FortsetzungsromanLesen Sie die Folge 1 – 29 von «Das Licht hinter den Bergen»
Der Berner Autor Thomas Röthlisberger erzählt in seinem meisterhaften Roman von einer schicksalhaften Begegnung.

Folge 1
«In der Nacht sind alle Augen groß und weit offen, sie sind dunkel bis an die Ränder hinaus.»
«Die Welt gerät aus den Fugen», hatte er in der letzten Unterrichtsstunde am Nachmittag gesagt, bevor er die Schüler nach Hause entliess.
Sie hatten ihn wahrscheinlich nicht verstanden. Von den älteren vielleicht der eine, die andere. Aber die jüngeren hatten den merkwürdigen Satz sicher bereits vergessen, als sie über die Schwelle hinaus in den warmen Herbsttag rannten, in die Sonne, die nun von Woche zu Woche früher hinter den Bergen verschwinden würde. Er stand am offenen Fenster und blickte über den leeren Schulhof. Risse zogen sich durch den asphaltierten Platz. Das Gras unter den drei Lärchen war gelb und trocken. Von einem hohen Maschenzaun umgeben, stiessen die Kletterstangen, leicht krumm, wie rostige Spargel aus dem Sand.
Weiter unten hockten die Häuser des Dorfes, Dach an Dach, als tuschelten sie miteinander. Aus dem Grund des Tals stiegen die Schatten. Sie kletterten rasch an den gegenüberliegenden Bergwänden hoch und schwärzten sie ein. Das war der Augenblick, auf den er immer wartete, der unausweichlich kam: Wenn Licht und Dunkel das Tal in zwei Teile schieden. Wenn unten das Dorf bereits im Schatten versank, während hier oben die Fenster noch in den letzten Sonnenstrahlen aufblitzten.
Er griff in der Kitteltasche nach den Zigaretten. Nur noch drei Stück steckten in der zerknitterten Packung. Er klaubte eine heraus, wölbte die Lippen um den Filter wie eine Liebkosung und hielt das angerissene Streichholz an das Papier. Tief sog er den Rauch ein, als traute er ihm eine reinigende Wirkung zu. Die Kirche, die etwas östlich vom Dorf auf einer kleinen Kuppe lag, stand bezüglich Abendsonne stets in Konkurrenz zum Schulhaus. Auch heute würde die zwiebelförmige Spitze noch blinken, wenn hier schon alles grau war.
Wieder blickte er hinunter auf das Dorf, wo sich die Einzelheiten zu verwischen begannen. Die steinernen Dächer waren kaum mehr von den mit Blech bedeckten zu unterscheiden. Die engen Gassen gerannen zu schwarzen Linien. Es schien, als rückten die Häuser für die Nacht zusammen.
Am Vorabend war er unten in der Dorfwirtschaft gewesen. Er ging jetzt häufiger ins «Crusch Alba». Er wollte hören, was die anderen sagten. Er wollte reden können mit jemand. Als er eingetreten war, hatten ihm Dunst und Rauch entgegengeschlagen. Verschwommen hingen die Gesichter darin, und die Unterhaltung, die früher laut und polternd sein konnte, war zu einem eintönigen Gemurmel geschrumpft. Er sah sich nach einem freien Platz um. Chasper Bisaz winkte ihm. Er nickte grüßend nach rechts und nach links, als er zwischen den Tischen nach hinten ging, wo die anderen neben Bisaz ihre Stühle zusammenrückten, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen. Er setzte sich.
Polen war gefallen. Innert weniger Tage. Die Welt geriet aus den Fugen.
«Polen ist weit weg», sagte Bisaz. «Madlaina, bring dem Lehrer einen Zweier Veltliner!»
«Man muss sich von innen wärmen, wenn’s draußen kälter wird», fügte er hinzu und klopfte ihm auf die Schulter.
Er versuchte, Chasper Bisaz in die Augen zu schauen, aber unter den buschigen Brauen war nicht auszumachen, ob der Blick tatsächlich den Worten entsprach.
Als Madlaina den Wein brachte, stieß er mit Bisaz an, dann auch mit Jon Conrad und Peider Capaul, die am selben Tisch saßen. Er blickte auf die ausgestopften Tiere auf dem Wandregal, einen Raubvogel, ein Eichhörnchen, zwei Murmeltiere, die ihrerseits mit glasigen Augen die Männerrunde zu beobachten schienen.
«Und?», fragte ihn Conrad, nachdem er eine Weile stumm dagesessen und zugehört hatte.
«Der Piz Malört hat schon eine weiße Kappe», sagte er. Er hatte etwas Unverfängliches sagen wollen. Etwas, was die Rückkehr des Gesprächs zu den gewohnten kleinen Geschäften des Tals, des Dorfes ermöglichen würde. Er hätte auch sagen können, die Katze des Pfarrers sei ein roter Teufel. Das eine so selbstverständlich und wahr wie das andere.
«Ja», meinte Conrad nur, «das gibt einen harten Winter.» «Für andere wird er härter sein», brummte Bisaz.
«Wie bringst du das eigentlich den Schülern bei?», wollte Capaul wissen.
«Was denn?»
«Das mit dem Krieg.»
Anton hatte nur die Schultern gehoben. Die Welt gerät aus den Fugen.
So hilflos hast du dich ausgedrückt, Anton Marxer, dachte er. Er fröstelte. Die Sonne hielt sich mit letzter Kraft an den zerrissenen Zacken des Grats. Die Wärme war dem Licht vorausgeeilt ins nächste Tal. Er drückte den Zigarettenstummel zu den anderen in den Blumentopf auf dem Steinsims. Dann schloss er das Fenster. Er ging durch die Pultreihen, rückte Stühle zurecht, schob halb offene Tintenfässer zu, öffnete hier und da einen Pultdeckel. Er tat es mechanisch, wie jeden Tag.
