«Migration lässt sich nicht stoppen, nur kontrollieren»
Von der verschärften Schweizer Asylpraxis für Eritreer hält François Crépeau gar nichts. Für den UNO-Sonderberichterstatter für Migration führt sie in die verkehrte Richtung.

Herr Crépeau, in der Schweiz gilt künftig bei Asylsuchenden aus Eritrea die illegale Ausreise allein nicht mehr als Asylgrund – wie beurteilen Sie diese Praxisverschärfung?François Crépeau:Offen gesagt sehe ich keinen stichhaltigen Grund, der eine solche Praxisänderung rechtfertigen würde.
Behörden und Bundesverwaltungsgericht gehen davon aus, dass bei einer Rückkehr nach Eritrea nicht mehr zwingend eine Gefährdung oder Bestrafung droht.Dafür gibt es meines Wissens keinen Beweis. Wenn sich die Schweiz für diese Praxis entschieden hat, dann muss sie in jedem einzelnen Fall sicher sein, dass eine Rückkehr für diese Person unproblematisch ist. Und sie muss einen Mechanismus installieren, um überprüfen zu können, ob dann nach der Rückkehr tatsächlich nichts passiert.
Wissen Sie denn, was passiert und wie die aktuelle Lage in Eritrea aussieht?Nach allem, was wir heute wissen, hat sich die Situation nicht grundlegend verändert. Die Menschenrechtslage bleibt dramatisch, das Regime hat sich nicht gelockert, die Repression hat nicht nachgelassen, die angekündigten Reformen wurden nicht umgesetzt. Ich sehe daher keinen Anlass für einen Politikwandel gegenüber Eritrea. Grossbritannien etwa hat seinen restriktiven Kurs korrigiert. Das britische Asyl-Berufungsgericht kam Ende 2016 zum Schluss, dass sich die Gefährdungslage für eritreische Rückkehrer nicht vermindert hat und diese weiter mit harten Strafen rechnen müssen. Die Schweiz steht mit ihrer Praxis also ziemlich allein da.
Sie erhält dafür allerdings dickes Lob von EU-Botschaftern vor Ort. Diese kritisieren in einem jüngst publik gewordenen Bericht, die UNO zeichne ein zu negatives Bild von Eritrea.Um die Situation in einem Land wie Eritrea zu beurteilen, sind diplomatische Quellen sehr hilfreich. Sie nutzen Kanäle, die anderen Beobachtern verschlossen bleiben.
Aber?Aber zugleich muss man die Aufgabe von Diplomaten bedenken: Ihr Job ist es, im Auftrag ihrer Regierungen einen Draht zum eritreischen Regime zu knüpfen. Das gelingt ihnen nicht, wenn sie Eritrea anprangern. Sie haben ein politisches Interesse daran, den Boden für Kontakte zu bereiten und das Regime nicht weiter in die Defensive zu drängen.
Soll das heissen, die Kritik der EU-Botschafter sei irrelevant?Nein, keinesfalls. Ihre Kritik ist wichtig und muss in die Analyse einfliessen. Aber um deren Bedeutung richtig einzuordnen, muss man eben auch den Kontext und die Perspektive berücksichtigen. Diplomaten sind eine wichtige Quelle, aber letztlich nur eine von vielen.
Diese Diplomaten bemängeln, dass sich die UNO zu stark auf NGO und geflüchtete Eritreer stütze – einseitige und unzuverlässige Quellen aus ihrer Sicht.Es gibt keine unabhängigen Informationen über Eritrea. Das gab es noch nie. Natürlich haben auch Hilfsorganisationen und Migranten ihre eigene Perspektive und verfolgen eigene Interessen. Darum gilt es, deren Darstellung genauso zu relativieren wie jene der Diplomaten, keine Frage. Entscheidend ist, dass alles in die Wissensbasis einfliesst.
Aber dann beginnt doch die Interpretation.Um die Situation in Eritrea seriös und umfassend beurteilen zu können, müssen sämtliche relevanten Akteure berücksichtigt und alle erhältlichen Informationen gesammelt, kritisch geprüft und gegeneinander abgewogen werden. Der UNO-Menschenrechtsrat garantiert diese Diversität der Quellen und bietet zweifellos das verlässlichste Berichtssystem für deren Auswertung und Analyse. Ich vertraue jedenfalls den UNO-Institutionen weit mehr als allein den Hilfsorganisationen oder nur den diplomatischen Quellen.
Trotzdem wird die UNO-Lageanalyse für Eritrea zunehmend hinterfragt – warum?Ganz einfach: Weil aus Sicht der Europäer zu viele Eritreer kommen. Es geht um Abschreckung, um die Botschaft an Eritreer: Ihr habt bei uns nicht automatisch Anrecht auf Schutz...
... das ist ein Totschlägerargument gegen jede Form des Zweifels.Ich sage ja nicht, man solle die Zweifel nicht ernst nehmen – im Gegenteil: Die Fakten müssen immer wieder daraufhin geprüft werden, ob die Zweifel berechtigt sind. Aber wir sprechen hier von individuellen Menschenrechten. Da genügen Zweifel nicht für eine Praxisänderung.
Sondern?Wenn in den UNO-Institutionen Konsens herrscht, dass die berichteten Bedrohungen als ernsthaft einzustufen sind und Eritrea immer noch zu gefährlich ist für Rückkehrer, dann sollte das die gemeinsame Position der Staatengemeinschaft sein – bis belastbare Beweise für das Gegenteil vorliegen. Der Rechtsstaat kann seine Asyl- und Migrationspolitik doch nicht auf Zweifeln aufbauen. Sondern umgekehrt: Gibt es Zweifel, ob Menschen Schutz nötig haben oder nicht, dann hat der Schutz Vorrang.
Ein Grossteil der afrikanischen Migranten sind indes keine politischen Flüchtlinge, sondern sogenannte Armuts- oder Wirtschaftsmigranten.Aber für diese Menschen geht es genauso ums Überleben. Und auch sie brauchen einen gewissen Schutz, wenn auch nicht den gleichen wie politische Flüchtlinge.
Fehlt der Politik dazu nicht der Spielraum angesichts des anhaltenden Zustroms aus Afrika?Den hätte sie schon. Aber Migrationspolitik wird überall in Europa von Nichtmigranten gemacht, die keine Ahnung haben, was Migration bedeutet. Migrationspolitik wird nicht mit oder für Migranten gemacht, sondern ausschliesslich für die eigene Bevölkerung.
Eine unbeschränkte Willkommenskultur ist doch auch keine Lösung.Ich will damit nur erklären, warum es in diesem Politikfeld keinerlei Entwicklung gibt. Man dreht sich im Kreis – auch weil Mainstream-Politiker den Rechtspopulisten das Feld überlassen. Sie haben Angst, von den Wählern abgestraft zu werden, wenn sie die positiven Aspekte der Immigration thematisieren. Lieber hausieren sie weiter mit der lächerlichen Vorstellung, die Migration lasse sich stoppen. Dabei zeigt die Erfahrung seit Jahrzehnten, dass das eine Illusion ist. Die Migration lässt sich nur kontrollieren. Die Frage ist bloss, ob die Politik die Kontrolle selbst in die Hand nimmt oder ob sie diese den Schleppern überlässt.
Taugt dazu die neue Afrika-Politik der EU, bei der auch die Schweiz mitmacht?Nein, denn dabei geht es nicht um kontrollierte Migration, sondern um deren Abwehr. Die EU begeht denselben Irrsinn wie seit 30 Jahren: Sie verstärkt den Grenzschutz und versucht, Fluchtrouten zu schliessen – jetzt nicht erst an den EU-Aussengrenzen, sondern bereits in Afrika. Sie investiert weiter Milliarden in die Grenzsicherung und kooperiert dafür auch mit afrikanischen Regierungen, damit diese die Migranten stoppen. Wie das geschieht, wissen wir nicht – und wir wollen es auch lieber gar nicht so genau wissen.
Sie meinen die Kooperation mit Diktatoren in Eritrea oder dem Sudan?Nicht nur. Nehmen Sie etwa die Zusammenarbeit mit Libyen. Da verhandelt die EU mit einer Regierung, die mitten im Chaos noch um ihre Macht kämpft und nächste Woche schon wieder weg vom Fenster sein könnte. Diese bekommt Geld, das überallhin fliessen kann, ohne dass es die EU kontrollieren könnte. Die Lage im Land ist völlig instabil. Libyen ist punkto Menschenrechte ein Höllenloch. Man kann nicht einfach anfangen, Flüchtlinge dorthin zurückzuschicken, und sagen, wir setzen uns für bessere Bedingungen in den Lagern ein, wenn man zugleich weiss, dass diese Bedingungen aktuell völlig inakzeptabel sind. Aber genau das hat die EU vor.
Was schlagen Sie denn als Alternative vor?Die Flüchtlingskrise offenbart das Scheitern der bisherigen Politik. Wir müssen umdenken und endlich anders handeln, wenn wir andere Ergebnisse wollen: Statt weiter Unsummen für Abwehr und Grenzsicherung zu verschleudern, sollten wir jetzt über die Möglichkeiten für eine kontrollierte Mobilität und legale Migrationskanäle nachdenken. Statt die Tür mit aller Kraft zuzudrücken, sollten wir sie ein wenig öffnen.
Was heisst das konkret?Nur ein Beispiel: Europa – oder der Norden generell – könnte jährlich Kontingente für befristete Visa vergeben. Afrikaner bezahlen in der jeweiligen Botschaft dafür, reisen legal ein und können hier Arbeit suchen. Haben sie eine, bekommen sie eine Aufenthaltsbewilligung.
Und wenn sie keine finden?Dann müssen sie ausreisen, dürfen aber im Jahr darauf wieder kommen. Das schafft den Anreiz, in der Legalität zu bleiben. So wissen die Behörden, wer kommt, wie viele es sind, und sie können vorher prüfen, ob die Migranten ein Sicherheitsrisiko darstellen. Die begrenzte legale Migration wäre kontrollier- und steuerbar. Wer in diesem Jahr kein Visum erhält, kommt auf die Warteliste für das nächste Jahr. Ich bin überzeugt: Sehr viele Migranten würden auf ihre legale Chance warten und nicht mehr für viel Geld auf gut Glück ihr Leben riskieren. Den Schleppern würde das Geschäft entzogen und in Europa der illegale Arbeitsmarkt etwa in der Landwirtschaft, im Bau oder in der Gastronomie ausgetrocknet.
Das klingt wie eine Utopie aus dem Elfenbeinturm. Faktisch würde der Ansturm auf Europa doch noch grösser.Dieses Bild der bedrohlichen Masse, der Einwand, dass Europa von Migranten geflutet würde, kommt immer. Es ist der Vorwand der Politik, um nichts ändern zu müssen. Doch die Wahrnehmung, dass alle Afrikaner nach Europa wollen, ist falsch. Die Zahlen belegen, dass es nur ein Bruchteil ist und die überwiegende Mehrheit innerhalb Afrikas wandert. Was stimmt: Wenn wir heute die Tür sofort einfach aufmachen würden, dann kämen kurzfristig wohl tatsächlich sehr viele – einfach weil derzeit so viele an den Grenzen warten. Aber was ich vorschlage, kann ja nicht von heute auf morgen realisiert werden. Ich rede von einem Zeithorizont von zwanzig Jahren.
Die europäische Wahrnehmung mag falsch sein, dennoch prägt sie die Politik. Was lässt Sie glauben, dass sich das ändert?In naher Zukunft wird das kaum geschehen, da gebe ich Ihnen recht. Schon gar nicht, wenn die Rechtspopulisten noch stärker zulegen – in Frankreich, Holland, Deutschland, Grossbritannien, Dänemark. Ich setze aber grosse Hoffnung auf die Generation der heute Zwanzig- bis Vierzigjährigen, die in den nächsten zwanzig Jahren an politische Macht kommen werden. Sie haben ein ganz anderes Verständnis von Migration, Mobilität und Diversität als jene, die heute regieren. Sie werden das haben, was den Politikern heute völlig abgeht: die Einsicht und den Willen, Migration neu zu denken und neue Ansätze auch tatsächlich umzusetzen.
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