Ein Schuss, dann Spaghetti für 5 Franken
Die älteste Drogenanlaufstelle der Welt steht in Bern. Einst umstritten, ist der Ort heute ein Pfeiler der Suchthilfe.

«Hey, het mir öpper e Zigi? Hallo? Ä Zigi!» Bern, kurz vor Feierabend. Über der Stadt liegt ein kalter Dunst, hinter dem Zaun des Fixerstübli sitzen die Menschen auf Bänken. Sie rauchen und diskutieren, trinken und schweigen.
Eine bleiche Fassade eingeklemmt zwischen Lorrainebrücke und Hodlerstrasse: Architektonisch ist die Kontakt- und Anlaufstelle der Stiftung Contact, wie der Ort offiziell heisst, unspektakulär. Die Idee, die der Ort repräsentiert, ist es nicht.
Eine Sucht ist kein krimineller Akt, sondern eine Krankheit: Ende der 1980er-Jahre stand dieser Ansatz am Anfang einer Wende in der Schweizer Drogenpolitik. Entwickelt in Bern, wurde er bis heute von zig Städten und Ländern kopiert.

Halt für Süchtige
Tische, Tresen, Kantinenfeeling – drinnen riecht es nach Spaghetti. Eine Mitarbeiterin verarztet die Wunde eines Mannes. Die Anlaufstelle ist mehr als ein Ort, an dem sich Süchtige in sterilen Räumen einen staatlich tolerierten Schuss setzen. Hier finden sie Halt, hier kostet der Teller Pasta 5 Franken – und hier gibt es auch mal eine Zigarette umsonst.
«Du suchst Freiheit. Flüchtest vor Ängsten. Dann endest du als Gefangener deines Geistes.» Wenn Bubi Rufener über Sucht, Heroin und gescheiterte Biografien spricht, tönt das anders als bei Medizinern und Suchtexperten. Fast philosophisch. Vielleicht passt es deshalb noch immer, das mit ihm und dem Fixerstübli. Rufener ist 50 Jahre alt, gelernter Buchhändler und in einem anderen Leben Musiker. Er arbeitet seit 23 Jahren in der Anlaufstelle. Heute leitet er sie, angefangen hat er an der Front.

Rufener hat im Spritzenumtausch angefangen. Gebrauchte gegen saubere, an der Nägeligasse, wo die Anlaufstelle früher stand. Das war zu einer Zeit, als das HI-Virus grassierte und das Elend der offenen Schweizer Drogenszenen beinahe täglich Schlagzeilen machte. Als das Land heillos überfordert und die Antwort oft der Gummiknüppel war.
Keine Deals
In Bern entstand damals ein neuer Ansatz: Suchthilfe als engmaschiges System, als Zusammenspiel aus Prävention und Behandlung, Schadenminderung und Kontrolle. In diesem System ist der Konsum harter Drogen zwar verboten, in den Anlaufstellen aber wird der eiserne Grundsatz gelockert.
Das funktioniert so: Abhängige bringen ihren Stoff selbst mit. Sie konsumieren ihn in den dafür eingerichteten Räumen. Aus sauberen Spritzen und unter Aufsicht von geschultem Personal. Grösstenteils unbehelligt von der Polizei. Ein Rausch im geschützten Rahmen als Gegengeschäft für das Ende der offenen Drogenszene.

Rufener macht seine Runde. Er grüsst und klopft auf Schultern. Irgendwann kommt er beim Tor an. Es ist schmal, hoch und bewacht: Die Sicherheitsmänner in blauer Uniform lassen nur registrierte Klienten hinein. Das sind rund 770 Personen, etwa 120 kommen täglich vorbei. Die Vorgaben sind strikt: Nur wer im Kanton wohnt, volljährig ist und zweimal jährlich zum Standortgespräch erscheint, erhält Zutritt. Erstkonsum ist untersagt, ebenso Deals in den Räumlichkeiten.
«Uhuuunvorstellbar»
Nie starben in der Schweiz mehr Menschen an den direkten Folgen des Drogenkonsums als Mitte der 1990er-Jahre. Damals sei die Polizei regelmässig bei der Anlaufstelle «eingefahren», erzählt Rufener vor dem Tor. «Sie haben einfach alle eingesackt.» Alle? Ja, einmal auch ihn.
Auch heute steht der Leiter der Anlaufstelle kurz einer Streife der Berner Kantonspolizei gegenüber, Krokus, Anti-Drogen-Einheit. Man scherzt, ist per Du. Rufener: «Früher? Uhuuunvorstellbar!»
Für den BZ-Adventskalenderschauen wir bis Weihnachten jeden Tag hinter eine Tür, die sonst nicht geöffnet wird oder werden darf. Hier können Sie nachlesen, wo wir bisher zu Besuch waren:
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