Manche wollen ankommen, andere abhauen
Um «Orte der Utopie» ging es an den Eventi Letterari Monte Verità in Ascona. Autoren aus ganz Europa dachten über visionäre Ideen nach.

Ist die Utopie eher örtlich oder zeitlich zu bestimmen? Für den Astronauten und Schriftsteller Umberto Guidoni gibt es keinen Zweifel daran, dass die Utopie im Weltall zu finden ist. «Was die Ozeane in der Vergangenheit für uns waren, das ist der Orbit für die Gegenwart.» Unsere Zukunft liege im All, wir müssten uns bloss dessen Herausforderungen stellen, meint Guidoni, der als erster Europäer auf der ISS-Raumstation war. Er sei zu jung gewesen, um auf den Mond zu fliegen, nun sei er zu alt, um an der Erkundung des Mars teilzunehmen. Komme es auf dem Planeten zu Ansiedlungen, was er nicht ausschliesse, werde die alte von einer neuen Utopie abgelöst.
Anders sieht es der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr, für den die Utopie nicht im Raum, sondern nur in der Zeit, und zwar in der Zukunft, existiert: «Die Idee muss unvollendet bleiben, sie darf nie ganz real werden, da sich sonst das utopische Potenzial auflöst. Eine reale Utopie ist ein Widerspruch in sich selbst.» Die Suche nach dem Paradies, wofür auch der Monte Verità stehe, richte sich an ein «Noch nicht»: Wenn der nie gesättigte Möglichkeitssinn auf das Faktische treffe, stelle sich die Frage, wie praktikabel die Verbindungen zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen seien. Aber an der Uneinholbarkeit der Utopie könne, so Christoph Ransmayr, keine ihrer Umsetzungen etwas ändern.
Schrecken der Vollendung
Wie schrecklich sich politische Utopien, die realisiert wurden, bis heute auswirken, davon wusste die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch eindrücklich zu berichten an den hochkarätig besetzten fünften Eventi Letterari Monte Verità. Mit einem nüchternen, ja fast verächtlichen Blick auf die glorreichen Verheissungen erzählte sie von den Schicksalen, welche der Kommunismus zu verantworten hat. «Mit den Augen der Menschenforscherin», so der Titel ihrer Lesung, blickt die Schriftstellerin aus Minsk auf die Individuen und schreibt über deren Leben – und nicht über Utopien und abstrakte Begriffe wie «Gerechtigkeit», «Gleichheit» und dergleichen. Auch wenn Swetlana Alexijewitsch es heute für zu spät hält, die Verbrechen während der Sowjetzeit zu sühnen, sieht sie dennoch Hoffnung in den «hübschen jungen Frauen und Männern», die heute mutig gegen die Allmacht Putins protestieren. So gab die Schriftstellerin, deren Bücher in ihrer Heimat verboten sind, auch zu erkennen, dass sie trotz der Düsternis der Ereignisse an Fortschritt glaubt.
Neben vergangenen und künftigen Utopien wurde an den vier Tagen auch über konkrete Sehnsüchte gesprochen: Für die jungen Autoren Olga Grjasnowa, Ales Steger und Alessandro Leogrande, die sich in ihren neuen Werken mit der Flüchtlingsthematik beschäftigen, ist die Utopie für Menschen auf der Flucht kein abstraktes Gut: Es ist der Kontinent nördlich des Mittelmeers, den viele nie erreichen werden. Die drei Schriftsteller sprachen von der existenziellen Utopie des Ankommens.
Einen Kontrapunkt dazu setzt der neue Roman «Weit über das Land» von Peter Stamm. Der Protagonist ist so sehr in der schweizerischen Wirklichkeit mit all ihren Zwängen angekommen, dass er nur noch eines will: ausbrechen aus dem Alltag. Die Utopie des Abtauchens, die in der Schweizer Literatur verbreitet ist, zeigt, dass Visionen eines besseren Lebens stets vor einem gesellschaftlichen und historischen Hintergrund entstehen – auch das wurde in Ascona deutlich.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch