«Unsere Seelen haben sich gefunden»
«Achtung, si chöme», tönts plötzlich. Sofort verstummen die eben noch munteren Gespräche der Bewohner und des Personals der Thuner Seniorenresidenz Tertianum. Karl Vonlanthen stimmt den Hochzeitsmarsch auf dem braunen Flügel an. Die Lifttüre in der Eingangshalle geht auf. Und da ist es, das frisch vermählte Ehepaar Dorothy und Linus Amiet-Hannon. Der 93-Jährige stützt sich auf seinen Rollator, seine 84-jährige eben Angetraute geht mit vorsichtigem Schritt neben ihm. Erleichtert setzen sie sich auf das rot bezogene Sofa in der Fensternische. «Jede Zeit ist eine gute Zeit, um zu heiraten», ist Tertianum-Direktorin Carola Schmid überzeugt. «In unserer Institution haben sich zwar schon Pärchen gebildet, aber dies ist die erste Hochzeit», ergänzt sie gegenüber dieser Zeitung. Gefühle füreinander zu entwickeln sei keine Frage des Alters. Passiere das, gehe es gerade älteren Leuten sofort besser. Das Tertianum hat sich nicht lumpen lassen und zum speziellen Anlass gleich eine dreistöckige Torte gestiftet. Rasch bildet sich vor dem Brautpaar eine Schlange von Gratulanten. Die meist festlich gekleideten Gäste – «das gehört sich doch so», sagt eine ältere Dame dezidiert – wünschen noch viele schöne Jahre und vor allem Gesundheit. Die beiden nicken lächelnd. Sie wissen, wie akkurat diese Wünsche sind. In ihrem Alter sei man nicht mehr so «lüpfig» und «zwäg» wie einst. Beide spüren das Alter. Deshalb erleichtern Dorothy der rote Elektroscooter und Linus der Rollator die Fortbewegung; vor allem wenn sie zusammen im Park oder am Quai spazieren und in der Stadt den «Märit» bewundern. Und wie kamen die Engländerin und der Schweizer zusammen? «Wir wohnen Tür an Tür und haben uns auf Anhieb sehr gut verstanden», sagt Linus Amiet. Dass seine Dorothy nur ein paar Brocken Deutsch spricht, aber recht gut versteht, und er umgekehrt kaum Englisch kann, sei kein Hindernis. Nicht nur die Gefühle füreinander, auch die Liebe zur Musik, vor allem für klassische, verbindet die beiden. Sie sind denn auch regelmässige Besucher der hauseigenen Konzerte. «Wir gehen aber auch ausser Haus, das Angebot in Thun ist breit und gut», ergänzt Dorothy, die nun Amiet heisst. Das breite Kulturangebot, die Stadt und ihre Umgebung waren vor zwei Jahren mitentscheidend für ihre Wahl des Tertianums als Alterssitz. Aufgewachsen ist die zweifache Mutter an der Nordwestküste in England. Sie hat Hairdresser (Coiffeuse) gelernt und einen Apotheker geheiratet. Nach dessen Tod vor über zwei Jahren drohte sie depressiv zu werden. Ihre Töchter lebten in Europa – in Frankreich und Hilterfingen am Thunersee. Dorothy entschied sich, nach Thun auszuwandern – und hat es bisher nicht bereut. Linus Amiet, im solothurnischen Selzach aufgewachsen, war Grundbuchverwalter – unter anderem in Bern. Aber auch im Thuner Zeughaus habe er gewirkt, berichtet er. Und ja, er sei «irgendwie» mit dem berühmten Maler Kuno Amiet verwandt, beantwortet er eine entsprechende Frage. Vor fünf Jahren ist das kinderlose Ehepaar von Spiez ins Tertianum gezogen. Vor zwei Jahren starb die Frau. «Jetzt gits nume öppe no zwei Verwandti», sinniert er und korrigiert umgehend: «Nei, syt hüt si's meh.» Dorothy Hannon habe ihm sofort gut gefallen. Also hat er sie unbeirrt, aber «mit gehörigem Herzklopfen» umworben – unter anderem mit Blumen und Schokolade. Miss Dorothy hat nicht zuletzt dank ihrem Verehrer zu ihrer Fröhlichkeit und Lebensbejahung zurückgefunden. «Es ist erstaunlich, wie sichtbar unsere Mutter aufgeblüht ist und ihre Lebensqualität gestiegen ist», staunt Tochter Margaret. Die Frage, weshalb denn in diesem Alter noch heiraten, beantwortet Dorothy wie aus der Pistole geschossen: «because I love him» (weil ich ihn liebe). Linus Amiet sagt's philosophisch: «Unsere Seelen haben sich gefunden.» Dass jedes sein kleines Appartement behält, begründen sie mit unterschiedlichen «Mödeli» und Schlafenszeiten. «Aber es geit ja nume ume Egge», flüstert der Bräutigam mit verschmitztem Lächeln. «No problem», bestätigt die Braut und beweist, dass sies sehr wohl verstanden hat. Nelly Kolb >
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