Reben auf der Flucht
Das immer trockenere Wetter in Frankreich vertreibt traditionelle Weinsorten. Produzenten reagieren.

Agnès Destrac-Irvine, Doktorin der Agrarwissenschaften, eine kleine, schmale Frau von 43 Jahren, rote Haare, Sommersprossen, wartet ungeduldig im Foyer des Instituts für Wein und Reben in Bordeaux. Sie ist nervös. Der Tag wird ihre Zukunft und die Zukunft des Weins ihrer Heimatregion bestimmen. Eine Delegation der filière bordelaise betritt das Institut. Die filière ist so etwas wie die Weingenossenschaft der Region, ihre Mitglieder entscheiden, was einen Bordeaux zum Bordeaux macht, welche Böden, welche Rebsorten, welche Weingüter.
Alle Massnahmen, die Agnès Destrac-Irvine plant, um die drohende Katastrophe abzuwenden, müssen von der filière gutgeheissen werden. Sie begrüsst die Delegation, 30 Önologen und Winzer, und zeigt in einem Konferenzsaal ihre Analysen. Unmissverständlich: Die beiden Vorschläge der filière reichen nicht aus, um dem Klimawandel zu trotzen. Vorschlag eins, verbessertes Management der Weingüter, kann 20 Prozent der Auswirkungen auffangen. Sonnensegel spannen, Bewässerungs-anlagen in den Boden bohren, Kühlsysteme anbringen oder, wie es ein Winzer im vergangenen Jahr tat, seine Reben mit einem Helikopter bewässern. «Weder nachhaltig noch bezahlbar», sagt Destrac-Irvine. Für Vorschlag zwei, die Veredelung, also eine Rebe mit dem Wurzelsystem einer besser angepassten zu verbinden, sei es zu spät.
Ruf könnte ruiniert werden
Der Klimawandel bedroht Weinbau und Landwirtschaft. Die Herkunft spielt beim Wein eine entscheidende Rolle. Bordeaux ist Bordeaux, weil er aus dem Gebiet um Bordeaux kommt. Das Klima aber ändert sich, es wird trockener. Im Bordelais wird es in einigen Jahrzehnten unmöglich sein, das anzubauen, was seit Jahrtausenden angebaut wird.
Agnès Destrac-Irvine macht deshalb zwei Vorschläge. Erstens: Das Anbaugebiet mit dem Namen Bordeaux muss nach Norden rücken. Zweitens: Die Rebsorten, die Bordeaux-Weine ausmachen, müssen ausgetauscht werden. Doch beides könnte den Ruf der Region ruinieren. Dabei ist der Weinbau deren wichtigster Wirtschaftszweig. Weltweit werden pro Sekunde 23 Flaschen Bordeaux verkauft.
Hört man Agnès Destrac-Irvine von ihrem damaligen Treffen mit der filière erzählen, wird die Bedrohung klar: Ein Wandel steht nicht bevor – er ist schon da. In ihrem Büro stapeln sich Weinkisten. Auf dem Schreibtisch vor ihr steht ein Glas Wein, ein typischer Bordeaux. Also ein Cuvée aus Merlot und Cabernet Sauvignon. 65 Prozent der in Bordeaux angebauten Reben sind Merlot, 23 Prozent Cabernet Sauvignon, der Rest sind Hilfssorten, die den Geschmack abrunden. Merlot ist eine Rebsorte für eher kühle Anbaugebiete. Sie braucht viel, aber nicht zu starke Sonne, spärlichen, aber regelmässigen Regen, einen langen Herbst und einen kurzen Winter. Spätfrost, Trockenheit und Hitze bringen sie aus der Balance. Wird es zu trocken, kostet das die Pflanze eine enorme Anstrengung. Es folgt Trockenstress, die Rebe verdurstet.

Die Trockenheit ist ein bekanntes Problem. Mit dem Klimawandel aber verschärft es sich. Ein neues ist hinzugekommen: die andauernde Hitze. Hohe Temperaturen beschleunigen das Wachstum, die Rebe treibt früher aus, die Beeren werden früher reif. Der Geschmack ist zum Erntezeitpunkt unvollständig. Je reifer die Traube, desto mehr Zucker, was einen höheren Alkoholgehalt bedeutet. «Einen Wein mit 18 Volumenprozent kauft niemand», sagt Destrac-Irvine. Erntet man aber früher, um das Überzuckern zu vermeiden, fehlen Säure und Phenole, der Wein wird süss. Eine solche Ernte kann ein guter Winzer bestenfalls zu einem Mittelklassewein keltern.
Im Jahr 2003 ahnte Agnès Destrac-Irvine zum ersten Mal, was auf sie zukommen würde. Noch heute gilt der Jahrgang als einer der schlechtesten der vergangenen 100 Jahre. 2003 sprach man vom Jahrhundertsommer. Doch das Phänomen wiederholt sich seitdem alle paar Jahre.
Im Languedoc reagiert man
Was Destrac-Irvine im Bordelais noch zu bekämpfen versucht, ist anderswo schon geschehen. Das Languedoc etwa, die Region rund um Montpellier, hatte um 1950 das Klima, welches das Bordelais jetzt hat. Und heute hat es das Klima, welches das Bordelais künftig haben wird. Im Languedoc findet die Zukunft des Bor-delais bereits statt.