Alles musste seine Ordnung haben, bevor er sich an den Schreibtisch setzen konnte, der auf einem niedrigen Holzpodest stand, als wäre es der Führerstand eines seltsamen Gefährts.
Folge 2
Einen Augenblick stand er still da und blickte hinunter auf die Schulbänke, die jetzt leer und aufgeräumt waren. Morgen würden hier wieder all die ungewaschenen, mit Rotz verschmierten Gesichter dumpf vor sich hinbrüten, so dass er mit dem Stock auf den Tisch schlagen müsste, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
Er stand auf der Kommandobrücke. Er war Steuermann und Kapitän in einer Person. Von ihm erwartete man, dass er das Schiff sicher durch Stromschnellen und Untiefen führte. Ausgerechnet von ihm.
«Wie bringst du das eigentlich den Schülern bei? Das mit dem Krieg», hatte Peider Capaul wissen wollen.
Es war die Frage, die allen auf der Zunge lag. Jeder hätte sie stellen können. Nun hatte es Peider Capaul getan. Für alle anderen. Und er, Anton Marxer, der Lehrer, sollte die Antwort darauf haben.
Er liess sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch sinken. Das Licht floh aus dem Raum, die Scheiben dunkelten ein. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und stiess an den Stock, der polternd zu Boden fiel.
Ordnung ins Chaos bringen. Das war seine Aufgabe. Dazu war er da. Er schaltete die Tischlampe ein und begann, Hefte und Papiere zu sortieren. Die Ernte des Tages, wie er zu den Schülern zu sagen pflegte. «Gestern war die Ernte des Tages ihren Namen nicht wert», sagte er jeweils. Oder: «Heute wollen wir aber wieder einmal eine schöne Ernte einfahren.»
Schönredner! Als ob man von Worten satt werden könnte.
«Nein, man wird nicht satt vom Wort», hätte Barbla gesagt, früher, als sie ihre Sprache noch besass. «Aber es ist lebenswichtig.» Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Die Müdigkeit stand plötzlich vor ihm wie eine undurchdringliche Nebelwand. Er erhob sich, etwas unsicher. Als er die Tischlampe löschte, mussten sich seine Augen erst an die Dämmerung gewöhnen. Vorsichtig stieg er vom Podest, suchte nach dem Stock und legte ihn auf die Ablage unter der Wandtafel. Nach einem letzten prüfenden Blick verliess er das Schulzimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Im Flur, der nur zwei schmale Fenster zur Hangseite hatte, war es noch dunkler. Er tastete nach dem Schalter, machte Licht und schloss die Haustür ab. Am Treppenaufgang fasste er nach dem Handlauf. Das glatt polierte Holz über dem Metallgeländer fühlte sich kühl an. Er zögerte einen Augenblick, bevor er den Fuss auf die erste der einundzwanzig steinernen Stufen setzte.
«Barbla, ich bin’s!», rief er, als er die Wohnung im oberen Stock betrat. Überall brannte Licht. Er hatte längst aufgehört, ihr die teure Stromrechnung vorzuhalten. «Das Gesichtsfeld Ihrer Frau ist eingeschränkt», hatte der Arzt erklärt. «Ihre Wahrnehmung ist nicht mit der unseren zu vergleichen.»
Vielleicht vergass sie jeweils auch nur, das Licht wieder zu löschen, wenn sie einen Raum verliess. Wie sie so vieles vergass. Er ging in die Stube. Barbla sass am Fenster, im gelben Lichtkegel der Stehlampe, deren ausladender Schirm wie ein schützender Baldachin über ihrem Kopf schwebte.
Im Inneren des Schirms flatterte ein Nachtfalter, der, vom Licht angezogen, immer wieder an die Schirmbespannung stiess. Barbla schien es nicht zu bemerken. Sie sass leicht vornübergebeugt, so dass er nicht sehen konnte, ob sie die Augen geöffnet hatte oder vor sich hindöste. Mit der rechten Hand, der gesunden, hielt sie die linke am Gelenk umklammert. Mit der Innenflä che nach oben gewendet und den starr eingekrümmten Fingern sah diese aus wie die hohle Hand einer Bettlerin.
«Barbla …» Er klopfte mit dem Knöchel an den Türrahmen, um sie nicht zu erschrecken. Erst als sie den Kopf hob, ging er auf sie zu. Er beugte sich zu ihr nieder, legte seine Hände auf die ihren und küsste sie auf die Wange. Barblas Kopf drehte sich in kleinen, ruckartigen Bewegungen von ihm weg, als suchte sie auf der falschen Seite nach ihm. Als sie sein Spiegelbild im dunklen Fenster erkannte, erschien ein angedeutetes Lächeln auf ihrem Gesicht.
«Jetzt bin ich da», sagte er und richtete sich auf. «Wie war dein Tag? So lang wie der meine, nicht wahr? Gehen wir in die Küche? Das Abendessen kochen?»
Er sah, dass sie nickte. Sie versuchte aufzustehen, sank aber kraftlos in den Sessel zurück. Er trat nahe vor sie hin und hob sie hoch. Sie war so leicht geworden.
«Füsse auf den Boden!», befahl er, weil sie den schwebenden Zustand beibehalten wollte.
Wieder drehte sich ihr Kopf von ihm weg. Er achtete darauf, dass sie richtig stand, und langte nach ihrem schwarzen Gehstock, der am Fensterbrett lehnte. Als sie den Holzgriff in der Hand spürte, stiess sie den Stock zwei-, dreimal auf den Boden. Das war ihr Signal zum Aufbruch.
«Dann lichten wir die Anker», sagte er.
Sie umschifften das Kap des Esstischs, hielten Abstand zu den Klippen der Sessel und passierten ohne grosse Schwierigkeiten die Hafeneinfahrt zur Küche. Ihre tägliche kleine Weltumsegelung. Die kurzen Strecken waren lang geworden, das gedrosselte Tempo liess keine schnellen Manöver zu. Er war froh, wenn alles nach Plan verlief, ohne Zwischenfälle, wenn kein Sturm aufkam, kein Mast brach, die Mannschaft nicht meuterte.
Barbla schaffte es allein auf den Küchenstuhl. Er setzte Wasser auf. Dann öffnete er die schmale Tür zur Vorratskammer und holte die Schüssel mit den restlichen Pizokel vom Vortag. Er liess wenig Fett in der Bratpfanne heiss werden. Als es in der Pfanne zu brutzeln begann, kippte er den Inhalt der Schüssel hinein.
Folge 3
Er schaute nach der Glut im Holzofen, der neben dem Kochherd stand und mit dem die Wohnung beheizt wurde. Er hatte am Mittag einige Scheiter nachgelegt, die inzwischen längst zu Asche zerbröselt waren. Dennoch war es hier oben deutlich wärmer als unten im Schulzimmer. Er fachte das Feuer noch einmal an, damit die Räume über Nacht nicht ganz erkalteten.
Früher hatte er noch gemeint, er müsse jeden Handgriff kommentieren. Müsse ununterbrochen mit Barbla sprechen, sie unterhalten, wenn er endlich aus der Schulstube heraufkam. Bis sie eines Tages den Zeigefinger auf ihre Lippen gelegt hatte. Schweigen zu dürfen, war manchmal eine Erleichterung.
Er erzählte nur noch, was ihm wichtig schien. Von den Schülern. Vom Dorf. Das Weltgeschehen liess er meist unerwähnt. Barbla hörte häufig Radio. Sie wusste sicher genug. Er wollte sie nicht unnötig verängstigen.
Mit der Zeit hatte er gelernt, ihre Laute zu deuten. Für Hunger, Schmerzen, Trauer brauchte es keine Worte. Wenn er wach lag nachts, dachte er oft daran, wie sich all die ungesagten Sätze bei ihr stauten. Dass es wie ein Würgegriff sein musste, der ihr den Atem nahm. Dass sie einmal daran ersticken würde. Er hoffte, dass er nicht recht bekäme. Vielleicht war es nur seine Trauer über all das, was er von ihr nicht mehr zu hören bekam. Die Trauer, die Wut.
Er rührte heftig in der Pfanne. Das Wasser im Topf blubberte. Er füllte das Teesieb mit der Kräutermischung, gab es in den Krug und goss das heisse Wasser darüber. «Dauert nicht mehr lange», sagte er.
Er deckte den Tisch, schaltete die Kochplatte aus und stellte die Pfanne auf einen Untersatz. Bevor er die Teller füllte und Tee einschenkte, schob er Barblas Stuhl näher und band ihr eine grosse Serviette um. Einige Flecken von früheren Mahlzeiten waren darauf zu sehen. Babigna machte die Wäsche höchstens zweimal im Monat. Barbla, nein, sie bemerkte es wohl kaum.
Er setzte sich ihr gegenüber und wartete, bis sie die Gabel neben dem Teller gefunden hatte. Sie fuhr mit den Metallzinken über das Steingut, dass es kratzte. Beim zweiten Versuch gelang es ihr, einen der dickeren Pizokel aufzuspiessen. Sie führte die Gabel langsam zum Mund und fing bedächtig an zu kauen.
Jetzt langte auch er zu. Er war richtig ausgehungert und blickte erst wieder auf, als er den letzten Bissen geschluckt hatte und mit der Zunge zwischen den Zähnen nach Speiseresten suchte. Da erst bemerkte er, dass sie kaum etwas gegessen hatte. Mit der Gabel hatte sie ungewollt alles an den linken Rand ihres Tellers geschoben.
Am Anfang hatte er dieses Verhalten nicht einordnen können. Eine der unzähligen Veränderungen in Barblas Alltag. Der Arzt hatte erklärt, dass Barbla infolge einer Sehstörung mit beiden Augen nur noch den rechts von der Mitte gelegenen Bereich sehen könne. Sie glaubte also, der Teller sei leer. Es half nicht, wenn er sie aufforderte, den Kopf nach links zu drehen. Stets ging ihre Bewegung in die entgegengesetzte Richtung.
Er zog ihren Teller zu sich heran, drehte ihn, so dass die Pizokel nun wieder innerhalb von Barblas Gesichtsfeld lagen, und schob ihn über den Tisch zurück.
«Du musst essen», forderte er sie auf. «Du fliegst mir sonst davon wie eine Flaumfeder.»
Sie blickte verständnislos an ihm vorbei, während ihre Gabel, dem Zufall folgend, wieder durch die Mehlspeise fuhr.
Manchmal half er ihr, setzte sich neben sie, führte ihre Hand. Oder fütterte sie wie einen hilflosen, kleinen Vogel. Meistens aber wehrte sie ihn ab, wollte sich das bisschen Selbständigkeit bewahren, wurde ungehalten. Einmal hatte sie dabei die Teetasse vom Tisch gefegt. Er hatte nicht gewusst, war es Ungeschicklichkeit oder Absicht. Er war aufgestanden, hatte sich gebückt und die Scherben zusammengesucht. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, war ihm Barblas erschrockener Blick aufgefallen.
Den Teller musste er noch ein zweites und ein drittes Mal drehen, bis er leer war. Er hielt Barbla die neue Schnabeltasse mit dem Tee hin. Während sie mit geschlossenen Augen trank, betrachtete er ihr Gesicht. Es war nicht mehr das Gesicht einer knapp Vierzigjährigen. Es war, als hätte es sich in zwei Teile gespalten. In einen gesunden und einen kranken. Als hätte der Blitz eingeschlagen und Verwüstungen hinterlassen. Das eine Auge schien tiefer gesunken zu sein, der Mundwinkel auf derselben Seite zeigte schlapp nach unten, wie wenn daran ein unsichtbares Gewicht hinge. Furchen hatten sich in die Haut eingegraben, Rötungen und Schrunden von unkontrollierbarem Tränenfluss.
Er erinnerte sich an eine Wanderung, die sie vor Jahren an einem warmen Tag Ende August unternommen hatten. Die letzte gemeinsame. Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Weg ins Dorf fanden, waren sie aus dem Haus getreten und das Fahrsträsschen hochgestiegen, das auf die Maiensässe zu den Alphütten führte.
Im Wald war es noch kühl. Auf dem Huflattich am Wegrand lag Tau. Ein Tannenhäher flatterte durch die Arvenwipfel. Als unten im Dorf die Kirchenglocken zu läuten begannen, waren Barbla und er schon über der Baumgrenze und machten Rast. Dann bogen sie in das schmale Seitental ein, das noch im Schatten lag. Bald erreichten sie die Alp Dadaint, deren Hütten und Ställe bereits leer und zugesperrt waren. Von hier verlief der Bergpfad seitlich stetig höher, bis er sich hinten, am Ende des Tals, in engen Serpentinen durch Geröllfelder und zwischen Felsstürzen hinaufwand zum Hochplateau.
Folge 4
Barbla war ihm immer um einige Meter voraus. Ihre weisse Bluse leuchtete vor dem Schieferblau der Felswände. Den beigefarbenen Rock, der ihre Beine sonst bis über die Waden be deckte, hatte sie hochgekrempelt bis zu den Knien und den Saum mit Sicherheitsnadeln befestigt, damit es sich leichter ging. In ihrem Nacken wippte der Zipfel eines hellblauen Kopftuchs.
«Meine Gämse!», dachte er. Wie eines dieser gelenkigen Wildtiere erklomm sie leichtfüssig die Höhe. Manchmal schien es ihm, als berührten ihre Schuhe kaum den Boden. Er war stehen geblieben und wischte sich den Schweiss von der Stirn. Barbla war bereits oben, wo die Sonne sie traf. Sie drehte sich um, lachte und winkte.
«Eine Gämse und ein Maultier», stellte er fest, als er den Rucksack neben sie auf die Grasnarbe stellte.
«Mein armer Lastenträger!» Barbla legte eine Maske gespielten Bedauerns auf, durch die gleich wieder das Lachen brach. Er drohte ihr mit dem Zeigefinger und zog sein Hemd aus. «Du wirst dir einen Sonnenbrand holen», warnte sie.
«Bei Maultieren besteht da wenig Gefahr.»
Er holte die Flasche aus dem Rucksack und reichte sie ihr.
«Und deine Beine, nackt wie die sind?», fragte er. «Wenn die im Dorf unten wüssten, in welcher Aufmachung du da oben herumkraxelst – ich hab doch wenigstens noch das Unterhemd an.» Sie streckte ihm die Zunge heraus. Er verdrehte die Augen.
Da stand sie auf, fasste ihn an den Armen und küsste ihn. «So, Anton Marxer, genug geschwätzt, die letzte Etappe steht uns noch bevor!»
Am späten Vormittag, fast vier Stunden nach ihrem Aufbruch unten im Tal, erreichten sie den ersten See. Obwohl die Sonne schien, kräuselte ein kühler Wind das türkisfarbene Wasser. Barbla zog Schuhe und Strümpfe aus und watete durch den seichten Uferbereich. «Gletscherwasser!», prustete sie schon nach den ersten Schritten.
Er holte die neue Voigtländer aus dem Rucksack, die er kürzlich gekauft hatte, klappte den Balg auf und folgte Barblas Hüpfern durch die Linse. Es reichte gerade noch für eine, wie sich später herausstellte, etwas verwackelte Aufnahme, bevor sie auf eine Steinplatte sprang, die wie eine Zunge aus dem Wasser ragte. Barbla liess sich auf dem Stein nieder und streckte die Füsse aus. Er sah, wie eine Gänsehaut ihre nackten Beine überzog. Als er das Hemd überstreifte, nahm er eine Bewegung im Geröll wahr. «Da oben ist jemand», sagte er.
Barbla folgte seinem Blick. Auf dem Weg von der Seenplatte zur Fuorcletta ging ein Mann. Bisher war ihnen niemand begegnet. Rasch erhob sie sich, löste die Sicherheitsnadeln und liess den Rock wieder auf Wadenlänge fallen. Die Füsse rieb sie am vergilbten Gras trocken, schlüpfte in die Strümpfe und band die Schuhe.
Sie umrundeten den See. Über eine kleine Kuppe gelangten sie zum zweiten See, stiessen bald darauf auf den dritten, einen grösseren. Hier waren die Farben noch intensiver. Im tiefblauen Wasser spiegelte sich der Schnee der umliegenden Gipfel.
Wieder klappte er die Kamera auf, die er sich umgehängt hatte. «Schade, dass man die Farben nicht festhalten kann», sagte Barbla.
«Segantini hätte eine Staffelei heraufgeschleppt.»
«Heraufschleppen lassen», korrigierte sie.
Er zuckte die Schultern. Der Wind wehte hier spürbar stärker. In einer felsigen Mulde fanden sie einen windgeschützten Platz für die Mittagsrast. Er öffnete den Rucksack und holte den Proviant heraus. Brotscheiben, Alpkäse, Trockenfleisch, dazu ein hartgekochtes Ei und als Nachspeise einen Apfel. Für die Verpflegung unterwegs war er verantwortlich. Das hatte auch sein Vater schon so gehalten.
Barbla, die im Rucksack nach ihrer Windjacke suchte, hielt plötzlich eine Tafel Schokolade in der Hand. «Oh», sagte sie, «was haben wir denn da für Schmuggelware?» Sie leckte sich die Lippen.
«Statt Gipfelwein», sagte er. «Gibt es erst oben auf dem Joch.»
Sie verzog das Gesicht, legte die Schokolade aber folgsam zurück. Er lachte. «Braves Kind!»
Wenn er hinuntermusste, nach Chur, wo seine Eltern wohnten, besorgte er jedes Mal ein paar Tafeln von Barblas Lieblingssorte. Wo er sie aufbewahrte, bis er sie, eine um die andere, bei besonderen Gelegenheiten hervorzauberte, hatte sie rasch herausgefunden. In der untersten Schublade des Lehrerpults, verdeckt von Stössen bedruckten Papiers. Sie behielt ihr Wissen für sich.
Nach dem Essen stiegen sie wieder höher. Auf dem letzten Stück war das Gelände steil und eine einzige Geröllhalde. Einzelne Stellen waren schneebedeckt.
Wenn sie hinunterschauten auf den weiten Bergkessel mit seinen zahlreichen Seen, glaubten sie, in die spiegelnden Augen eines trägen, steinernen Tieres zu blicken. Barbla sprach es aus, und er nickte.
Oben auf der Fuorcletta packte sie der Wind. Sie waren auf fast dreitausend Meter Höhe. Der Blick ging über das schier endlose Tal nach Westen, das sich im Dunst verlor. Zu ihrer Linken, im Süden, erhob sich die weisse Kappe des Ortlers, greifbar nah und doch schon jenseits der Grenze, in der Ferne, in fremdem Land.
Schweigsam, beide mit sich und dem Abstieg beschäftigt, stiegen sie dann hinunter, verweilten nochmals beim tiefst ge legenen See, wie betäubt von den Eindrücken der Höhe und der Weitsicht.
Am frühen Abend stiess er die Tür des Schulhauses auf, sie stiegen die Treppe hoch in die Wohnung, assen etwas und stillten den plötzlichen grossen Durst. Die Nacht fand sie eng umschlungen, in einer rührenden Erschöpfung.
Folge 5
Barbla hatte die Schnabeltasse hingestellt, gefährlich nahe an der Tischkante. Anton langte hinüber und zog Tasse und Teller aus ihrer Reichweite. Jetzt blickte sie ihn an. Bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen. Aber es kam kein Laut. Nur eine Art Schmatzen. Vielleicht hatte sie noch überschüssige Flüssigkeit im Mund. Auch das Schlucken bereitete ihr oft Schwierigkeiten.
Ihr Gesicht hatte nur noch im Schlaf eine Ähnlichkeit mit dem Gesicht in seiner Erinnerung.
Meine Barbla, dachte er.
Nein, sie gehörte nicht ihm. Nicht mehr. Manchmal wurde er wütend, regte sich über sie auf, über ihre Ungeschicklichkeit, ihre Fremdheit, die nicht mehr die Nähe von früher zuliess. Dann musste er hinaus, an die frische Luft, in den kühlen Nachtwind, in den strömenden Regen. Oft trat er auch nur vor die Haustür, unter das Vordach, und rauchte.
«So», sagte er, «magst du nicht mehr essen.» Es war eine Feststellung. Ohne Fragezeichen. Er stand auf, ging um den Tisch herum und wischte ihr mit der Serviette den Mund sauber. Er löste den Knoten, faltete sie zusammen und legte sie neben Barblas Platz.
«Ich räume noch ab», sagte er, «dann gehen wir ins Bad.» Sie drehte langsam den Kopf und folgte seinen Handbewegungen. Er stellte die Teller zusammen, nahm das Besteck und trug beides hinüber zur Spüle, in der noch das schmutzige Geschirr vom Mittag stand. Mit einem feuchten Lappen wischte er die Tischplatte sauber. Er warf ihn in den Spültrog, trocknete die Hände und kehrte zu Barbla zurück. «Willst du alleine aufstehen?», fragte er und hielt ihr den Gehstock hin.
Sie hob den Kopf, als müsste sie zuerst wissen, wer soeben zu ihr gesprochen hatte. Ihr Körper begann zu zittern, geriet in Schwingung, in Aufruhr. Es war die Anstrengung, er wusste es, die Anstrengung, mit der sie jeden Muskel, den sie noch unter Kontrolle hatte, antrieb, seinen Anteil beizusteuern, so dass es gelang. Aufzustehen. Nur das. Und er wusste, es war die Aufregung, die Unsicherheit, ob es tatsächlich auch gelingen würde. Oder ob sie es schliesslich doch wieder nicht aus eigener Kraft schaffte. Aber sie wollte es so.
Dann stand sie da, leicht schwankend, mit dem Anflug eines Lächelns, wie er wahrzunehmen glaubte. Er hob anerkennend den Daumen, trat zur Seite, um Barbla den Vortritt zu lassen. Sie machte einen ersten zaghaften Schritt mit dem rechten, dem gesunden Bein. Das linke, das von der Lähmung beeinträchtigt war, schleuderte sie in einem kleinen Halbkreis nach vorn, als wäre es ein Holzbein, ein Fremdkörper. Sie hatte wieder gehen gelernt, mühsam, unsicher, aber sie war zäh, war unerbittlich mit sich selbst. Es musste gehen. Und es ging.
Anton spornte sie an, half nur, wenn sie es zuliess. Trotzdem fürchtete er stets, sie könnte sich eines Tages nicht mehr erheben, sie könnte stürzen, während er ein Stockwerk tiefer die Schüler unterrichtete. Und er würde es vielleicht nicht einmal hören.
