Als das Ende noch undenkbar war
In jener erregenden Nacht vor 20 Jahren, als die Berliner Mauer fiel, hätte Franz Birrer nicht gedacht, dass bald die ganze DDR kollabieren würde. Hier erzählt der letzte Schweizer Botschafter in der DDR, wie sich der Dammbruch in Ostberlin anfühlte.
Es war kurz nach 21 Uhr, so erinnert sich Franz Birrer, als der marokkanische Botschafter ans Telefon gerufen wurde. Am 9. November 1989 war Birrer – damals Botschafter der Schweiz in Ostberlin, der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik – zur Abendgesellschaft bei seinem Amtskollegen aus Marokko geladen. Als dieser vom Telefon zurückkam, verkündete er, eben sei die Grenze nach Westberlin geöffnet worden. Die anwesenden Gäste reagierten skeptisch. Der Gastgeber, der nur Arabisch und Französisch sprach, hatte wohl etwas falsch verstanden. Denn an der täglichen Pressekonferenz des DDR-Regimes hatte das Politbüromitglied Günter Schabowski von neuen «Reiseregelungen» gesprochen, die man leicht missverstehen konnte. Gefühl des Abwartens Die unglaubliche Nachricht liess Birrer dann doch keine Ruhe. Er fuhr durch das nächtliche Ostberlin zum Grenzübergang an der Bornholmer Strasse, einem der wenigen Tore in der Mauer, die Ost- von Westberlin abtrennte. Dort erlebte er, wie die Grenzbeamten «ganz ohne Trara» DDR-Bürger in den Westen passieren liessen. Die Szene kam ihm gespenstisch vor: Eine grosse Menschenmenge war da, still und zögerlich standen die Leute herum. Nur wenn die TV-Scheinwerfer angeknipst wurden, begannen sie zu gestikulieren und Freudenausbrüche vorzuführen. Birrer fuhr weiter zum legendären Check Point Charlie, wo die Lage bedrohlich wirkte. Der Übergang war hermetisch abgeriegelt, auf der Mauer aber standen unzählige Westberliner, die feierten und johlten. Als Birrer um 2 Uhr früh in seine Ostberliner Residenz an der Kuckhoffstrasse 42 zurückkehrte, erübrigte es sich, einen Bericht an die EDA-Zentrale in Bundesbern zu schicken. Die ganze Welt wusste, dass die Berliner Mauer gefallen war. Birrer ging mit einem Gefühl des Abwartens ins Bett. Dass die DDR am Ende und sein Botschafterjob bald überflüssig seien, das dachte er in dieser Nacht noch nicht. Stille Villen in Pankow Heute schützt eine hochgewachsene Hecke die einstige Schweizer Residenz vor neugierigen Blicken. Der Aufpasser der Volkspolizei vor dem Haus und mit ihm die DDR sind verschwunden. Die früheren Botschaftervillen sind wieder, was in der kommunistischen DDR geduldet, aber verpönt war: Privatbesitz. Am Haus gegenüber, wo bis 1990 der «ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland» residierte, steht «Music Room» am Klingelschild. Ein Flügel des Hauses steht leer. Aus dem Briefkasten quillt vergilbte Post. Es ist still in der Kuckhoffstrasse. Das Schweizer Botschaftsgebäude befand sich ein paar Strassenbahnstationen entfernt in Pankow. Sieben identische Häuserwürfel sind dort an einer Strasse mit dem mondänen Namen Esplanade aufgereiht. Verrostete Fahnenmasten erinnern daran, dass es einst Botschaften waren. Bis zum Ende der 1960er-Jahre hatte die Bundesrepublik Deutschland jedem Land, das die DDR anerkannte, mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen gedroht. Erst als die BRD diese Praxis aufgab, eröffneten zahlreiche westliche Länder Botschaften in Ostberlin. An der Esplanade baute die DDR dafür in aller Hast Gebäude. Die Schweiz bezog 1974 die Nummer 21. Heute