Der Abenteurer und die Kurgäste
Heute vor 100 Jahren startete Eduard Spelterini von Mürren aus zu seiner ersten Alpenüberquerung. Die Pioniertat des Ballonfahrers aus der Ostschweiz fiel in die Blütezeit des Fremdenverkehrs im Oberland – kein Zufall.
Es war ein gesellschaftliches Ereignis: Eduard Spelterini, der Abenteurer, der Ballonpionier, stand klar im Zentrum des Interesses der vielen Damen und Herren in Hut und Zylinder, elegantem Kleid und feinem Rock. Hoch über den Dächern von Mürren thronend Spelterinis Ballon «Sirius» – gefüllt mit 1500 Kubikmetern Wasserstoff, bereit, den Abenteurer aus der Ostschweiz mit seinen beiden Passagieren aus Wien, Baron Louis Nathaniel Rothschild und dessen Freund Dr.Ed.Etthofen, in die Luft zu heben. Und dann endlich der Start. Erst hinauf und dann dorthin, wo der Wind den Gasballon tragen würde. «Mittags wurde der Ballon Spelterinis kurze Zeit auf der Kleinen Scheidegg gesichtet. Er verschwand in südwestlicher Richtung zwischen Tschingelgrat und Gspaltenhorn», heisst es in einer Notiz im «Oberländischen Volksblatt» vom 14.August 1910. Später sei er von Zermatt aus zwischen Dent Blanche und Gabelhorn gesichtet worden, als er hinter dem Matterhorn durchgeflogen sei, schreibt die Zeitung weiter. Noch etwas später wurde das Luftschiff über Breuil gesehen und verschwand nach Italien. Und tatsächlich gelang Eduard Spelterini an diesem 12.August 1910 die Weiterfahrt bis zu den Abhängen des Monte Basso über Lanzo Torinese, und damit die Erfüllung seines lang gehegten Traums: die Überquerung der Alpen. Sieben erfolglose Versuche Immer wieder hatte er zuvor schon versucht, dieses Pionierstück der Luftfahrt zu realisieren. Sieben Hochalpentraversierungen von Kapitän Spelterini sind bis zum Start in Mürren verzeichnet. Der ersten Fahrt von Sion nach Prauthoy im Jahr 1898 folgten Starts in Rigi-First (nach Alp Ennetseewen, 1900), Zermatt (Bignasco, 1903), von der Station Eigergletscher (Adelboden, 1904), Andermatt (Bergamo, 1907), Interlaken (Brussone, 1908) und Chamonix (Biasco, 1909). Die Auswahl der Orte war wohl kaum zufällig geschehen. Zum einen stellte der Luftfahrer Spelterini höchste Ansprüche an die Startplatzorganisatoren bei der Lösung logistischer Aufgaben beim Transport und Lagern der Wasserstoffgasbehälter, die er zum Befüllen seines Ballons benötigte. Zum andern schätzte er es, seine Starts öffentlichkeitswirksam vor Publikum zu zelebrieren. Neun Hotels in Mürren Und so ist diese Pionierzeit der Ballonfahrt denn auch nahezu zwangsläufig eng mit der ersten Blütezeit des Fremdenverkehrs in den Schweizer Alpen verbunden. Der Startplatz Mürren bei den Hotels Palace und Des Alpes ist dafür beispielhaft: Die Anzahl an Hotelbetten belegt das grosse Interesse der Kurgäste am Dorf in den Alpen. Im Gaststättenführer von 1905 «Les Hôtels de la Suisse» (700 Hotels und Pensionen) ist Mürren bereits mit neun Häusern aufgeführt: Alpenruhe (70 Betten), Beau-Site (45), Belmont (20), Blumenthal (15), Eiger (80), Grand Hôtel des Alpes (180), Grand Hôtel&Kurhaus (275), Jungfrau&Victoria (65) und Sternen (10). 1858 hatte Johann Sterchi-Wettach das Silberhorn als ersten Gasthof auf Mürren eröffnet. Und auch der Transport der rund 200 Wasserstoffflaschen geschah unter Zuhilfenahme der touristischen Infrastruktur. Die Flaschen mussten von Lauterbrunnen via Umladestation Grütschalp nach Mürren transportiert werden. Das kam einer Generalstabsarbeit gleich. Dass Spelterini also überhaupt von Mürren aus zu seinem Rekordflug ansetzen konnte, verdankte er wohl dem gut funktionierenden Betrieb der Bergbahn Lauterbrunnen–Grütschalp–Mürren (BLM). 1887 war die Konzession für den Bau der BLM erteilt worden. Am 14.August 1891 hatte sie den Sommerbetrieb aufgenommen und bediente ab dem 15.Dezember 1910 dann auch im Winter die Lauterbrunner Höhenstation Mürren auf 1650 Metern. Den Bau dieser ältesten Bergbahn im Jungfraugebiet hatte eine Eingabe von Einheimischen im März 1887 zur Nichterteilung der Konzession mit 219 Nein gegen 88 Ja nicht verhindern können. Der Berner Regierungsrat und der Bundesrat hatten sich nicht umstimmen lassen und an ihren wegweisenden Entscheiden festgehalten. Win-win-Situation So bleibt festzuhalten, dass der Ballonfahrtpionier einerseits vom blühenden Fremdenverkehr, den Bergbahnen und den Kurgästen profitierte. Andererseits bescherte der Abenteurer Spelterini durch seine spektakulären Ballonstarts vor traumhafter Bergkulisse den Touristen beste Unterhaltung und den Hoteliers zusätzliche Übernachtungen. Im modernen Tourismus würde man wohl von Grossevent und Win-win-Situation sprechen, denn der Mechanismus funktioniert immer noch. Viel verändert hat sich also in den vergangenen 100 Jahren nicht. Erwin A.Sautter-Hewitt/Claudius Jezella>
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