Das Schreckhorn ist nicht die Blüemlisalp
walter messerli
Kürzlich stand in einer Zeitung, die Jugend verfüge über ein skandalös verklärtes Geschichtsbild und im Fach Geografie über erschreckende Bildungs- und Wissenslücken. Eine Umfrage habe ergeben, dass viele Jugendliche Willy Brandt für einen berühmten DDR-Politiker hielten und der Auffassung seien, die DDR sei ein demokratischer Rechtsstaat gewesen; schliesslich habe «DDR» ja «Deutsche Demokratische Republik» geheissen. In einer Sendung des Fernsehens DRS konnten junge Leute auf einem Bild das Matterhorn nicht erkennen. Das Bundeshaus wurde als Kirche bezeichnet und das Wappen Genfs wurde zur Berner Flagge. Wie steht es in der Schweiz um die Vermittlung der Geschichte in den Schulen? Am 23.Juli 2008 titelte der «Berner Oberländer» einen Bericht mit «Geschichte und Geo vor dem Aus?» Im Text wurde die Befürchtung ausgedrückt, Geschichte und Geografie würden in den Lehrplänen an den Rand gedrängt. Es bestünden «Beisshemmungen», die geschichtlichen Entwicklungen und Abläufe in den Schulen zu thematisieren. Ich bestreite allgemein geäusserte Meinungen, die Geschichte der letzten 100 Jahre sei nicht so spannend darzustellen, weil die echten Wahrheiten grauzonenhaft geblieben und bis heute nicht ans Tageslicht gekommen seien. Das sind keine Erklärungen und erst recht keine Entschuldigungen, wenn es darum geht, die heutigen Schüler über geschichtliche Fakten zu informieren, diese offen und differenziert zu kommentieren und die sich aufdrängenden Fragen in den Raum zu stellen. Sollten die Lehrmittel in diesem Bereich unvollständig sein, gibt es heute eine reiche Auswahl aufschlussreicher Darstellungen, die im Fach, welches heute NMM «Natur, Mensch, Mitwelt» genannt wird, vermittelt werden können. NMM darf nicht bedeuten: «Niemand Macht Mit» oder «Nicht Mit Mir», sondern «Nimm Mich Mit». Welcher Jugendliche reagiert auf die Frage nach Auschwitz, geschweige denn nach Birkenau oder Sachsenhausen. Ist zudem der 6.Juni 1944, der 20.Juli 1944 und der 8.Mai 1945 ebenso bekannt wie 1515 (Marignano) ? Gleiches gilt für das Fach Geografie: Schüler kennen die Hauptstädte von Grönland und Australien, wissen, wo sich der Kilimandscharo befindet, kennen aber weder den Pass, der von Meiringen nach Grindelwald führt, noch die Zielorte anderer Übergänge im Berner Oberland. Zu denken gibt, wenn das Stockhorn mit dem Niesen, das Schreckhorn mit der Blüemlisalp, sogar die Schynige Platte mit dem Harder verwechselt werden und ein hiesiger 9.-Klässler das Brienzer Rothorn nicht kennt. Entschuldbar ist wohl die Verwechslung von Engstlenalp mit der Engstligenalp. Wer seine Umwelt kennt, lernt diese auch zu schätzen. Kenntnisse aus der Geschichte versetzen in die Lage, die Zusammenhänge der Gegenwart besser zu erfassen und zu begreifen und bedeuten auch staatspolitische Bildung. Hand aufs Herz: Was bedeutet unseren Schulabgängern das Jahr 1848 und kennen sie die Kantonswappen? Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte in seiner Rede zum 8.Mai 1945: «Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will oder nicht daran erinnert wird, der kann wieder anfällig werden für neue Ansteckungsgefahren. Die Kenntnisse in Geschichte sind lebenswichtige Gegenmittel gegen Versuchungen, die Vergangenheit zu vergessen.» Churchill sagte, je weiter man bereit sei, in die Geschichte zurückzuschauen, je mehr sei man fähig, die Gegenwart zu begreifen und gestaltend vorauszuschauen. Oder habe ich vor dem Hintergrund der Herausforderungen des anspruchsvollen zukünftigen Lebens der Schüler in einer globalisierten Welt, dem die Ausbildung gerecht werden will, ein Generationenproblem? E-Mail: walter.messerli@quicknet.ch redaktion-bo@bom.ch>
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