Mit Downsyndrom zur SchuleMia lernt auch viel, indem sie nur zuschaut
Damit die Integration von Kindern mit einer Behinderung gelingt, braucht es viel Offenheit der Schule. Dann kann es eine «dankbare Arbeit» sein.

Über die Ostertage publizieren wir aufsehenerregende Texte der letzten Monate nochmals. Dieser Artikel erschien erstmals am 20. März 2023.
Nach der grossen Pause braucht Mia* länger als die anderen Kinder, bis sie ihre Schuhe aus- und die Finken angezogen hat. Die Klasse wartet mit ihrer Lehrerin, ohne zu murren, und begrüsst, sobald Mia an ihrem Pultchen sitzt, die dazugestossene Heilpädagogin Brigitte Frank im Chor.
Mia hat das Downsyndrom und besucht an der Volksschule in Oberdiessbach die zweite Klasse. Auch ihre Sehkraft ist eingeschränkt. Dreimal pro Woche kommt Brigitte Frank an die Schule und arbeitet während je zweier Lektionen mit Mia. Manchmal begleitet die Heilpädagogin das Kind im Unterricht der Klassenlehrerin Christine Schaerer. Manchmal arbeitet sie mit dem Mädchen allein an den angepassten Lern- und Förderzielen. Dafür entwickelt die Heilpädagogin gar eigenes Unterrichtsmaterial.
In der restlichen Zeit nimmt die neunjährige Mia am Unterricht der Klasse teil. Die Lehrerin stellt ihr dann an ihr Können angepasste Aufgaben. Oder sie arbeitet an ihrem eigenen Wochenplan, den die Heilpädagogin vorbereitet hat.
Politik will mehr Separation
Integration in der Volksschule wird derzeit intensiv diskutiert. Obwohl die Integration möglichst aller Kinder seit 2007 im Volksschulgesetz steht, laufen derzeit in den Kantonen Bern, Zürich und Basel-Stadt Bestrebungen, Kinder vermehrt zu separieren. Am 1. Dezember hat der bernische Grosse Rat verlangt, dass der Kanton wieder Kleinklassen fördere und die integrative Schulbildung «kritisch evaluiere».
Der Motionär Hans-Peter Kohler (FDP) sagt, er wolle auf diesem Weg «wieder Ruhe in die Klassen bringen». Kohler sieht die integrative Schulbildung als Ursache für den Lehrpersonenmangel. Aufgrund von heterogenen Klassen benötige die Schule immer mehr Logopäden, Schulsozialarbeiterinnen und Heilpädagogen, die in der Klasse ein und aus gingen. Kohler glaubt, die Rückkehr zu möglichst leistungshomogenen Schulklassen würde Lehrer und Lehrerinnen dazu bewegen, in höheren Pensen zu arbeiten. Dies wiederum soll den Fachkräftemangel in der Schule zumindest deutlich lindern.
Der Entscheid des Grossen Rats löst bei Eltern von geistig behinderten Kindern und ihren Interessenverbänden Ängste aus. Sie werfen Kohler und dem Grossen Rat falsche Schuldzuweisungen und Scheinlösungen vor. Sie befürchten, dass ihre Kinder die Ersten seien, die «aussortiert» würden, obwohl die Unruhe von anderen Kindern verursacht werde, etwa den Bewegungsbedürftigen, den Verträumten oder den «Frechdachsen».
Betrifft Kinder wie Mia vorerst nicht
Die Heilpädagogin Brigitte Frank weist zwar darauf hin, dass Kinder wie Mia mit einem besonderen Bildungsbedarf nicht in die von Kohler geforderten Kleinklassen kämen. Denn die Kleinklassen (KbF) seien eher für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungs-, Lern- oder Verhaltensauffälligkeiten gedacht, die nach einer gewissen Zeit wieder in die Regelschule integriert werden sollten.
«Es geht grundsätzlich um Werte und Haltungen gegenüber der Integration.»
Würden hingegen Kinder mit einer dauerhaften Beeinträchtigung in eine Regelklasse integriert, so überprüfe die Erziehungsberatung die Entwicklung des integrierten Kindes alle zwei Jahre. Fühle sich das Kind in der Regelschule nicht mehr wohl, mache es keine Fortschritte oder könne es dort aus anderen Gründen nicht mehr integriert werden, werde ein passenderes Bildungsumfeld für das Kind gesucht, zum Beispiel eine heilpädagogische Schule. «Aber es geht grundsätzlich um Werte und Haltungen gegenüber der Integration», sagt Brigitte Frank. Das Wiedereröffnen von Kleinklassen sei nicht nur ein erster Schritt zurück zur Separation, sondern stehe im Widerspruch zum kantonalen und nationalen Gesetz.
Gemäss dem jüngsten Bildungsbericht hat Bern im interkantonalen Vergleich nach Nidwalden und Basel-Stadt eine der höchsten Integrationsquoten. Rund 62 Prozent der Kinder, die verstärkte sonderpädagogische Massnahmen erhalten, besuchen eine Regelklasse. Zu diesen Kindern gehören sowohl Kinder mit einer kognitiven Einschränkung als auch solche mit einer Körper- oder Sinnesbehinderung. Die verstärkten sonderpädagogischen Massnahmen werden von der Erziehungsberatung aufgrund einer diagnostizierten Behinderung zugeteilt und vom Kanton finanziert.
Angewiesen auf die Bereitschaft der Schule
Die Angst der Eltern vor dem Schritt Richtung mehr Separation dürfte nicht völlig unbegründet sein. Auf der Suche nach einem Kind mit Trisomie 21 für diesen Artikel erzählen mehrere Eltern von schwierigen Erlebnissen und möchten sich nicht exponieren. Sie fürchten, die Integration des eigenen Kindes zu gefährden. Denn diese kann jederzeit aufgelöst werden, wie etwa der Fall der Instagram-Bloggerin Nadine Maibach und ihrer Tochter Larina zeigt. Vor allem hängt die Integration eines Kindes stark von der Bereitschaft und vom Engagement der Lehrperson ab. Christine Schaerer bestätigt das: «Mia war im Kindergarten bereits sehr gut in ihre Klasse integriert, und ich war offen, es zu wagen.»
Nach der grossen Pause setzt sie sich ans Klavier und beginnt den Unterricht mit einem Lied. 19 Kinder und die Lehrerin singen klar und melodiös. Es klingt gut. Mia hört interessiert zu. Gegen Ende des Liedes singt sie ein paar Zeilen mit. «Ich musste erst lernen, dass es okay ist, wenn Mia nicht bei allem wie die anderen mitmacht, sondern einfach nur zuhört», erklärt Christine Schaerer.
«Mia ist ein pflegeleichtes Kind, das den Unterricht nicht stört, und die Klasse ist sehr aufgeschlossen, aber nicht wild.»
Zu Beginn sei sie als Lehrerin deswegen gestresst gewesen. Dank der Beratung durch die Heilpädagogin habe sie aber erkannt, dass Mia im Rahmen ihrer Möglichkeiten viel lerne, indem sie einfach den anderen Kindern zuschaue. Andererseits sei der Kontakt zu Mia auch für die anderen Kinder eine Bereicherung. «Sie helfen ihr und lernen Verantwortung übernehmen.» Ohnehin sei Mias Sehbehinderung für Kinder viel mehr Thema als ihre kognitive Beeinträchtigung.
Mias Mutter Stefanie Müller* bestätigt das. Sie erzählt, wie ihre Tochter an Kindergeburtstage eingeladen wird, im Quartier mit den Nachbarskindern spielt und sogar Freundschaften mit Gleichaltrigen hat. Unter anderem deshalb ist sie froh, dass ihre älteste Tochter trotz Downsyndrom die Schule im Dorf besuchen kann. Doch auch Stefanie Müller weiss, dass viel von der Offenheit der Lehrpersonen und der Schulleitung abhängt. «Sie leisten viel mehr, als sie müssten.»
Wenn alle helfen, geht es
Christine Schaerer relativiert. Sie werde von der Heilpädagogin, der Schulleitung, aber auch von Kolleginnen und Schulkindern so gut unterstützt, dass sich der Mehraufwand in Grenzen halte. Ganz verneinen will sie ihn aber nicht.
Die Integration funktioniere deshalb gut, weil alles stimme: «Mia ist ein pflegeleichtes Kind, das den Unterricht nicht stört, und die Klasse ist sehr aufgeschlossen, aber nicht wild.» Ob das auch in Zukunft so sei, werde sich zeigen. Für die nächsten beiden Schuljahre sind die Pläne aber bereits gemacht. Die Lehrpersonen der dritten und der vierten Klasse sind bereit, Mia weiterhin zu integrieren.

Brigitte Frank wird das Mädchen im neuen Schulhaus begleiten. «Sie zu unterrichten und ihre Fortschritte zu erleben, ist eine sehr dankbare Arbeit», sagt die Heilpädagogin. Christine Schaerer nickt. Es ist offensichtlich, dass die beiden Frauen Mia in ihr Herz geschlossen haben.
* Aus Rücksicht auf die Privatsphäre des Kindes sind sein Name und der der Mutter geändert. Als Stellvertreter wurden die häufigsten Namen des jeweiligen Jahrgangs gewählt.
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