die Schweiz.» Dies wünscht sich Rojin Firat* (44), gebürtige Kurdin aus der Türkei. Sie wohnt in einem Hochhaus mit Traumausblick auf die Alpenkette. Den Wunsch bezieht sie jedoch nicht auf die Landschaft, sondern auf die politische und kulturelle Schweiz. Die Demokratie, die Autonomie der Kantone und vor allem die vier Landessprachen plus die unzähligen Sprachen, die privat gesprochen werden: «Das war für mich ein Schock im positiven Sinne», erzählt sie über ihre ersten Eindrücke in der Schweiz. Die Kurdin aus dem Osten der Türkei weiss, wovon sie spricht. Ihre Sprache war schriftlich und mündlich jahrzehntelang strikt verboten und wird noch heute nur mit Einschränkungen toleriert.
Gefängnis und Flucht
Vor allem nach dem Militärputsch von 1980 kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Armee und der 1978 gegründeten kurdischen Arbeiterpartei PKK. Letztere forderte einen unabhängigen Staat oder zumindest eine autonome kurdische Region. Rojin Firat war direkt betroffen, denn ihr Mann war ein PKK-Aktivist. Er wurde mehrfach festgenommen, gefoltert, an den Beinen hochgehängt, geschlagen, gepeitscht, er lief über Glasscherben. Verweigerte er eine Aussage, drohten die türkischen Soldaten mit der Festnahme und Folter seines Grossvaters. Für einige Tage kam auch sie selbst in Haft.
Geboren wurde sie ungefähr 1966. Ungefähr. «Geburten wurden nicht oder nur ungenau registriert», erklärt sie. Mit 10 wurde sie verlobt, mit 13 verheiratet. «Meinen Mann habe ich gehasst», sagt sie. «Ich habe immer geweint und an Selbstmord gedacht.» Mit 15 bekam sie ihr erstes Kind, eine Tochter, mit 18 und 23 Jahren gebar sie je einen Sohn. Das war ihr Gefängnis. Eine Schule beendete sie nie. Den Mann sah sie kaum. «Als politischen Gefangenen durften ich und die Kinder ihn nie besuchen», sagt sie. Zwischendurch kam er frei. 1988 flüchtete er in die Schweiz, in die Waadt, und wurde als Flüchtling anerkannt. Sie zog 1991, 25-jährig, mit den drei Kindern nach, in der Hoffnung auf ein Leben als «ganz normale» Familie. Doch die Ehe ging in die Brüche.
Gute Bildung für die Kinder
Rojin Firat zog vier Jahre später auf sich allein gestellt nach Bern, die Kinder waren inzwischen 15, 11 und 6 Jahre alt. Im Kanton Waadt hatte sie zwar Französisch gelernt, doch mit Deutsch musste sie neu beginnen. Ohne abgeschlossene Schulbildung und Deutschkenntnisse ging sie auf Arbeitssuche. Die Möglichkeiten waren beschränkt. «Geld von meinem Exmann wollte ich nicht, Sozialhilfe schon gar nicht. Ich wollte es allein schaffen.» Sie trug Zeitungen aus, kontrollierte Flaschen in der Coca-Cola-Fabrik, arbeitete als Schneiderin, hütete Kinder, putzte bei der Post. Neun Jahre lang arbeitete sie als Pflegehelferin in einem Altersheim. Dort wurde sie mit Weiterbildungskursen und Deutschunterricht gefördert. Nun ist sie angemeldet für eine Ausbildung zur Krankenschwester.
«Das tat mir sehr weh»
Ihren Kindern will sie ermöglichen, was ihr verwehrt wurde: eine gute Ausbildung. Die Tochter, heute 30, besucht die Pädagogische Hochschule in Lausanne, die Söhne (21 und 26) besuchen die Handelsschule in Neuchâtel. Der Konflikt zwischen der Türkei und der kurdischen Minderheit setzt sich auch in Bern unterschwellig fort. Eine Episode mit ihrem damals achtjährigen Sohn hat sich bei ihr tief eingeprägt. «Mit einem Freund aus einer türkischen Familie ging er an ein Schulfest. Er kam weinend nach Hause: ‹Mein Freund sagt, es gibt keine Kurden.› Das tat mir sehr weh.» Die Mutter jenes Freundes habe damals auf der Botschaft gearbeitet. Für sie seien Kurden inexistent gewesen.
In die kurdische Kultur investiert Rojin Firat viel Zeit und Energie. Sie ist aktiv im Kurdischen Kulturverein, gibt Kurse auf Kurdisch über Bern und die Schweiz, bringt kurdischen Frauen Schwimmen und Autofahren bei und sitzt im Organisationskomitee für ein Kulturfest im Schloss Köniz im Juni. Trotz all der negativen Erfahrungen strahlt Rojin Firat Zuversicht und Optimismus aus. Woher kommt das? «Ich habe keine Angst», erklärt sie. «Ich traue mir viel zu.»
*Name von der Redaktion geändert
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