Nach Chemnitz: Rock gegen Rechts beginnt zu dröhnen
Kraftklub- und Tote-Hosen-Konzert in Chemnitz: Musik als Antwort auf Neonazis ist ein altbewährtes Rezept – aber umstritten.
Die rechte Gewalt der letzten Tage in Chemnitz hat deutsche Musikgrössen auf den Plan gerufen. Die Band Kraftklub hat die Initiative «Wir sind mehr» gestartet. Am kommenden Montag organisiert sie zusammen mit anderen Künstlern ein kostenloses Konzert gegen Fremdenfeindlichkeit und «rechte Hetze».
Auf der Bühne der Chemnitzer Innenstadt werden sich nebst Kraftklub unter anderem Die Toten Hosen, Casper, K.I.Z. und Trettmann die Ehre geben. Sie möchten damit ein Zeichen setzen, schreibt das Kollektiv in einer Mitteilung. «All den Menschen, die von den Neonazis angegriffen wurden, wollen wir zeigen, dass sie nicht alleine sind.»
Tausende haben sich über die sozialen Medien bereits für das Konzert angemeldet. In ganz Deutschland werden Fahrgemeinschaften organisiert, auf Facebook gibt es eine Gruppe, in der Übernachtungsmöglichkeiten angeboten werden. Rapper Casper forderte die Besucher einer Party dazu auf, nach Chemnitz zu kommen, «dahin, wo es wichtig ist», Die Toten Hosen und Co. twittern fleissig für ihre Fans, #wirsindmehr.
Rocker verdrängen NPD
Solche Grossveranstaltungen mit Musikprominenz gegen Rechtsradikale sind nichts Neues in Deutschland. 1979 fand in Frankfurt am Main das «Rock gegen Rechts»-Festival statt. Während zweier Tage feierten dort 30'000 Menschen, als Antwort auf das damals geplante «Deutschlandtreffen» der NPD. Dieses wurde schliesslich verboten.
Die Toten Hosen rufen ihre Fans dazu auf, nach Chemnitz zu fahren. Bild: Twitter.
Der «Spiegel» schrieb dazu: «Das Rock-Festival brachte zustande, wovon auf der linken Szene seit langem nur geträumt wurde.» Plötzlich habe Einigkeit geherrscht. Zermürbende Fraktionskämpfe schienen vergessen, «politische Erklärungen wurden mit Leichtigkeit vorgetragen», «Musikfans gingen auf die Strasse, brachten das eigene Faible für Rock in jene gesellschaftlichen Zusammenhänge ein, in denen diese Musik einmal entstanden war.»
Das Open-Air-Festival folgte dem britischen Vorbild «Rock against Racism», einer von Musik begleiteten Grossdemonstration gegen Faschismus mit 70'000 Teilnehmenden.
Nach dem Feuer die Inflation
Die nächsten Megakonzerte folgten in den 90er-Jahren. Es war die Zeit nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Die Asyldebatte war angeheizt. Die rechte Gewalt erlebte einen Aufschwung. 1992 kam es in Rostock-Lichtenhagen zu den schlimmsten ausländerfeindlichsten Krawallen seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Anwohner und Rechtsradikale aus ganz Deutschland attackierten Asyleinrichtungen. Die Bilder des Brandes im Sonnenblumenhaus gingen um die Welt.
Das Problem: Abstumpfung vor lauter Grussbotschaften für mehr Toleranz, laue Texte, wohltätiges Schaulaufen.
Ein ZDF-Reporter, der zusammen mit vietnamesischen Bewohnern auf das Dach des Hauses flüchtete, erinnert sich im «Spiegel»: «Und dann hat da oben eigentlich jeder still für sich mit dem Leben abgeschlossen, muss man einfach so sagen.» Es folgten weitere Anschläge. Tote in Solingen und Mölln.
«Arsch huh, Zäng ussenander» und «Heute die, morgen du» waren die Antwort. Die Kampagnen mit Festivals und Konzerten zogen Hunderttausende an. Die Prinzen, Die Fantastischen Vier, Herbert Grönemeyer, Udo Lindenberg, Marius Müller-Westernhagen und auch damals schon die Toten Hosen waren an vorderster Front dabei. Doch bereits kurz nach den öffentlichkeitswirksamen Aktionen wurde erste Kritik laut. «Bei vielen Künstlern und Intellektuellen regt sich Widerstand gegen die Inflation des guten Willens», schreibt der «Spiegel» 1993. Abstumpfung vor lauter Grussbotschaften für mehr Toleranz, laue Texte, wohltätiges Schaulaufen, Stars, die sich als Alibis für Politiker fühlen. Die Debatte um rechte Gewalt droht unter den vielen roten Teppichen von Antirassismus-Galas niedergetrampelt zu werden.
Beständige Bearbeitung der Massen
Einer der damals wichtigsten musikalischen Wortführer gegen Neonazismus meldet sich zu Wort, Marius Müller-Westernhagen: «Die Inflation solcher Spektakel mindert am Ende die Glaubwürdigkeit und bringt so das Anliegen in Misskredit.» Eine spektakuläre Grossveranstaltung, um ein Zeichen zu setzen, ja, aber «danach muss Ruhe sein».
Nicht fehlen darf eine Hymne, die 2015 zurück in die Charts katapultiert wurde: «Schrei nach Liebe» der Ärzte.
Ruhe war aber nicht. Bis 2001 organisierte Udo Lindenberg Jahr für Jahr das «Rock gegen rechte Gewalt»-Festival. Der Gewinn kam unter anderem Gewaltopfern und Neonazi-Aussteigern zugute. Danach wurden neue Vereine gegründet, in denen sich Bürger und Prominente zusammenschlossen, um sich gegen Rechtsextremismus zu engagieren. Man setzt auf die Präsenz an grossen Musikveranstaltungen und auf Botschafter, die vor grossem Publikum auftreten. «Laut gegen Nazis» liest man auf Bannern neben Open-Air-Bühnen, an Infoständen werden Festivalbesucher aufgeklärt, Fettes Brot, Deichkind, Sportfreunde Stiller, Casper und wieder die Toten Hosen rufen «Kein Bock auf Nazis».
Musik für die Filterblase?
Nicht fehlen darf in der Musikgeschichte gegen Nazis eine Hymne, die 2015 wieder zurück in die Charts katapultiert wurde: «Schrei nach Liebe» der Ärzte. Ein Aufruf eines Musiklehrers gegen rechtsextreme Gewalt an Flüchtlingen fand Gehör: Fans kauften den Ärzte-Song online und wünschten ihn bei Musiksendern, tausendfach. In über 20 deutschen Städten fluteten singende Flashmobs die Strassen. «Aktion Arschloch» war ein Erfolg. Neonazis gibt es immer noch.
Ebenso die Diskussion, inwiefern man mit solchen Aktionen und grossen Konzerten das «richtige» Publikum anspricht, also auch jenes, welches anfällig für rechtsradikale Ideen ist oder bereits in der Szene verkehrt. Die Böhsen Onkelz einladen oder nicht? 1992 am «Heute die! Morgen Du!» noch ein No-go. Die Band sang damals offen rassistisch. Heute gilt sie als geläutert. Doch es bleibt das Unbehagen anderer Musiker, am selben Festival aufzutreten. Jedenfalls werden die Böhsen Onkelz am Montag nicht gegen Rechts singen. Das Line-up wird wohl auch eher keine Rechtsextremen anziehen, die bekehrt werden könnten.
«Wir freuen uns, wenn noch viel mehr Leute den Arsch hochbekommen und wenn die Menschen, die sich diesen Zuständen immer wieder in den Weg stellen, auch mal Kraft tanken können», schreiben die #wirsindmehr-Künstler in ihrer Mitteilung. Ob die Kraft danach ausreichen wird, um dem rechten Gedankengut und Fremdenhass in Deutschland ein Ende zu bereiten, darf bezweifelt werden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch