Nause: «Wer bleibt, agiert als menschlicher Schutzschild»
Am 10. Februar stimmen wir über das neue Polizeigesetz ab. Höchst umstrittenist die Verrechnung von Polizeikosten an Teilnehmer und Veranstalter von Demos.

Vera Diener, Juso-Mitglied aus Schwarzenburg, musste arbeiten und konnte nicht zur Demo gehen. Es war der 7. April 2018, ein Tag, der in der Stadt Bern noch lange zu reden geben sollte. Kurden und linke Kreise demonstrierten gemeinsam unbewilligt gegen den Krieg in Syrien – «Solidarität für Afrin».
Während des Umzugs kam es zu Schmierereien an Trams und Hauswänden, die Demo wurde kurz nach 17 Uhr in der Innenstadt angehalten. Diener kam da gerade von der Arbeit. Als sie sah, dass die Demo noch im Gange war, lief sie mitten in den Pulk. «Viele meiner Leute nahmen teil. Und es war kein Problem, an der Polizei vorbeizukommen», sagt sie heute.
239 Personen abgeführt
Kurz nach ihrem Eintreffen gab die Polizei den Demonstranten über Lautsprecher eine letzte Chance, sich zu entfernen. Diener sagt, sie und andere in der Menschenmenge hätten dies rein akustisch nicht verstanden. Nach der Durchsage löste die Polizei die Demo auf. Ab diesem Zeitpunkt gab es nur noch einen Weg aus dem Kessel: in Handschellen. Einzeln wurden die Teilnehmer aus der Menge gezogen und auf den Posten im Neufeld gebracht, auch Diener. Insgesamt 239 Personen wurden abgeführt, 147 angezeigt. Die meisten wegen: Landfriedensbruch.
Wäre am 7. April 2018 das neue Berner Polizeigesetz bereits in Kraft gewesen, hätten die Demonstranten nebst einem Strafbefehl vermutlich auch eine Rechnung von der Stadt Bern erhalten. Es ist der wohl umstrittenste Punkt im aktuellen Abstimmungskampf: der neue Gesetzestext, der vorsieht, Kosten für Polizeieinsätze künftig auf die Teilnehmer und Veranstalter von Demos zu überwälzen, sofern es zu Gewalt an Personen oder Sachen kommt.
Veranstalter werden dann zur Kasse gebeten, wenn die Demo unbewilligt ist oder sie Bewilligungsvorlagen vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht einhalten. Ein Teilnehmer wird belangt, wenn er oder sie selbst an der Gewalt beteiligt ist. Allerdings kann es auch jene treffen, die weder sprayen noch schlagen, sondern weiterdemonstrieren, wenn die Polizei die Demo für offiziell beendet erklärt hat.
Die Afrin-Demo, sie könnte ein Musterbeispiel für die Anwendung des neuen Gesetzes sein.
Das neue Instrument
Wenn im Kanton demonstriert wird, dann meist in der Stadt Bern. Die Stadtregierung hat keine Position zum revidierten Polizeigesetz bezogen. Ihr Sicherheitsdirektor allerdings spricht sich für ein klares Ja aus. Gemäss Reto Nause (CVP) ist das Gesetz «ein massgeschneidertes Instrument», um gegen Gewalt an unbewilligten Demos vorzugehen. «Das Gesetz soll auch eine abschreckende Wirkung haben.» Macht über die Anwendung hätte die Stadt Bern selbst: Ob die Kosten weitergereicht werden, entscheidet nicht die Polizei, sondern die Gemeinde. Der Kanton will den Gemeinden damit ein neues Instrument in die Hand legen, um gegen gewalttätige Demonstranten vorzugehen.
«Das Gesetz soll auch eine abschreckende Wirkung haben.»
Die Rechtsordnung sieht bislang zwei Möglichkeiten vor, um Gewalt an Demos zu sanktionieren. Eine strafrechtliche: Wer ein Schaufenster demoliert, der begeht eine Sachbeschädigung. Und eine zivilrechtliche: Der Eigentümer des Schaufensters kann vom Täter Schadenersatz verlangen.
Wird das Polizeigesetz angenommen, sollen einer Privatperson künftig maximal 10'000 Franken, in besonders schweren Fällen 30'000 Franken auferlegt werden können. Die Kostenauflage soll sich unterscheiden je nachdem, wie direkt jemand an den Ausschreitungen beteiligt ist. «Die Beteiligungen an den Sicherheitskosten sind geradezu lächerlich tief», sagt Nause. «Das ist nur ein Bruchteil der effektiven Kosten eines Sicherheitseinsatzes während einer Demo, bei der Gewalt verübt wird.»
Nur bei grossen Demos
Unbewilligt war auch die Anti-WEF-Kundgebung vom letzten Samstag. Beim Bollwerk setzten die Demonstranten symbolisch ein Kartenhaus in Brand, am Rand kam es zu einer Handgreiflichkeit, die Polizei war mit einem Grossaufgebot vor Ort. Aber: Gemäss Reto Nause wäre eine solche Demo explizit kein Anwendungsfall für die neuen Regeln. Dies, weil sie gar nicht aufgelöst wurde.
Nause relativiert. Es sei nicht so, dass die Polizei Kundgebungen reihenweise auflöse. In der Praxis beschränke sich besagter Anwendungsbereich auf «die grossen Kisten», also auf Kundgebungen, bei denen es zu massiver Gewalt komme und hohe Sachschäden entstünden. In den letzten Jahren wären rund eine Handvoll Kundgebungen betroffen gewesen. Nause nennt «Tanz dich frei» 2013 als Paradebeispiel.
In der Realität ist es gerade bei unbewilligten Kundgebungen extrem schwierig, die Organisatoren zu identifizieren – geschweige denn zu überführen. Nause: «Faktisch ist es beinahe unmöglich.» Heisst im Umkehrschluss: Bei unbewilligten Demos wäre der Regress auf Teilnehmer eher die Norm als die Ausnahme. Gemäss Nause haben nur jene etwas zu befürchten, welche sich auf polizeiliche Anweisung hin nicht aus einer Demo entfernen oder selbst Gewalt anwenden. Dieser Gewaltbegriff ist weit kontroverser, als es auf den ersten Blick scheint. Wie umstritten die Auslegung zuweilen ist, zeigt sich am Straftatbestand des Landfriedensbruchs, der faktisch eine Blaupause lieferte für das neue Prinzip der Kostenabwälzung im Kanton Bern.
Ein weiter Kreis
Für die einen ist es ein Bagatelldelikt, für die anderen eine schwerwiegende Tat: Am Landfriedensbruch scheiden sich die Geister. Fakt ist, wer deswegen verurteilt wird, befindet sich im Dunstkreis der Gewalt – er muss diese aber nicht selbst anwenden. Wie weit dieser Kreis gezogen wird, liegt im Ermessen der Behörden. Das Beispiel der Afrin-Demo zeigt: Er kann sehr weit reichen. Nause kontert: «Wer sich in solchen Fällen noch im Demonstrationszug befindet, leistet der Gewalt Vorschub und agiert als menschlicher Schutzschild für Chaoten.» Für ihn ist der Landfriedensbruch keine Bagatelle: «Mir kann niemand weismachen, er werde als Unbeteiligter ins Recht gefasst.»
Kritiker sehen im Tatbestand eine Abkehr vom Täterprinzip. Mit dem neuen Instrument der Überwälzung von Polizeikosten erhält der Landfriedensbruch noch mehr Tragweite. Zwar wird der Regierungsrat bei einer Annahme des Gesetzes den Begriff «Gewalttätigkeit» konkretisieren müssen. Ein Blick über die Kantonsgrenze zeigt allerdings, dass der Landfriedensbruch durchaus schon als solche qualifiziertwurde.
Mit der Idee, Polizeikosten auf die Verursacher abzuwälzen, ist der Kanton Bern nämlich kein Pionier. Im Kanton Luzern ist ein nahezu identischer Artikel bereits seit drei Jahren in Kraft. Effektiv angewandt wurde das Instrument noch nie, Auswirkungen hat es dennoch.
Jurist Markus Husmann hat sich mit diesen Folgen auseinandergesetzt. «Es gibt bislang keine empirische Untersuchung. Aber in der Tendenz kann man sagen, dass das Gesetz eher verantwortungsvolle Veranstalter abschreckt und gewaltbereite Personen gerade nicht.» Husmann nennt als Beispiel die 1.-Mai-Demo, die in Luzern seit Inkrafttreten des Gesetzes nicht mehr stattfand, weil sich kein offizieller Veranstalter fand, der die Verantwortung übernehmen wollte. Auch aus Angst, eine Bewilligungsauflage – etwa die Anforderung eines «angemessenen Ordnungsdienstes» – nicht erfüllen zu können. Würde die Polizei diese Nichteinhaltung als «grob fahrlässig» einstufen, würden die Veranstalter zur Kasse gebeten.
Während bei den bewilligten Demonstrationen also ein abschreckender Effekt festzustellen war, hatte das neue Gesetz auf jene, auf die es eigentlich abzielte, laut Husmann kaum einen Einfluss. Unbewilligte Kundgebungen, bei denen es auch zu Gewalt und Sachbeschädigungen kam, gab es weiterhin. «Wer bereit ist, Gewalt anzuwenden, und damit erhebliche Strafen in Kauf nimmt, wird sich kaum durch zusätzliche Gebühren abschrecken lassen», glaubt Husmann.
Mehr Unbewilligte?
Mehr unbewilligte Demos, weniger Dialog: Das sei die Konsequenz des neuen Polizeigesetzes, befürchten auch die Berner Gegner. Rahel Ruch ist Co-Präsidentin des Grünen Bündnisses der Stadt Bern, sie sagt: «Wer eine Kundgebung organisiert, wird es sich künftig zweimal überlegen, ob er diese offiziell anmeldet.» Stattdessen werde es mehr unbewilligte Demos geben. «Das Gesetz sieht einzig repressive Massnahmen vor und geht deshalb in die komplett falsche Richtung.» Die Erfahrung der letzten Jahre habe gezeigt, dass der gute Dialog der Schlüssel zu gewaltfreien Demos sei. «Wenn sich die Polizei zurückhielt, passierte am wenigsten.»
«Wer eine Demo organisiert, wird es sich künftig zweimal überlegen, ob er diese offiziell anmeldet.»
Zurück zur Afrin-Demo, die Polizeikosten von rund 467800 Franken verursachte. Ob es sich um eine grosse Kiste gehandelt hat, lässt Reto Nause offen: «Die Anwendung anhand von Beispielen aus der Vergangenheit erscheint mir wenig sinnvoll.» Juso-Politikerin Vera Diener ist heute Gemeinderätin in Schwarzenburg. Damals wurde sie nach mehreren Stunden in Polizeigewahrsam wieder entlassen. Man kündigte ihr an, ihre Personalien seien der Staatsanwaltschaft übergeben worden. Sie sagt: Einen Strafbefehl wegen Landfriedensbruch habe sie bisher nicht erhalten.
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