Er beobachtete genau, wie sie die Türschwelle meisterte. Im Flur überholte er sie, um die Tür zum Bad zu öffnen. Der Eingang war schmal. Auf der rechten Seite war das Waschbecken, darüber hing ein kleiner, grüner Spiegelschrank. Zur Linken stand die Badewanne auf gusseisernen Löwenpranken. In der Schreinerwerkstatt bei Flurin hatte er eine verschiebbare Holzabdeckung anfertigen lassen, die, über die gewölbten Ränder der Wanne gelegt, eine Sitzgelegenheit für Barbla ergab und als Ablagefläche für den Wäschekorb diente. An der Wand neben dem Waschbecken hatte bloss ein lackiertes Holzschränkchen Platz.
Barbla setzte sich auf den Wannensitz. Er nahm ihr den Stock ab und reichte ihr die Haarbürste. Ihr Haar hatte immer noch das dunkle Kastanienbraun der Jugend, stellte er fest, wenn er ihr bei der Pflege zusah. Da und dort hatte sich ein einzelner Silberfaden eingeschlichen.
Sie hielt ihm die Bürste hin. Er legte sie zurück auf das Schränkchen, hielt das Waschtuch unter den Heisswasserstrahl, wrang es aus und reichte es Barbla. Sie fuhr sich damit übers Gesicht, rieb Stirn und Wangen, tupfte die Augendeckel ab, die Nase, das rechte Ohr. Das linke vergass sie, auch die linke Gesichtshälfte reinigte sie nie vollständig. Es war, als existierte diese Seite in ihrer Wahrnehmung nicht mehr. Er half nach, sie liess es geschehen. Er wusste nicht, spürte sie es überhaupt.
Er nahm die Zahnbürste aus dem Glas, benetzte die Borsten, gab etwas Salz aus dem gläsernen Behältnis darauf und drückte sie Barbla in die Hand. Ihre Finger schlossen sich um den Griff. Sie führte die Bürste zum Mund. Es war eine ebenso unsichere Bewegung, wie wenn sie Löffel oder Gabel in der Hand hielt. Sie rieb sich damit so unkontrolliert über die Zähne, dass er sich jeweils fragte, ob die Prozedur überhaupt Sinn machte. Manchmal half er nach. Manchmal wurde es ihm zu viel und er liess es bleiben. Am Morgen würde Babigna kommen, sie hatte mehr Übung in der Pflege von behinderten Menschen. Sie würde darauf bestehen, dass Zahnpflege wie Intimwäsche regelmässig und gründlich erfolgten.
Er füllte ein Glas mit Wasser und hielt Barbla ein kleines Becken hin, damit sie sich nicht die Kleider beschmutzte. Er wartete, bis sie die Bürste kraftlos ins Becken sinken liess und bereit war fürs Spülen. Mit dem Handtuch rieb er ihr anschliessend die Mundwinkel sauber. «Ich denke, für heute genügt es», sagte er. «Was meinst du?» Barbla nickte. Er reichte ihr den Stock. Sie stand auf. Vom Badewannenrand, der ziemlich hoch war, höher als jeder Stuhl oder Sessel, war das vergleichsweise ein Leichtes. Er ging ihr voraus in den Flur und öffnete die Tür zum Abort, der gleich neben der Wohnungstür nach hinten hinaus in einem hölzernen Anbau lag.
Folge 6
Als er den Schalter drehte, flackerten die Drähte in der Glühbirne auf und tauchten den Raum in zitterndes Licht. Es gab noch nicht viele Häuser im Dorf, die bereits elektrischen Anschluss besassen. Oder einen Heisswasserboiler. Das gab es seines Wissens nur im Pfarrhaus, im Schulhaus und bei Giusep Arquint, dem ehemaligen Gemeindepräsidenten, seinem Schwiegervater. Vor Jahren, als er hier eingezogen war, hatte er das Wasser noch unten am Brunnen holen müssen, und die Beleuchtung war mit Kerzen oder einer Petroleumlampe erfolgt.
Mit ihrem schlenkernden Fuss stiess Barbla an den Türrahmen und erschrak. Er schob sie sanft zur Seite und zog die Tür hinter ihr zu. Dass er mit hineinging, wollte sie unter keinen Umständen. Es wäre ihm auch peinlich gewesen. Dafür musste er in Kauf nehmen, dass sie manchmal roch. Er sagte nichts.
Er wusste nicht, ob sie selber den Geruch wahrnahm oder nicht. Vielleicht war es ihr so peinlich wie ihm. Er war Babigna dankbar, dass sie konnte, was er nicht zustande brachte.
Während er im Flur wartete, versuchte er, seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken, um nicht auf die Geräusche achten zu müssen, die hinter der angelehnten Tür zu hören waren. Um sich nicht überlegen zu müssen, ob sie jetzt endlich sass, ob sie wieder den hölzernen Sitz beschmutzte. Oder sich selber. Nein, er wollte nicht daran denken. Wollte keine Vorwürfe hochkommen lassen. Es war beschämend. Für sie beide. Beschämend.
Er erinnerte sich an den toten Vogel, den er am Vortag auf dem Schulhof gefunden hatte. Es war eine Meise gewesen, ein zerzaustes, blassgelbes Federbällchen. Sie musste in eine Fensterscheibe geflogen sein, in der sich das Licht und die Lärchen gespiegelt hatten. Am Schnabel des Vogels klebte geronnenes Blut. Die Augen waren geschlossen. Er holte den Spaten aus dem Keller und hob die Meise auf. Er trug sie über den Platz und seitlich hinunter an den Fuss der hohen Stützmauer. Dort grub er ein Loch, ein kleines nur, der Vogel war ja kaum so gross wie seine Faust. Es war nicht das erste Tier, das hier zu liegen kam. Im Lauf der Jahre war er zum Totengräber für allerlei Vögel geworden. Auch die alte Katze seines Vorgängers lag da. Und all die Mäuse, die immer wieder in die Falle gingen im Keller.
Dass es hier, unterhalb des Schulhofs, einen heimlichen Friedhof gab, wusste nur Barbla. Ihr konnte er solche Dinge sagen. Sie begann jeweils zu nicken, zustimmend, schien ihm. Als hätte sie es genauso gemacht. Im Dorf machte man kein Aufheben um ein totes Tier. Die Kadaver der kleineren warf man auf den Misthaufen, die grösseren vergrub man darin.
Barbla würde es niemand weitererzählen. Er war sich sicher, dass sie das auch nicht tun würde, wenn sie noch sprechen könnte.
Barbla folgte ihm durch den Flur ins Schlafzimmer. Er half ihr, sich auszuziehen und das Nachthemd überzustreifen. Über dem dunkel gebeizten Doppelbett, dessen hoher Kopfteil strenge Ornamente in Form von Linien und angedeuteten Säulen zeigte, hing eine Kreuzabnahme. Das Bild war in schweren Brauntönen gemalt, die jetzt, im schwachen Licht der Deckenlampe, noch düsterer erschienen als tagsüber. Nur der Körper des Gekreuzigten leuchtete kränklich weiss, das nackte, tote Fleisch. Wirkliche Farben hatte der Maler einzig bei Marias Kleidern zugelassen: Rot und Blau.
Anton schlug die Decke zurück. Barbla setzte sich auf den Bettrand und lehnte ihren Stock gegen den Nachttisch. Er bückte sich und zog ihr am linken Fuss den Pantoffel aus. Der andere war bereits von selber abgefallen. Dann schob er den rechten Arm unter ihre Beine, um sie auf die Matratze hochzuheben. Weil er gleichzeitig mit dem linken ihren Oberkör per stützen musste, geriet er plötzlich aus dem Gleichgewicht. Er machte einen unbeabsichtigten Schritt seitwärts und stolperte dabei über Barblas Pantoffeln. Der unerwartete Schwung, der ihn dadurch erfasste, reichte gerade noch aus, um zu verhindern, dass er stürzte. Statt zu Boden fiel er, ungeschickt wie er war, über seine Frau auf die Matratze und lag quer auf ihren Oberschenkeln, wie eine Gliederpuppe, deren Fäden jemand durchgeschnitten hat.
Barbla hatte einen erschrockenen Laut ausgestossen. Er hob den Kopf, stützte sich auf die Hände und vergewisserte sich, dass er ihr nicht wehgetan hatte.
«Tollpatsch, der ich bin», entschuldigte er sich.
Aber dann sah er Barblas Augen, die plötzlich einen seltsa men Glanz bekommen hatten, er sah ihren Mund, der sich nicht schmerzhaft verzog, sondern zu einem unverkennbaren Lächeln geformt war. War es nicht für einen Augenblick, einen ganz kurzen, wie früher, wenn sie ins Bett gefallen waren und sich geliebt hatten? Er stand auf und drückte Barbla einen festen Kuss auf die Lippen. Noch während er sich abwendete, konnte er ein Lachen nicht mehr unterdrücken. Es schien zuerst nur belustigt, von der flüchtigen Szene hervorgerufen, aber als er zum Fenster trat, um die Vorhänge zuzuziehen, merkte er, dass es aus seinem Inneren kam, von sehr weit her, es breitete sich unaufhaltsam aus, bis es ihn schüttelte und er nur noch hoffte, dass Barbla seine Tränen nicht sah.
Er ging zur Tür und drehte den Lichtschalter aus. Erst dann zog er die Wolldecke zurecht, an der Barbla erfolglos zupfte, legte das Federbett darüber und richtete ihr das Kopfkissen.
«Gute Nacht!» Seine Stimme klang brüchig. Er räusperte sich. «Ich komme bald nach», sagte er.
Folge 7
Sie bewegte sich nicht. Meist schlief sie schon, wenn er endlich den Weg ins Bett fand.
Er liess die Schlafzimmertür einen Spaltbreit offen und im Flur das Licht brennen. So lag sie nicht völlig im Dunkeln und konnte ihn hören, wie er in der Küche hantierte, den Abwasch machte, Geschirr, Besteck und Pfannen wegräumte. Wie er anschliessend in die Stube ging, sich in den Sessel setzte und das Radio einschaltete. Solange er Nachrichten hörte, drehte er den Lautstärkeregler absichtlich zurück. Die Nachrichten waren nicht gut. Schon lange nicht mehr. Im Allgemeinen nicht und auf die Nacht hin sowieso nicht. Erst wenn klassische Musik gesendet wurde, machte er lauter.
Er hatte den einen Band von Tschechow aus dem Regal genommen, das Buch lag auf seinem Schoss und wartete darauf, dass er es öffnete.
«Das ist dekadentes Geschreibsel», hatte Peider Padrun, der Pfarrer, gesagt.
Er war der Einzige, mit dem man über Literatur sprechen konnte, seit sich der Austausch mit Barbla auf das Alltägliche, Nützliche, Notwendige beschränkte. Anton hatte Tschechows Namen dem Pfarrer gegenüber nie wieder erwähnt. Er wollte sich die Welt, in die er sich flüchten konnte, die ihm auf eine seltsame Weise nahestand, nicht zerstören lassen. Es war diese Mischung aus Traurigkeit und Melancholie, die er in sich aufsog, in die man sich wie in einen weichen, watteartigen Sessel hineinsinken lassen konnte.
Es kommt eine Zeit, dann werden alle erfahren, warum dies alles ist, warum diese Leiden; es wird keinerlei Geheimnisse geben, aber einstweilen muss man leben… man muss arbeiten, nur arbeiten! Bücher hatten die Kraft, zu verwandeln. Sie konnten das Leben erträglicher machen. Sie konnten die Welt verändern. Sie konnten töten. Selber waren sie verletzlich. Wie ihre Autoren. Das Wort eines Einzelnen konnte sie vernichten. Eine Flamme genügte, um sie zu zerstören.
