Nach dem Chaos folgt noch mehr Chaos
Schon zu seinen besten Zeiten wirkte der Jemen wie ein Land am Rande des Zerfalls. Jetzt, wo Staatschef Ali Abdullah Saleh weg ist, machen sich die Bürger auf eine Zukunft gefasst, die noch schlimmer sein könnte.
An der Frage, wer letztlich an die Stelle von Ali Abdullah Saleh tritt, könnten sich neue und unberechenbare Machtkämpfe entzünden: zwischen den mächtigen Stämmen, der Jugendbewegung an der Spitze des Protests und Überresten des alten Regimes einschliesslich Salehs eigenem Sohn. In der politischen Krise dürfte sich niemand um die zahlreichen Konflikte, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme kümmern, die das ärmste der arabischen Länder schon vor Ausbruch der Unruhen immer weiter ins Chaos führten.
Das bereitet auch im Ausland Sorge, besonders der US-Regierung, die bislang auf Saleh als Verbündeten im Kampf gegen al-Qaida setzte. Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel besteht aus einem harten Kern von schätzungsweise 300 Mann, die sich in der unzugänglichen Bergwelt des Jemens versteckt halten und unter dem Schutz von Stammesführern stehen, die mit Saleh über Kreuz sind.
Terroristen, Sezessionisten, Rebellen
Noch mehr Chaos im Jemen käme den Mitgliedern des Terrornetzwerks zupass, könnten sie doch in Ruhe Anschlagspläne schmieden, ohne von Salehs Anti-Terror-Einheiten aufgestört zu werden. Doch die Extremisten sind nicht zahlreich genug, um bedeutendere Landesteile einzunehmen oder die Staatsgewalt auszuhebeln. Dennoch würden Saudiarabien und die USA von jeder künftigen Regierung des Jemens ein energisches Vorgehen gegen al-Qaida erwarten.
Weitere destabilisierende Faktoren könnten ebenfalls an Gewicht gewinnen. So hat im Süden eine Unabhängigkeitsbewegung in den letzten Jahren zugelegt und Befürchtungen einer Abspaltung oder eines Bürgerkriegs geweckt. Im Norden rebellieren Schiiten, die nach Darstellung der Regierung vom Iran unterstützt werden.
Mit einer Kombination aus politischer Klugheit, Protektion und Gewalt hat Saleh den Jemen gerade so zusammengehalten. Ihm nachzufolgen wird schwer in diesem Land, in dem beinahe jeder Mann eine Schusswaffe trägt, religiöser Fundamentalismus verbreitet und verächtliche Missachtung von Autorität allgegenwärtig ist. Keiner in Salehs Regierung besitze genügend seiner Fähigkeiten, sagt der Terrorabwehrexperte Rick Nelson von Washingtoner Zentrum für Strategische und Internationale Studien. «Ich sehe nicht, dass irgendein Rest der Saleh-Regierung nach dem hier übrig bleibt», kommentiert er die Entwicklung.
Verwandtschaft blieb zurück
Der Konflikt begann als friedlicher, von Sicherheitskräften niedergeknüppelter Protest und entwickelte sich zum Kampf zwischen Regierungskräften und Stammeskämpfern eines Clanchefs, der sich auf die Seite der Demonstranten geschlagen hatte. Salehs Abreise mag dem Land einen Bürgerkrieg erspart haben. Doch die Probleme liegen jetzt erst offen zutage, und in den Jubel mischte sich Zukunftsangst.. «Wir sind froh, dass er weg ist», sagte eine Demonstrantin. «Lasst uns seinen Abgang feiern, egal was die Zukunft bringt.»
Sollte der Präsident nicht zurückkehren, würden sich die einflussreichen und konservativen Stämme seinen Sturz wohl an die Brust heften und die nächste Regierung zu dominieren versuchen. Das brächte sie auf Konfrontationskurs mit den meist liberalen jungen Gruppen, die die Proteste seit Februar organisierten. Diese Gruppen argwöhnen auch, das zu ihnen übergelaufene ranghohe Offiziere wieder abspringen und versuchen könnten, die traditionelle Machtposition des Militärs zu erhalten, statt die Regierung liberalen, reformorientierten Zivilisten zu überlassen.
Viele Gefahren
Anführer der Stammeskämpfer ist Sadek al Ahmar, der finanzielle und andere Unterstützung aus Riad bezieht. Auch die meisten hohen Offiziere profitieren von der Freigebigkeit der Saudis, die lieber ihre Verbündeten nach Saleh am Ruder sehen würden als ein instabiles Nachbarland im Übergang zur Demokratie. Ein weiteres Gefahrenmoment sind die im Jemen verbliebenen Vertreter des Saleh-Regimes wie sein Sohn und mutmasslicher Nachfolger Ahmed, der die gut ausgerüsteten und ausgebildeten Republikanischen Garden befehligt, und vier enge Verwandte und Militärkommandeure.
Viele im Jemen vermuten, dass der Sohn und die Verwandten zurückblieben, um das Saleh-Regime an der Macht zu halten, bis der Präsident zurückkehrt. Doch die Saudis dürften ihn kaum nach Jemen zurückkehren lassen – und sei es auch nur, um dem Land weiteres Blutvergiessen zu ersparen.
Hamza Hendawi/ AP
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