Davon kann zum Beispiel Alain Caujolle-Gazet berichten, ein bulliger Typ mit grauen Haaren und ernstem Blick. Er spezialisierte sich einst auf tropische Agrarwissenschaften, bis er sich 1998, im Jahr des ersten Rekordsommers, seinen Traum erfüllte: ein eigenes Weingut. Zur Erntezeit in jenem Jahr pflückte Caujolle-Gazet rosinengrosse Trauben von dürren, langen Ästen. Die Rebstöcke waren schon braun von der Sonne. Man konnte den Karamellgeruch riechen, der Zucker der abgefallenen Trauben kochte auf dem Boden.
In wenigen Wochen im Sommer 1998 verbrannte der Winzer mehr als die Hälfte seiner Ernte. Im Languedoc wird seit Jahrhunderten Wein gemacht. Schon immer war es hier besonders warm. So einen desaströsen Sommer wie 1998 hatte es aber nie zuvor gegeben.
Wein in 700 Meter Höhe
Caujolle-Gazet entwarf dennoch Etiketten für seinen noch nicht existenten Wein, denn die nächsten Jahre, da war er sich sicher, würden besser werden. Doch seitdem folgten sechs ähnliche Hitzewellen. Zwischen 2011 und 2018 lagen zwei Drittel der durchschnittlichen Monatstemperaturen über dem Dreissig-Jahres-Durchschnitt. Mehr als die Hälfte der Weingüter schlossen.
2012 verkaufte Caujolle-Gazet sein Haus. Das Klima zerstörte sein Geschäft, er wurde zum Klimaflüchtling. Auf der Suche nach einem neuen Stück Land betrat der Winzer das Dörfchen La Vacquerie, am Scheitel des Larzac-Plateaus gelegen. Wenige Wochen später kaufte er eine vier Hektar grosse Parzelle auf dem Plateau. Seine früheren Nachbarn lachten ihn aus. Da oben wachse Salat, aber doch kein Wein.
Herkunftsbezeichnungen werden erweitert
Doch Caujolle-Gazet war überzeugt: Der Klimawandel würde es in wenigen Jahren möglich machen, Wein auch in 700 Meter Höhe zu pflanzen. Denn eigentlich bieten die hellgrünen Terrassen des Larzac ideale Bedingungen. Hier regnet es so viel wie nirgendwo sonst in Südfrankreich.
Im Juli 2017 steht Caujolle-Gazet wieder auf dem Marktplatz, an seinem eigenen Stand. Er schenkt seinen Gästen Wein nach, fünf Euro das Glas. Heute kaufen auch andere Winzer die Hochlagen auf, zahlen bis zu 25'000 Euro pro Hektar. Innerhalb von fünf Jahren haben sich sechs grosse Weingüter hier eingerichtet. Caujolle-Gazet hat, ohne es zu wissen, Vorschlag Nummer eins von Agnès Destrac-Irvines umgesetzt. Er hat den Anbau verschoben, in seinem Fall in die Höhe.
Die filière des Languedoc hat das eingesehen. Die geschützte Herkunftsbezeichnung Terrasses du Larzac-Languedoc gilt nun auch für das Plateau. Im Tal wächst Merlot kaum noch. Dort werden neue Parzellen mittlerweile meist mit Carignan bepflanzt, einer Rebsorte, die auch die Hitze Zentralspaniens aushalten würde.
Neue Rebsorte suchen
Am Stadtrand von Bordeaux liegt ein kleines Feld, ein halber Hektar, darauf eng aneinandergereihte Rebstöcke. Agnès Destrac-Irvine huscht zwischen den Rebstöcken hin und her. Bis 2022 muss sie den Ersatz für Merlot gefunden haben. Die filière hat zugestimmt. Sie darf das Feld hinter dem Institut bewirtschaften, um dort eine Rebsorte zu finden, die genauso schmeckt und riecht wie Merlot, denselben Alkoholgehalt und Säuregrad hat. Und die gleichzeitig die kommende Hitze und Trockenheit ertragen kann.
Als das Projekt begann, sollte hier die Zukunft abgesichert werden. Doch die Zukunft hat die Forscher bereits eingeholt. Schon jetzt haben 4141 Winzer im Bordelais fremde Sorten gepflanzt. Auf gut Glück. Die Winzer warten nicht auf die Forschung. Denn der Merlot wird schneller zum Problem als prognostiziert. 2018 wurde der Wein 15 Tage früher geerntet als vor 30 Jahren.
In der Eingangshalle des Instituts in Bordeaux verabschiedet sich Destrac-Irvine von einer Frau und winkt die nächste Person herein. Die Agrarwissenschaftlerin lädt regelmässig Testpersonen zur Verkostung ein. Sie probieren Weine aus dem Bordelais und von anderswo, vom Testfeld und von regulären Flächen. Alle Tester erkennen den Bordeaux, auch den von der Testparzelle. Das ist wichtig. Denn typischer Geschmack ist nachprüfbar. Doch die grossen Bordeaux-Weine mit hohem Merlot-Anteil wird Destrac-Irvine nicht retten können. Dafür ist es zu spät.
Anfang des Jahres veröffentlichte das Institut die ersten vorläufigen Ergebnisse von Agnès Destrac-Irvines Studie. Die Autoren zeigen mögliche Lösungen, wie man den Merlot in die Zukunft führen könnte. Es sind jene Vorschläge, die Agnes Destrac-Irvine schon 2011 vor der filière präsentierte: Terroirs verschieben, Reben austauschen, Appellationen ändern und – zu guter Letzt – den Konsumenten auf all das vorbereiten.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch