Analyse zum Konflikt in ÄthiopienNoch kann der Bürgerkrieg gestoppt werden
Der äthiopische Premier Abiy Ahmed lässt Regierungstruppen in die rebellische Region Tigray einmarschieren. Die Weltgemeinschaft muss deshalb den Friedensnobelpreisträger zum Waffenstillstand drängen.

Vielleicht schauen manche jetzt auf Äthiopien und denken sich: Na, da hauen sie sich unten in Afrika mal wieder die Köpfe ein, ist doch immer dasselbe. Das Riesenreich am Horn von Afrika steht am Rand eines Bürgerkriegs, der oft als ein ethnischer Konflikt beschrieben wird. Ganz falsch ist das nicht, es schwingt aber eben immer mit, dass diese Ethnien nicht anders können, als sich zu bekriegen. Was in Äthiopien derzeit passiert, ist letztlich ein schmerzhafter Prozess der Nationenbildung, der dort wie an vielen anderen Orten und zu anderen Zeiten leider nicht unblutig verläuft.
Äthiopien ist ein Land mit 110 Millionen Einwohnern, es ist als einziges Land Afrikas nie wirklich kolonialisiert worden, hat seine eigene Schrift, Uhrzeit und seinen eigenen Kalender. Es gibt etwa 80 Volksgruppen, die sich darauf einigen können, dass es kein besseres Essen gibt als das säuerliche Fladenbrot Injera. Aber sonst oft auf nicht sehr viel mehr. Das Land hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Staatsformen durchgemacht, war Kaiserreich, kommunistische Betondiktatur und autoritärer Einparteienstaat.
Seit zwei Jahren regiert Premier Abiy Ahmed, der für seine radikalen Reformen den Friedensnobelpreis bekam. Jetzt führt er das Land in den Krieg. Er bestätigt jene, die immer befürchtet haben, ein Land wie Äthiopien könne nur autoritär und gewaltsam zusammengehalten werden. Während die Welt auf den Ausgang der US-Wahl wartete, schickte Abiy einigermassen unbeachtet sein Militär in die rebellische Region Tigray. Seither dringen trotz Abriegelung und gekappter Kommunikationswege schlimme Nachrichten über Massaker, Kämpfe, Bombardierungen und Vertreibung aus Tigray nach draussen.
Es war nicht der Wunsch aller seiner Völker, dem Riesenreich beizutreten, das hat Kaiser Menelik II. für sie entschieden, der sich sein eigenes Traumreich schuf. Es ist seitdem nur bedingt gelungen, Mechanismen zum Interessenausgleich und zur Konfliktlösung zwischen den Volksgruppen zu finden. Äthiopien ist als Staat im ethnischen Föderalismus organisiert, die grossen Gruppen wurden in eigene Bundesstaaten aufgegliedert, mit weitreichender Autonomie. Die dann faktisch aber wenig bedeutete, da die Zentralregierung jahrzehntelang von der kleinen Minderheit der Tigray dominiert wurde.
Premier Abiy ist nun der Erste aus der Mehrheit der Oromo, der das Land regiert und erreichen möchte, dass sich seine Bürger zuerst als Äthiopier verstehen, der die ewige Rivalität und den Hass beenden will und deshalb die Autonomie der Regionen eingeschränkt hat. Das klingt gut, nur sehen es viele Äthiopier anders, sie sind nach Jahren der Unterdrückung misstrauisch gegenüber dem Zentralstaat. Dass Abiy nun Truppen gegen Tigray marschieren lässt, kann als Bestätigung gelten. Es entsteht ein Konflikt, der schnell ausser Kontrolle geraten kann.

Der Rest der Welt nimmt das recht teilnahmslos zur Kenntnis, ist mit sich selbst, den Wahlen in den USA und dem Brexit beschäftigt. Keiner drängt Abiy an den Verhandlungstisch. Vielleicht wird man in ein paar Jahren diese Zeit als eine der verpassten Chancen für ein neues Äthiopien sehen, das auf einem so guten Weg war, im Schnitt der vergangenen Jahre eines der am schnellsten wachsenden Länder.
Der Erfolg ist ein Grund für die Unzufriedenheit, für die Unruhe so vieler junger Äthiopier. Jahrzehnte hat das Land in Bildung investiert, jetzt gibt es Hunderttausende Uni-Absolventen, die keinen Job finden; die demokratischen Reformen bleiben für sie ohne greifbare Dividende, sie werden anfällig für nationalistische Scharfmacher. Noch ist die Eskalation umkehrbar, die Weltgemeinschaft muss Friedensnobelpreisträger Abiy zum Waffenstillstand drängen. Und danach viel mehr in Äthiopien investieren.

Fehler gefunden?Jetzt melden.