Mit kleinem Motor auf die Grosse Scheidegg
Als Stadtfahrzeug hat sich das Elektrovelo schon etabliert. Einige Tourismusregionen preisen den «Flyer» aber auch als Freizeitgefährt. Und schlagen gar Routen über Pässe vor. Ein Selbstversuch auf die Grosse Scheidegg.
Die Voraussetzungen für die Passbezwingung sind schlecht. Kein Training, keine Hightech-Sportbekleidung, keine dazu passenden Powerriegel, keine Veloerfahrung ausser täglich 20 Minuten zur Arbeit. Und dann auch noch schlecht geschlafen. Dem gegenüber steht eine 78 Kilometer lange Strecke von Meiringen über die Grosse Scheidegg nach Interlaken und den Brienzersee entlang zurück. Oder anders ausgedrückt: Vor mir liegen knapp 1400 Höhenmeter, die in der ersten Etappe bezwungen werden müssen. Einzige Hoffnung ist das kleine Velomotörli am «Flyer». Die Strecke ist eine der sieben offiziellen «Flyer»-Routen im Haslital, wo an verschiedenen Orten der Akku gewechselt werden kann.
00:00:00 – Meiringen
Im Hotel Du Sauvage in Meiringen, einer der offiziellen Abholstationen, steht der «Flyer» schon bereit. Die Erklärungen der netten Rezeptionistin dauern keine fünf Minuten. «Flyer»-Fahren ist praktisch selbsterklärend: Akku anschalten, Motorleistung einstellen – natürlich «stark», weswegen hat man sonst so ein Ding? – und in die Pedale treten. Na dann, Helm auf und los!
00:09:28 – Bei Lammi
Nur ein wenig Angstschweiss wegen der vielen knapp an mir vorbeirasenden Autos tropft bisher von der Stirn. Der Fahrgenuss überwiegt. Man pedalt zwar selber, aber immer um einiges schneller als erwartet. Als würde eine unsichtbare Geisterhand von hinten mitschieben. Ein wenig fühle ich mich wie Hermes, der griechische Götterbote. Einfach ohne Flügeli an den Schuhen, dafür mit Motörli zwischen den Pedalen. Sogar das Anfahren im höchsten Gang ist möglich.
00:25:30 – Der Weg nach oben
Mit den Höhenmetern steigt auch der Puls. Steil schlängelt sich das Strässchen nach oben Richtung Rosenlaui. Der «Flyer» hilft tatkräftig mit. Sein Akku hat noch zwei von drei Strichen, meiner auch etwa. Anders sieht es bei den zwei Velofahrern aus, die von mir mit schnurrendem «Flyer» und einem Lächeln überholt werden. «Unser Akku ist leider schon fast leer», sagt der eine schwer atmend. Unaufhaltsam überhole ich eine um die andere Velogruppe, ernte Lacher und ungläubiges Staunen. Je weiter oben, desto grösser wird wohl auch der Neid. «Das nächste Mal nehme ich auch so einen», sagt eine keuchende Radfahrerin. Und nach dem Überholen der nächsten Gruppe, in der einer gerade selber zur Spitze vorstossen wollte, ruft jemand von hinten ein «Jaja, die haben wir gern!» nach. Irgendwie fühle ich mich unsportlich. Egal, dafür bin ich als Erster in Rosenlaui. Kurz davor bricht für einen Moment Panik aus: Akku fast leer! Man gewöhnt sich an den Saft aus der Steckdose. Und ist nicht mehr ganz so unabhängig unterwegs.
00:44:56 – Hotel Rosenlaui
Wie einst Nietzsche und Tolstoi treten heutzutage auch «Flyer»-Fahrer an die Rezeption des altehrwürdigen Hotels Rosenlaui. Sofort fühlt man sich mindestens um hundert Jahre zurückversetzt. Nur der Akku in der Hand passt nicht. Doch der muss sein: Hier ist Wechselstation. «Ich möchte ein bisschen Grimselstrom», sage ich wegen der so lautenden Akkuaufschrift. «Grimselstrom haben wir nicht», antwortet die Dame. «Einen vollen Akku aber schon.» Viele Elektrovelos kämen nicht vorbei, fügt sie an. Neuer Akku, neue Kraft: Die Müdigkeit hält sich in Grenzen, trotz der 700 schon überwundenen Höhenmeter. Ich will weiter.
00:57:14 – Schwarzwaldalp
Wer mit dem «Flyer» fährt, ist nicht andauernd mit der Kondition beschäftigt und kann unterwegs die Umgebung geniessen. Insbesondere die imposante Bergkette zur Linken ist umwerfend. Hoppla! Gerade noch erwische ich die nächste Kurve. Doch muss man bei geraden Strecken aufpassen, dass das Gefährt auf der Strasse bleibt. Zu viel Staunen ist gefährlich.
01:06:15 – Etwas weiter oben
Vor allem Wanderfamilien schauen und lachen und staunen, wenn der «Flyer» kommt. Platz da für den Pionier der Bequemlichkeit! Der Sportsgeist ist unterwegs schon lange abhanden gekommen. Nach kurzer Zeit treffe ich ihn aber wieder. Er heisst Ueli Siegenthaler, ist 52 Jahre alt und kämpft sich gerade mit dem Mountainbike die letzten Meter zur Grossen Scheidegg hoch. Ich schalte für einen Schwatz in den ersten Gang zurück – und muss aufpassen, dass das Velo nicht zu schnell wird. Von Interlaken sei er über Rosenlaui hierhergefahren, jetzt geht es nach Grindelwald und wieder zurück zum Auto. «Aber das hier ist nur ein Training», sagt der Mann, der gerade um die 1000 Höhenmeter überwunden hat und dem immer noch nicht die Puste ausgegangen ist. «Eigentlich möchte ich mal an einem Tag diese Strecke fahren und dann über die Kleine Scheidegg weiter nach Wengen.»
01:28:43 – Grosse Scheidegg
Geschafft. Eigentlich möchte ich gerne noch etwas weiter bergauf fahren. Der Akkuwechsel klappt erneut problemlos. Schon kommt auch Ueli Siegenthaler angefahren. Wenig später witzelt er mit einem 62-jährigen Engländer über den jungen «Schnösel», der mit dem Elektrovelo den Berg hochgefahren ist. Beide sind Radbegeisterte und tauschen sich über Pneus und Touren aus. Dennoch: Weder die Biker noch die Rennradfahrer haben den «Schnösel» mit dem Elektromotörli ausgelacht oder angefeindet. Nur eine einzige junge Sportskanone wollte nicht grüssen.
02:40:10 – Interlaken
Schon ist die rasante Abfahrt vorbei. Lediglich der fiese Gegenwind talaufwärts hinderte ein bisschen die Freude. Bis der Akku ein- und der Wind damit ausgeschaltet war. Am Brienzersee geht es nun über Iseltwald zurück.
03:13.00 – Iseltwald
In der «Lake Lodge» möchte ich ein letztes Mal den Akku wechseln. Pittoresk liegt das Rucksacktouristenrefugium am See. Die Rezeption ist verwaist. Die zuständige Person weilt zum Kaffeetrinken und Telefonieren am See. «Was ist denn das für ein Ding?», schnauzt sie. «Wer brauchst denn so was?» Ich erkläre den Sachverhalt. Sie schaut mich ungläubig an. Wir verstehen uns nicht. Dennoch finden wir gemeinsam einen halbwegs aufgeladenen Akku. Ich bin froh, weil ich jetzt ohne letzten Kraftakt nach Meiringen zurückkomme. Sie ist froh, weil sie wieder Kaffee trinken und telefonieren darf. Manchmal ist die Welt ganz einfach.
04:22:18 – Meiringen
Nach 1400 überwundenen Höhenmetern, einer 78 Kilometer langen Strecke und drei leergesogenen Akkus bin ich zurück in Meiringen. Solange der Akku reicht, macht das «Flyer»-Fahren auch oder gerade für Velobanausen grossen Spass. Nur Sportskanonen mit grossem Kampfgeist werden sich langweilen. Wie vermutlich der User «bergfuxl» auf der Internetseite Quaeldich.de. Eine Stunde und 16 Minuten hat er bis auf die Grosse Scheidegg gebraucht. Ohne Motörli. Nachmachen? Nein, danke.
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