Seile aus PlastikmüllMeister und das Meer
Was einst im Meer schwamm, wird in Rüegsau zu Seilen, Schnüren und Kordeln geflochten und verarbeitet.

Es ist einen halben Zentimeter dick, mehrere Meter lang und schimmert grau-silbern: ein Allzweckseil. Stattdessen könnten ungefähr zehn grosse PET-Flaschen auf dem Tisch liegen. Respektive sie würden noch immer im Meer schwimmen, wäre da nicht die Meister & Cie. AG.
Nachdem der Geschäftsführer Marcel Meister die Seile auf dem Tisch ausgelegt hat, macht er sich einen Espresso. Zwischen zwei Schlucken sagt er: «Es ist Überzeugung.» Es sei Überzeugung, dass er nach einer Firma suchte, die Plastik, spezifischer Polyester, aus dem Meer fischt. Es sei Überzeugung, dass er mit einer Schweizer Spinnerei ein Garn daraus entwickelte. Es sei Überzeugung, dass er mit seiner Firma neue Seile auf den Markt bringt, die nachhaltiger sind als alle anderen. Es sei Überzeugung, dass er bis anhin vor allem investierte, anstatt finanziell zu profitieren.

«Wir zeigen mit dem Finger auf andere»
Schon nach wenigen Gesprächsminuten an der Lützelflühstrasse in Rüegsau ist klar: Marcel Meister will nachhaltiger produzieren. «Wir zeigen mit dem Finger auf andere, doch die anderen produzieren für uns.» Die Europäer und Europäerinnen würden die dreckige Industrie, wie beispielsweise die Kleidungsherstellung, in andere Länder verschieben. «Umweltfreundlicher sind wir deswegen nicht.»
Dass es so nicht weitergehen könne, sei ihm schon länger klar. Was hat dazu geführt, dass sich Meister fürs Klima einsetzt? «Das, was ich sehe.» Auf Reisen und im Alltag habe er festgestellt, dass unsere Art zu wirtschaften die natürlichen Ressourcen aufbrauche und wir die Erde zumüllen würden. Deshalb seine Idee: ein Seil aus Müll.
Schwimmendes Rohmaterial
«Das Seil besteht aus Plastik, ein hochwertiger Rohstoff, der gratis im Meer schwimmt», so Meister. «Man muss das Material nur nehmen.» Statt dass Meerestiere das hochwertige Rohmaterial fressen und daran zugrunde gehen, machen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Meister & Cie. AG Seile daraus. «Upcycling» heisst der Vorgang, wenn nutzloser Abfall in ein neues, hochwertiges Produkt umgewandelt wird.
Schön und gut, aber ist das sogenannte «Ocean Yarn» nicht ein weiteres fancy klingendes, grünes Projekt, hinter dem vor allem Marketing steckt? Wie Meister über den Klimawandel spricht, macht den Eindruck, als sei es ihm ernst.
«Im Rahmen der Firma machen wir unser Möglichstes», so der CEO, der das Unternehmen in der sechsten Generation führt. Beispielsweise heizt das Familienunternehmen das Produktionsgebäude mittels dreier Wärmepumpen. Das Verwaltungsgebäude, in welchem sich Meister während dieses Gesprächs aufhält, wird mit Holzpellets geheizt.
Die Firma ist klimaneutral und verwendet ausschliesslich Ökostrom. Seit über 150 Jahren stellt die Meister & Cie. AG Seile her. Die Produktion habe sich in den letzten Jahren entwickelt und sei umweltschonender geworden, so Meister. Insgesamt besteht das Sortiment aus über 1000 Produkten.
Das Sortiment wird durch viele Handelswaren ergänzt, die in der Schweiz nicht mehr hergestellt werden. Jedes zweite Schweizer Seil, das in Baumärkten oder im Fachhandel verkauft wird, kommt aus dem Emmental.
Zusammenarbeit mit Schweizer Firmen
Im Gegensatz zum herkömmlichen Garn stammt das «Ocean Yarn» aus der Andamanensee in Südostasien. Dort an den Stränden sammeln Fischer Shampooflaschen, Trinkflaschen und weitere Kunststoffbehälter aller Art. «Ich war noch nie dort, aber ein Besuch steht noch an», sagt Meister. Aufgrund der Pandemie habe er eine Reise unterlassen.
Der gesammelte Müll wird geputzt und als Rohmaterial in Containern in die Schweiz verschifft. Dahinter steckt die Schweizer Firma Ocean Tide. «Vor ein paar Jahren hätte ich hierzulande keine Partner gefunden, um Seile aus Plastikmüll herzustellen», sagt Meister. Das Granulat wird dann in Zusammenarbeit mit einem Schweizer Partner hierzulande geprüft und hergestellt.
Aus dem Granulat macht eine Schweizer Spinnerei chemische Fasern und spinnt diese schliesslich zu Garn. «Wir tüftelten lange an einem Garn, das die hohen Anforderungen unserer Firma erfüllt», so Meister. Für Seile und ähnliche geflochtene Produkte brauche es Garn von einer gewissen Qualität.
Kordeln und Gummizüge
Er zeigt uns in der Lagerhalle etliche Tonnen Garnspulen, die – vielleicht in Form einer Rivella-Flasche – von der Schweiz an einen Strand, vom Strand ins Meer, mit der Strömung nach Südostasien und wieder zurück ins Emmental gereist ist. An Maschinen in der Fabrik wird das Garn zu Seilen gezwirnt und geflochten. «Ungefähr vier Tage dauert es, bis ich ein fertiges Seil in der Hand halte», weiss Beatrice Gäggeler, die in der Produktion arbeitet.
Seit wenigen Tagen können «Ocean Yarn»-Seile, Kordeln, Schnur oder Gummiseile bei verschiedenen Vertriebspartnern eingekauft werden. Meister bestätigt, dass auch Migros, Jumbo sowie Keller Fahnen und Brack.ch wie auch weitere bekannte Namen die Seile ins Sortiment aufnehmen. Zudem habe er Anfragen von weiteren Detailhändlern und aus der Industrie, welche beispielsweise die Seile für Taschen verwenden möchten. «Das zeigt mir, der Markt ist bereit für nachhaltige Produkte.»
Kreis schliesst sich noch nicht
Jedoch ist der Produktionskreislauf damit nicht geschlossen. Wer mit einem Seil etwas befestigt, wirft es wohl nach einiger Zeit und Abnutzung in den Abfall. Abfall, der wieder im Meer schwimmt?
«Es ist unser langfristiges Ziel, dass die gebrauchten Produkte wieder zu uns zurückkommen und wir sie erneut verarbeiten», sagt Meister. «Irgendwann.» So weit sei man noch nicht. Erst dann könnte man von einer sogenannten Kreislaufwirtschaft reden, in der Materialien möglichst lange wiederverwendet werden.
Am Ende entscheidet der Kunde, wo ein gebrauchtes Seil landet. Das ist aber noch in weiter Zukunft. Vorerst entscheiden die Käuferin und der Käufer, ob sie oder er bereit ist, für ein nachhaltiges Produkt den entsprechenden Mehrpreis zu bezahlen. Beispielsweise fast neun Franken für eine «Ocean Yarn»-Schnur anstatt weniger als zwei Franken für Schur aus Plastik, welches nicht aus dem Meer gefischt wurde.
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