Mit Schweizer Perfektion in den GAU
Geheimtruppe P-26 Die parlamentarische Untersuchungskommission habe sich geirrt, sagt der Historiker Titus Meier. Er versucht in einem neuen Buch das Bild der geheimen Widerstandsorganisation neu zu zeichnen.
Erst neun Jahre alt war Titus Meier, als im Jahr 1990 die geheime Widerstandsorganisation P-26 unter politischem Getöse unterging. Seither sind 28 Jahre vergangen. Aus dem damaligen Primarschüler ist ein Historiker, Generalstabsoffizier und Aargauer FDP-Grossrat geworden, der sich die Aufgabe gesetzt hat, als Erster die ganze Geschichte der P-26 zu erzählen. Nach mehrjährigen Forschungen erscheint diese Woche Meiers Doktorarbeit über die «Widerstandsvorbereitungen im Besetzungsfall». Darin präsentiert er eine Darstellung, die das bisherige Bild der P-26 in wesentlichen Teilen neu zeichnet und politisch umdeutet.
Bisher war dieses Bild bestimmt durch die parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK). Diese kam 1990 zum Schluss, dass die P-26 ausserhalb der Armee und der Bundesverwaltung operierte, dass sie weder durch das Parlament noch den Bundesrat kontrolliert wurde und damit letztlich illegal war. Doch die PUK habe sich in mehreren Punkten geirrt, urteilt Meier nach Gesprächen mit über hundert Zeitzeugen. Zudem konnte er als erster Historiker im Bundesarchiv gesperrte Aktenbestände einsehen. Gestützt auf diese Quellen schreibt Meier auf 490 Seiten und mit über 1900 Fussnoten nicht nur die Geschichte des Projekts 26 neu, sondern auch jene seiner Vorgängerorganisationen, die bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreichen.
Mit Guisan fing es an
Schon General Henri Guisan liess ein geheimes Funknetz aufbauen. Dieses sogenannte G-Netz hätte die Armeeführung nach einem deutschen Einmarsch mit Informationen aus den besetzten Landesteilen versorgen sollen. Richteten sich diese Vorbereitungen noch gegen Nazideutschland, so sass der Feind nach dem Krieg im Osten. 1957, unter dem Eindruck des von den Sowjets unterdrückten Ungarnaufstands, erliess der damalige Generalstabschef Louis de Montmollin erstmals den ausdrücklichen Befehl, eine veritable Widerstandstruppe für den Fall eines sowjetischen Einmarsches zu schaffen. Ernsthafter angepackt wurde die Sache zehn Jahre später, als Oberst Hans Burger den Spezialdienst aufbaute. Dieser ging – nach vielen Irrungen und Wirrungen, Chef- und Konzeptwechseln – dann in das Projekt 26 über.
Hosenträger gegen Sowjets
In einem Land, in dem die Uhren stets pünktlich und die Trottoirs immer sauber sein sollen, wurde auch der nationale Super-GAU, die Kapitulation der eigenen Armee, perfekt geplant. Titus Meiers Dissertation ist ein eindrücklich-bizarres Manifest helvetischer Präzision.
In vier Materialdepots hatte die P-26 Pistolen und Maschinenpistolen, Sprengstoff, Sanitätsmaterial und Funkgeräte eingelagert. Die wären im Kriegsfall in Containern an die im Land verteilten P-26-Mitglieder ausgeliefert worden. Natürlich waren diese Behälter eine Spezialanfertigung. Und natürlich mussten sie jeder denk- und undenkbaren Unbill gewachsen sein. Deshalb wurden 1982 elf dieser Behälter einem besonderen Härtetest unterzogen, indem sie auf dem Waffenplatz Bremgarten für zehn Jahre in der Erde vergraben wurden. Das Tüpfelchen auf dem i waren Fläschchen mit «Verwitterungsflüssigkeit». Diese musste über die Grabungsstelle geträufelt werden, um Wildtiere davon abzuhalten, die geheimen Container auszugraben. Oberst Burger, der Chef des Spezialdienstes, der P-26-Vorgängerorganisation, gab seinen Kämpfern für den Kampf gegen die Sowjets sogar Hosenträger ab. Damit konnten, ähnlich einer Steinschleuder, Drähte über Stromkabel geworfen und Kurzschlüsse verursacht werden. Aktiviert wäre die Truppe im Ernstfall durch Codewörter, die Elisabeth Schnell und Ueli Beck in ihre Morgensendung auf Radio Beromünster eingeflochten hätten.
«Journalistische Erfindung»
Ab 1970 liess der Spezialdienst sogar Pistolen und Maschinenpistolen entwickeln, die als Regenschirm oder Schreibmappe getarnt waren. Diese Eigenkonstruktionen wurden aber nach ein paar Jahren gestoppt. Der Grund war eine konzeptionelle Neuausrichtung der Widerstandsvorbereitungen: Gewaltsame Aktionen oder gar Attentate traten in den Hintergrund. Als der Spezialdienst 1979 in die P-26 überging, verfügte die Organisation laut Historiker Meier definitiv über keinen Kampfauftrag mehr.
In Friedenszeiten wurden nur die Kader rekrutiert – am Ende waren es gegen 400 –, die erst im Ernstfall die Mitglieder der eigentlichen Widerstandsorganisation anwerben sollten. Die «Geheimarmee» sei daher eine «journalistische Erfindung», schreibt Meier.
Ihre Hauptmissionen waren die Nachrichtenbeschaffung und die Propaganda – um den Widerstandswillen der Bevölkerung zu stärken – sowie Sabotageakte. Im Jahre 1990 empörte sich die Öffentlichkeit vor allem darüber, dass ein geheimes Konzeptpapier der P-26 einen «internen Umsturz durch Erpressung, Unterwanderung» als eines von fünf Einsatzszenarien nannte. Dies nährte den Verdacht, die Geheimtruppe wäre auch nach einem Wahlsieg der SP aktiviert worden. Diese Lesart wischt Meier in seiner Dissertation mit wenigen Sätzen vom Tisch. Das Szenario «Umsturz» meine sicher keinen demokratischen Machtwechsel, schreibt Meier.
Überzogen war die Kritik der PUK laut Meier auch darum, weil die P-26 keinen Kampfauftrag gehabt habe. «So wie die Widerstandsvorbereitungen für den Besetzungsfall ein Kind der Bedrohungsperzeption des Kalten Kriegs waren», so sei der PUK-Bericht «ein Kind der politischen Umbruchphase», urteilt Meier.
Tatsächlich gab es im Kalten Krieg bis in linke Kreise hinein Stimmen, die verlangten, dass sich der Bundesrat auf den Besetzungsfall vorbereite. Der LdU-Nationalrat Erwin Jaeckle wollte sogar den «totalen Volkswiderstand» ausrufen. Obwohl Historiker Meier zur nachgeborenen Generation zählt, wird in seiner Dissertation deutlich, dass er nach seinen Forschungen kein «Kind der politischen Umbruchphase» mehr ist, sondern klar zur Perspektive der P-26-Veranwortlichen im Kalten Krieg neigt.
Die PUK kritisierte, dass es für die P-26 keine gesetzliche Grundlage gab und sie sich bloss auf einen diffusen Verfassungsauftrag und einen wenig aussagekräftigen Paragrafen in der Konzeption für Gesamtverteidigung von 1973 berief. Das Fehlen einer korrekten Rechtsgrundlage kritisiert auch Meier. Er relativiert dies aber mit dem Hinweis darauf, dass das Legalitätsprinzip früher generell weniger hoch gewichtet worden sei.
Einen «grundlegenden Fehler» machte die PUK laut Meier mit ihrer Aussage, die P-26 sei nicht Teil der Bundesverwaltung gewesen. Erst diese Hypothese habe es ihr erlaubt, die Geheimtruppe als eine private Organisation darzustellen. In seiner Studie verwendet Meier viel Raum, um anhand unveröffentlichter Dokumente zu belegen, dass diese Annahme falsch war. Die P-26 sei immer im Organigramm des EMD integriert gewesen. Und die jeweiligen Generalstabschefs hätten sie eng geführt, argumentiert Meier.
EMD-Chefs wussten mehr
Auch die Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartements (EMD) von Georges-André Chevallaz bis Kaspar Villiger hätten über die P-26 mehr gewusst als bisher bekannt – jedenfalls so viel, «dass sie ihre Führungsverantwortung wahrnehmen konnten». Doch aus Meiers Studie geht auch hervor, dass ihr Detailwissen sehr beschränkt war.
Der Gesamtbundesrat wurde nur zweimal über die Widerstandsvorbereitungen informiert: im September 1979 vom damaligen Generalstabschef Hans Senn und dann erst wieder im April 1990 von Bundesrat Villiger. Zu diesem Zeitpunkt war der Schaden bereits angerichtet: Die öffentliche Empörung um die «Geheimarmee der EMD-Spione» («Schweizer Illustrierte») war eskaliert, das Parlament hatte bereits eine PUK eingesetzt.
Wie Meier aufzeigt, hätte aber just dieses Parlament viel mehr über die Geheimtruppe wissen können, wenn es seinen Job gemacht hätte. Denn rund zehn Jahre vor dem P-26-Skandal war es im Spezialdienst zu einem Zwischenfall in Österreich gekommen. Als die Geschäftsprüfungskommission (GPK) die sogenannte Affäre Schilling untersuchte, erhielt sie Einblick in die Widerstandsvorbereitungen.
Darauf versicherte die GPK der Öffentlichkeit, sie werde ihre Kontrolltätigkeit in diesem Geheimbereich künftig intensivieren. Doch die GPK hielt ihr Versprechen nicht ein, wie Meier nachweist. In der GPK geriet die Organisation, die inzwischen P-26 hiess, rasch in Vergessenheit. Und die Chefs der P-26 sahen sich ebenfalls nicht bemüssigt, die Parlamentarier von sich aus über ihre klandestinen Aktivitäten zu informieren.
Und so kam es, wie es kommen musste: Die Vorbereitungen, mit welchen sich die Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg für den militärischen GAU rüstete, endeten exakt ein halbes Jahrhundert später, in einem politischen GAU.
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