Montagsporträt: Peter Widmer leitet die Gassen – und Milieuarbeit Heartwings Seine Kirche ist die Langstrasse Seine Kirche ist die Langstrasse
Vom Strassenstrich in Daressalam an die Langstrasse: Pastor Peter Widmer kümmert sich um Prostituierte, Zuhälter und Freier. Er weiss, dass er mit evangelikaler Moral nicht landen kann. Vom Strassenstrich in Afrika an die Langstrasse: Der Pastor kümmert sich um Prostituierte, Zuhälter und Freier – ohne Moralin.
Das Montagsporträt Peter Widmer leitet die Gassen- und Milieuarbeit Heartwings Von Michael Meier Freak? Paradiesvogel? Missionar? Peter Widmer ist wohl alles zusammen. Der 43-Jährige fällt schon mit seiner Kleidung aus dem üblichen Rahmen: auffällige Ledermütze, bestickte Jeans, Silberringe und Kette mit grossem Kreuz. Auf dem schwarzen T-Shirt leuchtet ein geflügeltes rotes Herz, das Logo seiner Gassen- und Milieuarbeit Heartwings. Seit drei Jahren durchkämmt er mit seiner Frau Dorothée das Zürcher Rotlichtmilieu. Er besucht Bars, Clubs, Salons, Parks. Nachts spricht er die Ungarinnen am Sihlquai an oder die Thailänderinnen, Latinas und Westafrikanerinnen an der Langstrasse. Manchmal führt er sein Heartwings-Mobil mit, einen zur Minibar umfunktionierten Leiterwagen, gefüllt mit Snacks und Getränken – bisweilen hat er sogar einen Grill dabei.«So komme ich schnell mit den Frauen in Kontakt», sagt Widmer. Haben sie Vertrauen gewonnen, schauen sie schon mal bei ihm im Heartwings-Quartier mitten im Rotlichtviertel vorbei. Finanziert vom gemeinnützigen Verein Heartwings, laden an der Langstrasse 62 drei Räume zu Gesprächen und zum Relaxen ein. Frauen, die immer nur geben, können sich hier auch mal von einer Masseurin kostenlos massieren lassen. Widmer ist als Seelsorger unterwegs. Ziel sei es, dass sich die Frauen mit Vergangenheit und Umfeld zurechtfinden, Hoffnung schöpfen und Frieden finden auf der spirituellen Ebene. Der gelernte Mechaniker kann es gut mit randständigen Leuten; er ist selber ein Aussteiger. In den Neunzigerjahren brach er mit seiner Frau nach Tansania auf. In Dar es Salaam bekamen sie Einblick in die Arbeit der Frauen, die sich an Touristen, Botschafter und Geschäftsleute verkaufen. In Afrika ist der Strassenstrich ein besonders gnadenloses Geschäft. Das Ehepaar ermutigte die Frauen zum Aussteigen und brachte sie teilweise in einem Haus mit betreutem Wohnen unter. Raus aus der Kirche Nach sechs Jahren kehrten die Widmers in die Schweiz zurück. Der sanfte Mann mit harter Schale liess sich, berufsbegleitend, am evangelikalen Institut für Gemeindeaufbau und Weltmission zum Pastor ausbilden. Zwei Jahre arbeitete er bei der Securitas, dann als Pastor einer Pfingstgemeinde in Horgen – und wurde erneut zum Aussteiger, der den Anzug mit der Lederkluft tauschte. «Ich wollte raus aus der Kirche und zu den Leuten auf der Strasse», sagt Widmer, «weg von der Kanzel ins Rotlichtmilieu.» Auf das Etikett «evangelikal», das ihm anhaftet, reagiert er allergisch. «Christlich» oder «evangelikal» seien Reizwörter, «die man auf der Gasse spülen muss». Auf der Langstrasse seien viele so kaputt, dass man sie mit Moralin nur vertreiben würde. Deshalb kann für Widmer die enge Moral der Evangelikalen und Religiösen nicht Richtschnur sein. Allerdings versteht er sich mit seiner Frau durchaus als Vorbild: Seit 18 Jahren verheiratet und Eltern von zwei Töchtern im Teenageralter, steht das Paar für das traditionelle Familienbild.«Wir arbeiten nicht für eine Kirche, sondern überkonfessionell», wird Widmer nicht müde zu betonen. Mit religiösem Trost könne er bei den Frauen auch deshalb nicht landen, weil unter ihnen viele kirchenverletzte Personen seien. Er rechnet sich selber auch zur Fraktion der Religionsverletzten. In einer Freikirche aufgewachsen, sei er früh unter Druck geraten. «Ich war ein aggressives Kind, das sich nicht geliebt fühlte, und eine gebrochene Persönlichkeit.» Er erzählt von einem Unfall und von einem Blitzschlag, der das Elternhaus in Brand steckte. Mit 15 Jahren habe er erstmals erlebt, dass «Gott mich annimmt, wie ich bin». Besuch auch im Gefängnis «Wenn schon Kirche, dann ist die Langstrasse unsere Kirche», so Widmer, also jene ziemlich heillose Gemeinschaft aus Zuhältern, Freiern, Dealern, Zimmervermietern, die alle von den Frauen profitieren. «Das Milieu lebt vom Milieu», sagt er. Er dränge sie aber nicht zum Ausstieg. «Die Frauen sollen uns kennen lernen und sich, sofern erwünscht, von uns begleiten lassen.» Mit dem Seelsorger könnten sie über ihre Traumata reden oder über eine mögliche Schuldensanierung. Er konfrontiert sie mit existenziellen Fragen: Wie viel bist du dir wert? Nur hundert Franken? Oder: Wo möchtest du in fünf oder zehn Jahren sein? Er besucht die Frauen auch im Gefängnis oder in der Psychiatrie. Und für die Prävention hält er Vorträge in Schulen, Kirchen oder bei Jugendanlässen. Um Zuhälter und Menschenhändler hatte er zuerst einen Bogen gemacht. Bis ihn einer bat, «sein Mädchen» in der psychiatrischen Klinik zu besuchen. Seither ist er immer wieder in Kontakt mit Loverboys und Zuhältern. Die Langstrasse ist die Meile, wo sich alle treffen. «Mit der Zeit lernt man selbst die Freier kennen.» Morgens um drei kann es vorkommen, dass er auf Männer trifft, die rumhängen, ohne ihren Hunger nach Sex gestillt zu haben. Dann kommt es mitunter zu einem Gespräch über Sex- und Pornosucht. «Es geht mir nicht darum, recht zu haben», sagt Widmer, «sondern um eine neue Perspektive zu vermitteln.» www.heartwings.ch Ohne kirchliche Etikette im Milieu von Zürich arbeiten: Pastor Peter Widmer. Foto: Sophie Stieger
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