wohnen Familien im Haus. In den Nachbarhäusern sind Anwalts- oder Arztpraxen untergebracht. Eine Informatikfirma hat am Fahnenmast ihr Logo aufgezogen. Vorsichtige Lageberichte Franz Birrer erinnert sich präzis an sein damaliges Berliner Wirkungsfeld. Was der 77-jährige Botschafter a.D. nicht mehr genau weiss, liest er nach in den Berichten und alten Agenden, die er auf dem Klavier im Salon ausgelegt hat. Durch die grossen Fenster seiner Luzerner Wohnung geht der Blick auf den Pilatus und bei klarem Wetter bis zu den Berner Alpen. Der Blick zurück auf die DDR aber ist diffus. 20 Jahre danach behaupten viele, ihr Ende sei längst vor 1989 absehbar gewesen. Birrer widerspricht solch nachträglicher Prophetie. Er blättert in seinen Berichten über die Lage im Jahr 1989 und stösst auf abwartende Skepsis. Er rapportierte damals nach Bern, dass die DDR-Regierung die Ausreise von DDR-Bürgern über Botschaften der BRD zu stoppen versuche. Und dass die Versorgungslage der DDR-Bevölkerung besser sei als in den sozialistischen Nachbarstaaten. Birrer relativiert auch die Behauptung, die DDR sei vor dem wirtschaftlichen Ruin gestanden. Dass sie am Ende nur noch dank Krediten des reichen westlichen Schwesterstaats BRD überlebt habe, entspreche nicht der Realität. Im kommunistischen Ostblock sei sie ein starker wirtschaftlicher Player gewesen. In den Abgrund gerissen habe sie der Kollaps der Ostblockwirtschaft und der Sowjetunion, der die DDR als Industriegüterproduzent zudienen musste. Und mit dem Westen sei die DDR-Wirtschaft nicht konkurrenzfähig gewesen. Überhörte Prophetie Konnte Birrer als geschulter Beobachter die Wende von 1989 wirklich nicht erahnen? Vielleicht, erzählt er, hätte er besser auf jenen Russen hören sollen, der ihm 1987 in Addis Abeba prophezeite, die Sowjetunion werde sich bald aus Afrika, diesem Fass ohne Boden, zurückziehen. Birrer war von 1981 bis 1987 Botschafter für mehrere Länder Afrikas mit Sitz im damals kommunistischen Äthiopien. Der Russe, ein Cousin von Parteichef Gorbatschow, habe im privaten Gespräch erklärt, «Michail Sergejewitsch» werde die Auslandengagements drastisch reduzieren. Die Sowjetunion könne sich diese nicht mehr leisten. Die letzte Behauptung des Mannes erschien Birrer so abwegig, dass er sie gar nicht nach Bern weitermeldete: Bis in zwei Jahren werde sich die Sowjetunion aus dem von ihr 1979 besetzten Afghanistan zurückziehen. Zwei Jahre später, im Februar 1989, verliess tatsächlich der letzte Sowjetsoldat das Gebirgsland, in dem sich heute die Amerikaner genauso die Zähne ausbeissen wie einst die Sowjets. Unerwarteter Kollaps Die Teilung der Welt in den kommunistischen Osten und den kapitalistischen Westen sei bis 1989 fest in den Köpfen verankert gewesen, erinnert sich Birrer. Dass die Sowjetunion die DDR, die wirtschaftliche Säule und der politische Vorposten ihrer Machtsphäre, fallen lassen würde, das sei kaum denkbar gewesen. Noch einmal erzählt Birrer von einem, der das Unmögliche doch dachte. Ausgerechnet der Botschafter aus dem damals stramm kommunistischen Albanien habe bei einem Gespräch unter Botschaftern gesagt, die DDR sei für die Sowjetunion eine Hypothek, die sie fallen lassen werde, wenn sie sehe, dass im Gegenzug lukrative Geschäfte mit der BRD möglich seien. Birrers Fazit ist klar: Der plötzliche Zusammenbruch der DDR kam unerwartet, er war das Resultat einer schwer einschätzbaren Eigendynamik. Nach dem