«Musik ist eine Überlebensstrategie»
Eigentlich wollte er einen Roman schreiben. Doch dann nahm er spontan das Album «Air» auf: Der renommierte Zürcher Harfenist Andreas Vollenweider (55) hat neuen Seelenbalsam produziert.
Die Veröffentlichung Ihrer neuen CD «Air» steht kurz bevor. Finden Sie da noch Zeit, um durchzuatmen? Andreas Vollenweider: Im Moment leide ich tatsächlich etwas unter Atemnot, da extrem viel gleichzeitig passiert. Deshalb weiss ich, wie wichtig es ist, sich Luft zu verschaffen.
Was ist das Besondere an dieser Platte? Zum Beispiel, dass ich eigentlich gar nicht vorhatte, ein Album zu machen. Ich hatte sogar explizit vor, keine CD zu machen. Ich wollte mich einem Projekt widmen, das schon lange auf meinem Schreibtisch liegt: Dem Buch, das ich einmal mitten in einer Tournee zu schreiben begann.
Warum dann trotzdem die Platte? Der Roman handelt von der Kraft, die in der Musik liegt. Diese geheimnisvolle Kraft, die einen tief berühren kann. Beim Schreiben habe ich selbst plötzlich wieder unbändige Lust bekommen, zu spielen. So habe ich tagsüber geschrieben, und abends ging ich ins Studio und habe einfach ein wenig gespielt. Das weckte den Wunsch, einmal wirklich spontan ein Album zu machen. Einfach so, ohne lange Vorbereitung. Ich rief all meine Leute an, und wer gerade Zeit hatte, kam ins Studio. So haben wir «Air» in weniger als zwei Wochen aufgenommen. Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas so schnell fertig gestellt.
Entstanden Stücke aus der gemeinsamen Improvisation? Durchaus. In diesen Momenten habe ich gespürt, wie sich alles auftat und die Musik herauswollte. Das ist es, was mich noch immer antreibt und fasziniert am kreativen Prozess. Das ist meine Lebenserfüllung.
Weshalb haben Sie für das Album den Titel «Air» gewählt? Es hat vor allem damit zu tun, dass das Album sehr transparent ist. Wir haben praktisch nichts hinzugefügt und nicht an den Aufnahmen herumgefeilt. Es sind nur die gerade anwesenden Leute, kaum mehr als drei, zu hören. Früher habe ich oft ganze Soundorgien veranstaltet. Diesmal habe ich bewusst geschaut, dass es luftig bleibt.
Warum? Unter anderem, weil ich gelernt habe, dass die Hörer Raum brauchen, um sich in der Musik bewegen zu können. Wenn die Musik zu fertig und zu voll ist, können die eigene Fantasie und die Gefühle, die ich mit meiner Musik wecken will, unter der Masse des Sounds begraben werden.
Welche Bedeutung hat die Musik generell in unserer von Krisen geschüttelten Welt? Ich spüre ganz deutlich, dass es für die Menschen noch nie so notwendig war, einen Augenblick zu stoppen, zur Ruhe zu kommen und sich tief drinnen von der Musik berühren zu lassen. Dort, wo fast nur noch die Musik hinkommt. Ich glaube, nur wer seine innere Stimme zu hören vermag, wird die richtige Antwort auf die globalen Probleme finden.
Und wie könnte sie lauten? Wenn wir wieder nur versuchen, die Börse möglichst schnell auf Kurs und die Wirtschaft zum Florieren zu bringen, haben wir eine riesige Chance verpasst: Eine Welt zu schaffen, die uns Menschen gerecht wird, einem intelligenten Wesen mit brillanten Fähigkeiten, das ausserdem zu starken Gefühlen fähig ist. Das ist der Mensch. Nicht dieser Schatten von uns selbst, auf den wir uns reduziert haben.
Wollen Sie heute weniger als Künstler glänzen und mehr ausdrücken? Das stimmt weitgehend. Allerdings war Musik für mich immer schon mehr als dekorative Gestalt. Für mich war sie schon in meiner Jugend eine Überlebensstrategie. Ich fand nur dank der Musik das Gleichgewicht wieder, wenn ich mich an der Diskrepanz zwischen der Welt, die ich beobachtete, und der Welt, wie sie sein könnte, aufzureiben drohte. Ich weiss noch, wie ich nach der Schule immer nach Hause gerannt bin und zwei Stunden lang Klavier gespielt habe, bis es mir wieder besser ging.
Und später? Später habe ich mich dann auch an der Möglichkeit berauscht, dass ich jedes Orchester und jeden Musiker anrufen und mit ihnen Projekte realisieren konnte. Heute will ich mit meiner Musik niemanden mehr beeindrucken, sondern nur noch Glücksgefühle vermitteln.
Und das vermeintlich Einfache berührt oft mehr. Das ist so. Das Kunstvolle kann zwar eine Art intensiver, überschäumender Orgasmus sein. Was Bestand hat, sind jedoch die schlichten Dinge, die einen wirklich treffen und keine langen Erklärungen brauchen.
Kann man sich denn auf einer Harfe in eine ähnliche Ekstase spielen wie bei einem Rock-Gitarrensolo? Das Interessante ist, dass sie das gar nicht zulässt. Sie bindet einen auf eine gute Art immer wieder zurück, klopft einem väterlich auf die Schulter und sagt: «Hey, easy, bleib auf dem Teppich!». Da ich ein barocker, leidenschaftlicher Mensch mit Hang zum Überschwang bin, ist mir der Dialog mit meiner Harfe sehr wichtig. Er hilft mir, mich zu fokussieren. Wenn mein Temperament mit mir durchgeht und ich an der Welt verzweifle, können schon zehn Minuten spielen reichen, um mich wieder ins Lot zu bringen.
Und jetzt, da das Album fertig ist: Geht es mit Ihrem Roman weiter? Der wird in diesem Jahr fertig. Ganz bestimmt! (lacht)
CD: Andreas Vollenweider, «Air», Edel.
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