Wenn die Zahnfee kommtNachts unter dem Kopfkissen
Seit über hundert Jahren sorgt die Zahnfee für Magie am Morgen: Der Zahn ist weg, ein Geschenk ist da. BE-Post-Kolumnistin Simone Lippuner findet das schön, aber …

Liebe Zahnfee
Ich legte gerade meine sieben Sachen auf das Fliessband im Supermarkt, als der Videoanruf einging. Zuerst hörte ich nur verzweifeltes Weinen. Dann erschien auf dem Bildschirm mein Sohn. Er streckte den Kiefer in die Kamera, schob die Unterlippe nach unten und drückte mit seinem kleinen Zeigefinger gegen einen kleinen Schneidezahn. Der wackelte.
«Mama! Mein Zahn blutet», schrie er hysterisch ins Telefon, sodass es nicht nur die Kassiererin und alle in der Schlange, sondern auch der Lagerist am anderen Ende des Ladens mitkriegten. Alle meine Versuche, das Kind zu beruhigen, scheiterten, sodass ich meine Einkäufe in die Tasche packte und nach Hause eilte.
Wie pünktlich du bist, liebste Zahnfee! Im Schnitt um den sechsten Geburtstag klafft in den kleinen Mündern die erste Lücke, steht im Internet. Wir hatten gerade die Reste der Geburtstagstorte von den Beisserchen geputzt, da ging das auch bei uns los. Und ich wusste, für die nächsten paar Jahre wirst du regelmässige Besucherin sein, wirst zwanzig kleine Zähne einen nach dem anderen unter dem Kopfkissen hervorklauben und mitnehmen in dein Reich.
Wo wohnst du eigentlich? Ich stelle mir immer ein gigantisches Schloss aus Milliarden von Milchzähnen vor, mit Turmspitzen und Erkern, mit einem Garten und einem Fluss, in welchem du diese Gebilde aus Schmelz und Zement zuerst mal waschen musst, bevor du sie verbaust. Die löchrigen landen direkt im Abfall. Und in einem Nebengebäude bewahrst du all deine Schätze auf: die Münzen, Edelsteine, Filzstifte, die du dann unter die Kopfkissen legst.
Das machst du schon lange. Erstmals erwähnt wurdest du 1908 in einem redaktionellen Beitrag in der «Chicago Daily Tribune». Das Schauspiel «The Tooth Fairy» wurde 1927 zum ersten Mal aufgeführt. Und die erste über dich geschriebene Geschichte scheint «The Tooth Fairy» von Lee Rogow zu sein, sie ist 1949 erschienen. Danach erlebtest du im angloamerikanischen Raum eine regelrechte Blüte, welche von Büchern und Comics begleitet wurde.
Auch eine nicht repräsentative Umfrage im Freundeskreis zeigt: Du bist überall präsent. In neun von zehn Fällen warst du schon vor über 30 Jahren für diese magischen Momente am Morgen verantwortlich. Und die meisten Eltern führen diese Tradition mit ihren Kindern weiter.
So wie ich. Mir legtest du jeweils einen Zwei- oder Fünfliber unters Kissen. Ich erinnere mich, dass ich mit aller Kraft verhindern wollte, einzuschlafen. Unbedingt wollte ich dich sehen! Es gelang mir nie. Meinem Sohn ging es nicht anders. Seine Augenlider flatterten, der Kopf sank immer wieder auf die Brust, doch er raffte sich auf und versuchte sich mit Hörspielen wach zu halten.

So, liebe Zahnfee – und hier müssen wir nun mal ernsthaft zusammen reden. Weil irgendwie machst du deinen Job nicht richtig, immer brauchst du dabei die Hilfe der Eltern. Und solange das Kind wach bleibt, weil es dich sehen will, bleiben auch wir Eltern wach. Und das ist noch nicht alles: Als bei uns dann endlich Ruhe war, hielt die nur wenige Stunden an. Um vier Uhr in der Früh stolperte der Kleine in mein Bett und knipste die Nachttischlampe an.
Da stand er. In seinem nigelnagelneuen Spiderman-T-Shirt. Und grinste mich mit seiner Zahnlücke an. «Das hat mir die Zahnfee geschenkt.» Sank in die Kissen, schlief friedlich weiter. Ich blieb wach liegen, bis der Wecker klingelte.
Bei aller Magie, die du bringst, liebe Zahnfee, die Nächte mit dir sind kurz! Die Realität am Morgen ist hart! Und weil wir dich bei deiner Arbeit so tatkräftig unterstützen, finde ich, hätten auch wir Eltern ein Geschenk verdient. Wie wäre es mit ein paar ruhigen Stunden?
Mit müden Grüssen
Simone Lippuner
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