Raserei mit Raketeneis
Lebendiges Theater rund um einen toten Baum: Heike Goetze zeigt am Theater Neumarkt Edward Albees Verzweiflungsklassiker «Wer hat Angst vor Virginia Woolf?».

Zuallererst fällt der Blick auf den Baum in unserer Mitte: totes Gehölz, dürre Äste, aufgepflanzt in einem Torfstreuselbeet mit Topf-blümchen. Das Ganze ist arrangiert auf einem grasgrünen Wohnzimmerteppich, drumherum wurde eine dieser bonbongrünen aufblasbaren Sitzgarnituren der frühen Siebziger platziert: ineinandergeschachtelte Höllenkreise der Künstlichkeit rund um ein abgestorbenes Stück Natur. Aus dem Off, hinter dem Lametta-Vorhang, kältet Alison Goldfrapp ab Konserve ihr unheimliches «Are you human or do you make it up?», bis das Publikum erschauert. Und die – passenderweise kaum auszumachende – Frau hinter der Glitzergardine quäkt mit.
Was für ein Einstieg in Edward Albees grossen Verzweiflungsklassiker «Wer hat Angst vor Virginia Woolf?»! Die in Zürichs bestens eingeführte Regisseurin, Bühnen- und Kostümbildnerin Heike Goetze hat ihn vom Uraufführungsjahr 1962 optisch ins nächste Jahrzehnt katapultiert – und emotional direkt bis an die Oberkante Unterkiefer der Zuschauer, die an diesem Premierenabend im März 2019 in der Manege des Zürcher Theaters Neumarkt sitzen. Da lauert nicht bloss Lachen.
Theater, ungeniertund extrascharf
Kaum schweigen die Beats, rattern Martha und George los wie aus der Pistole geschossen, knallen sich routiniert Beleidigungen um die Ohren, um so wenigstens ein Fünkchen Leben aus ihrem komatösen Ehe-Baum herauszudissen. Das ist Entsetzen-erregend komisch und Gelächter-erregend ausgelutscht: ungeniertes, extrascharfes Theater, das von sich selber weiss und auch vom Kultfilm mit Elizabeth Taylor als Martha und Richard Burton als George. Marie Bonnet und Daniel Hoevels machens ganz anders, und das machen sie ganz ausgezeichnet.
Das Akademikerpaar in der Midlife-Crisis, sie in einem Pseudo-Flamenco-Outfit, er in Magnum-Hawaiihemd und karierter Hose im Pyjamastyle, entwickelt während dieser Zimmerschlacht à quatre eine selbstironische Ätzkraft, die nicht nur die beiden jungen Besucher – Nick und «Futzi»-Honey – vom Plastiksessel haut. Sondern schier, und buchstäblich, auch uns.
Simon Brusis' Nick, mit einem Schnurrbart zwischen Tom Selleck und Edward Albee ausstaffiert, rollt da auch mal gern auf dem Boden herum. Oder er schiebt den Zuschauern in der ersten Reihe, zum blechernen 1978er-Hit «September», lasziv sein Becken ins Gesicht, während seine kleine «Futzi» im geblümten – und bekanntlich völlig unnötigen – Umstandskleid wahlweise ein Raketeneis schlotzt wie ein Kleinkind oder einen Lolli: Dass die 1996 geborene Anna Kummrow auch über einen Leistungsausweis als Tänzerin verfügt, ist ihrem virtuosen und vielsagenden Körpereinsatz anzusehen.
Regisseurin Goetze kennt keine Diskretion, riskiert in den anderthalb Stunden Überlautes, Überlanges, fühlbar Lebendiges: Gut so! Wenn ihr Ensemble auf Teufel komm raus losbrettert, dann kommt er raus, der Teufel, der diese vier Menschen reitet. Und auch der Geist, der das bittere Drama beseelt – heimsucht. Es schaut hinter die Fassaden der US-Gesellschaft, auf die hohlen Massstäbe des Erfolgs, die junge Suchende dazu antreiben, sich in Karrieren und Ehen zu verbeissen, wo es nichts zu kauen gibt als «Pfff». Blähworte, Lügen und Illusionen; Enttäuschungen.
Sie betatschen das Publikum und schenken ihm aus
Edward Albee wehrte sich gegen ein dekoratives, gemütliches, sicheres Theater. Und Heike Goetze wehrt sich genauso. Ihre Schauspieler produzieren unfeine Pfffs und Pupsgeräusche, betatschen das Publikum, legen sich über es drüber, sprechen es an, schenken ihm aus, flutschen dann wieder zurück in die Rolle – und das mit einer Leichtigkeit, als wiege die vierte Wand tatsächlich gar nichts. Sie keckern sich durch den Text, repetieren hier, variieren dort, parlieren Französisch, jonglieren mit Denglish und aktualisieren, als sei alles nur ein lustvoll über die Stränge geschlagener Spieleabend zweier befreundeter Paare und nicht ein hoch hysterischer Überlebenskampf.
Am Ende gibts keine Erkenntnis, keine angedeutete Versöhnung wie bei Albee, keinen Sonnenaufgang zu Flötensäuseln wie im Film. Bonnets Martha verschwindet fast in einem Grab aus Torf, schluchzend, erschüttert, dass George ihr erbarmungslos die letzte tröstende Fiktion raubte: die eines Sohns. «Nein!», brüllt sie wider die Zumutungen der Realität. Albee hätte da gejubelt, wir tun es hier.
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