Mauerfall im November vor 20 Jahren habe sich zwar bald gezeigt, dass die Tage des sozialistischen DDR-Regimes gezählt seien. Die deutsche Wiedervereinigung sei aber damals noch «eine offene Frage» gewesen. Reden mit Erich Honecker Von Addis Abeba wollte Birrer 1987 eigentlich nach Kanada wechseln. Ostberlin schien ihm wenig verlockend. Den bleiernen Kommunismus hatte er in Afrika schon kennen gelernt. Aber kaum war er im September 1987 in Berlin angekommen, spürte er dort ein gesellschaftliches Knistern. Staats- und Parteichef Erich Honecker war eben von einem spektakulären Staatsbesuch in der BRD zurückgekehrt. Eine gewisse Liberalisierung lag nun in der Luft. Bei der Übergabe seines Beglaubigungsschreibens traf er Honecker für ein Gespräch. Dieser erzählte, er sei als junger Kommunist auf der Flucht vor den Nazis mit einem falschen Pass auch in Birrers Heimatstadt Luzern vorbeigekommen. Birrer schnitt ein leidiges Thema an: Die blockierte Entschädigung für enteigneten Schweizer Besitz in der DDR. In der Folge gab es zwar Expertengespräche, aber keinen Vertragsabschluss. Zum Glück, weiss Birrer heute. Die DDR hätte 1987 nur ein Trinkgeld bezahlt. Das wieder vereinigte Deutschland aber gab der Schweiz später all ihre Besitztümer vollumfänglich zurück. Vordergründig wurde Birrer in der DDR mit Wohlwollen begegnet. Die deutschsprachige Schweiz, die der DDR sympathischer war als die grosse, erfolgreiche Schwester BRD, habe eine Art Sonderbehandlung genossen. So habe man häufig teurere Schweizer Offerten denjenigen aus der BRD vorgezogen, weil die Schweiz den Ruf hatte, sich auch später um das zu kümmern, was sie verkauft hatte. Stasi vor der Haustür Aber Birrer machte sich keine Illusionen, wie weit die Ostberliner Freundlichkeit ging. Dazu brauchte er nur auf den Gehsteig vor seiner Residenz zu treten, wo in einem Wachhäuschen Volkspolizisten rund um die Uhr die «Ständige Vertretung der BRD» gegenüber und gleichzeitig die Schweizer Residenz im Auge behielten. Aus den Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes erfuhr Birrer nach der Wende, wie minutiös sein Leben vom DDR-Hauspersonal ausspioniert und wie verzerrt es meist wiedergegeben wurde. Hatte die Stasi in den Gebäuden der Schweiz Abhöranlagen installiert? «Bestimmt», lächelt Birrer, «das machten ja sogar befreundete westliche Staaten.» Zum Abschied erzählt Birrer eine Szene, die ihm heute wie ein Totentanz des Kommunismus vorkommt. Am 7. Oktober 1989 war er ans Bankett zum 40-Jahr-Jubiläum der DDR im Palast der Republik eingeladen. Am Nachbartisch sassen zum letzten Mal die Führer des Ostblocks vereint: Honecker, Gorbatschow, Rumäniens Diktator Ceausescu, Polens General Jaruzelski, der tschechische Parteichef Jakes, Kubas Raul Castro. Drinnen sang ein Tenor die Händel-Arie «Er geht still und in aller Heimlichkeit». Draussen riefen junge DDR-Demonstranten «Gorbi! Gorbi!» Gorbatschow, erinnert sich Birrer, äusserte in seinen Reden nur Gemeinplätze. Den Satz: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben», äusserte der sowjetische Parteichef angeblich zu Journalisten. Berühmt wurde der Ausspruch, als er wahr wurde: durch den Sturz von Honecker. Franz Birrer erkannte schon Anfang 1990, dass seine Berliner Zeit abgelaufen war. 1991 wurde er zur KSZE und dann nach Luxemburg versetzt. Stefan von Bergenstefan.vonbergen@bernerzeitung.ch >
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