Nein, nicht schon wieder krank!
Die ersten virenreichen Winter können dem Familienalltag ganz schön zusetzen.

Wir hatten uns gerade mehr oder weniger an das Leben mit Baby gewöhnt. An die schlaflosen Nächte, die unterbrochenen Gespräche, die vollgespuckten Kleider. Doch dann kam er: unser erster Winter. Und mit ihm die Eingewöhnung in der Krippe.
Natürlich hätten wir ahnen können, dass jetzt der Teil für Fortgeschrittene begann. Schliesslich hatten uns alle gewarnt: Kommt das Kind in die Krippe, ist es erst einmal richtig schön krank. Im Winter sowieso. Das mag bei anderen so sein, sagten wir uns, aber unsere Tochter ist fit und weiss sich zu wehren gegen ein bisschen Schnupfen.
Gruseliger Schleim und schwere Gewissensbisse
Nein, tat sie nicht. Die Nase unseres sechsmonatigen Babys triefte, kaum konnten sich die Krippen-Betreuerinnen seinen Namen merken. Kurz darauf entzündete sich das Auge und dann das Ohr, plötzlich tauchten in den Armkehlen Pusteln auf und wenig später auf der Zunge Aphten. Zwischendurch gab es immer wieder für ein paar Tage Erbrechen und Durchfall und noch mehr gruseligen Schleim. Das Übliche halt.
Jede zweite Woche war unsere Kleine krank und konnte nicht in die Krippe – und wir Eltern nicht zur Arbeit. Mir war das sehr unangenehm, denn ich wusste, dass mein Chef nicht «Meine Tochter ist leider krank» hörte, sondern «Ich mache heute mal wieder blau». Wenn ich mich telefonisch abmeldete, ärgerte er sich jeweils so gewaltig, dass ich regelrecht durchs Telefon hören konnte, wie das Blut in seinen Kopf schoss und seine Glatze rot leuchten liess. Seine Kommentare wurden immer unverblümter, meine Gewissensbisse immer schwerer. Anfangs versuchte ich mich zu erklären, was sich aber als diffizil herausstellte bei einem Gegenüber, das Viburcol mit höchster Wahrscheinlichkeit für ein Entkalkungsmittel hielt und Dafalgan für eine Zahnfüllung.
Kollaps, Blackout, Finito
Also setzten wir daheim alle Hebel in Bewegung, es trotz krankem Kind zur Arbeit zu schaffen. Wir drehten, tauschten und schoben, fragten die eine Grossmutter in Bern, die andere ennet dem Gotthard, mal die Tante und mal den Götti. Ab und an gelang uns tatsächlich ein organisatorischer Jahrhundertcoup, und jemand Liebes betreute unsere kranke Tochter. Viel öfter aber brachte der monströse Aufwand für diesen Plan B nichts. Im Gegenteil: Er war für uns Eltern ungesund.
Mir wurde bewusst, in welch wackeligem Kartenhaus sich unser Familienalltag abspielte. Die Wände hielten nur, wenn alle beteiligten Parteien beim Stützen halfen. Fiel jemand aus, krachte das Konstrukt zusammen. Kollaps, Blackout, Finito.
Das mussten wir ändern. Vielleicht in eine günstigere Wohnung ziehen und mit dem Ersparten eine Nanny engagieren? Besser zu dieser genialen Krippe wechseln, die auch kranke Kinder betreut! Oder auf das Inserat in diesem Reisemagazin antworten, wonach jemand von November bis März Unterstützung sucht für seine Tauchschule in der Südsee? Nichts von all dem geschah. Denn der Frühling kam und unsere Tochter blühte auf.
Der erste Winter mit Plan C
Jetzt genossen wir die Vorzüge unseres Kartenhauses – den frischen Wind, der durch die Ritzen pfiff, und die Möglichkeiten, den Grundriss flexibel und mühelos umzugestalten. Wir verdrängten jeden Gedanken an den uns mittlerweile verhassten Winter. Wenn das Thema unverhofft auftauchte, ermutigten wir uns damit, dass jeder Käfer und jedes Virus das Immunsystem stärkt. Folglich müsste der nächste Winter schon viel besser werden.
Der folgende Winter wurde nicht besser. Aber der übernächste. Unsere Tochter kränkelte immer noch oft, und trotzdem war alles anders. Denn es war unser erster Winter mit Plan C. Dieser tritt bei Krankheit unserer inzwischen zwei Kinder in Kraft und geht so: Krank ist krank, wir drehen nicht, wir tauschen nicht, wir schieben nicht, und wir bieten keine Verwandten aus der Ferne auf zum Hüten. Wir Eltern bleiben daheim, der eine von uns am Morgen, der andere am Nachmittag. Ziel: ein ansatzweise gesunder Umgang mit dem kranken Kind. Meist klappt es erstaunlich gut, manchmal überhaupt nicht. Leider hält sich das schlechte Gewissen hartnäckiger als erwartet, ist mittlerweile aber radikal selbstverschuldet. Ganz ausgereift ist Plan C also nicht. Aber schon nur zu wissen, was ich bei Krankheit meiner Kinder tun werde, entlastet mich ungemein. Und was mir nicht in den Kopf will: wie unser Plan C, dieser radikal fantasiefreie Versuch, für mich eine ganze Jahreszeit zu rehabilitieren vermochte. Zumindest ein Stück weit.
Dieser Artikel wurde erstmals am 17. Januar 2017 publiziert und am 16. Mai 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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