Er war ab und zu nach Davos gefahren, in die Buchhandlung, um sich nach alten und neuen Büchern umzusehen. Er hatte Barbla vorgelesen, als die Anstrengung des Lesens für sie zu gross geworden war. Kellers «Der grüne Heinrich» und «Der König der Bernina» von Jakob Christoph Heer. Eine Zeit lang war es zum Abendritual geworden. Aber auch das Zuhören hatte Barbla ermüdet. Sie war unruhig geworden oder eingenickt. Das letzte Buch, aus dem er ihr vorgelesen hatte, lag noch immer unbeendet auf ihrem Nachttisch.
Nach wie vor liebte Barbla hingegen die Musik. Sie hatte kein Instrument gespielt, das war nichts, was im Haus von Giusep Arquint Platz gehabt hatte. Aber sie war Mitglied des Kirchenchors gewesen. Sie hatte eine schöne Stimme gehabt.
«Der Sopran ist nicht mehr, was er war», wiederholte Pfar rer Padrun bei jeder Gelegenheit. «Barblas Stimme ist nicht zu ersetzen.»
Wem sagte er das! Sie war oft heruntergekommen, ins Schulzimmer, wo hinten an der Wand das alte schwarze Klavier stand mit den schwenkbaren Kerzenhaltern aus Messing.
Sie setzte sich an eines der Fenster und hörte ihm zu, wenn er Lust verspürte zu spielen. Wenn er in sich versunken mit den Händen über die vergilbte Elfenbeintastatur wanderte und Tonspuren legte, die hinausführten aus dem Raum, dem Haus, über das Dorf, das Tal hinweg, wie ein Schwarm flatternder, weisser Vögel.
Wenn er den Deckel zuklappen wollte, stand sie plötzlich hinter ihm, als hätte sie geahnt, dass er das tun würde, und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er wusste, was sie damit meinte. «Du hast bis jetzt nur für dich gespielt. Spielst du noch ein Stück für mich?»
«Natürlich. Oder: Für heute ist’s genug. Meine Finger sind wund.»
Dann lachte sie: «Ohne Musik kein Abendessen!»
Sie beneidete ihn dafür, dass seine Eltern ihn das Klavierspiel hatten erlernen lassen.
Dann hatte er lange Zeit nicht mehr gespielt. Es war, als betreffe Barblas Lähmung auch seine eigenen Hände. Bis sie ihn darum bat. Mit den Fingern der gesunden Hand hatte sie das Anschlagen der Töne imitiert. Jetzt ging er manchmal wie der hinunter, liess alle Türen weit offen, dass die Töne den Weg fanden durchs Treppenhaus hinauf in die Wohnstube.
Wenn er spielte, dann nur noch für Barbla. Nie mehr für sich selber. Es ging einfach nicht mehr. Er hatte das Versinken verlernt. Mit den Schülern sang er jeden Morgen ein Lied zur Einstimmung in den Schultag. Aber er begleitete den Gesang nicht mehr, er schlug nur noch den Ton an. Zwei-, dreimal hintereinander, damit ihn alle aufnehmen konnten. Einen gequälten, scheppernden Ton. Das Klavier hätte seit Langem wieder einmal richtig gestimmt werden sollen.
Als die Hausglocke klingelte, war er sich nicht sicher, ob er nur geträumt hatte. Er musste im Sessel eingenickt sein. Im Lam penschirm machte sich der Nachtfalter wieder bemerkbar. Er blickte nach der Uhr auf dem Büffet. Es war halb zehn. Drau ssen war dunkle Nacht. Aus dem Radio erklang Klaviermusik. Er kannte das Stück nicht, aber er vermutete, dass es Mozart war. Mühsam erhob er sich aus dem Sessel und horchte. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht.
Trotzdem ging er hinaus ins Treppenhaus, öffnete das Fens ter, das sich schräg über dem Hauseingang befand, und blickte hinunter. Es war schwierig, etwas zu erkennen, weil das Mond licht fehlte. Wenn tatsächlich jemand die Klingel betätigt hatte, musste er unter dem Vordach vor der Tür stehen.
Folge 8
«Jemand da?», rief er hinunter. Er nahm eine Bewegung wahr. Die schmalen Umrisse eines Schattens.
«Ich bitte um Verzeihung …»
«Ist es nicht ein bisschen spät?», brummte er.
«Ich weiss, es tut mir leid.»
«Ich komme», sagte er und schloss das Fenster.
Er machte die Tür zur Wohnung zu und stieg die Treppe hinunter. Die Stimme gehörte einer Frau. Sie hatte einen frem den Akzent. Er konnte ihn nicht einordnen. Bevor er die Tür aufschloss, schaltete er die Lampe über dem Eingang ein.
2
Unten im Tal blinkten noch einige Lichter und zeigten an, wo das Dorf lag. Sie verliess den Weg, kletterte den Hang hinauf und kroch unter eine Tanne, deren ausladende Äste bis fast zu den Wurzeln reichten. Die Wärme des Tages hatte sich unter diese schützenden, dunklen Arme zurückgezogen, und es war, als liege auf dem von Nadeln bedeckten Boden die noch nicht völlig erkaltete Asche einer ausgetretenen Feuerstelle.
Ihr Atem ging stossweise. Bereits eine Stunde war sie den Hang hinaufgestiegen. Sie musste sich ausruhen. Obwohl die Furcht, die stetige Begleiterin, dies kaum zuliess. Nun war sie schon den dritten Tag unterwegs. «Anna, du musst fliehen!», hatte Magda sie beschworen. «Du bist die Nächste, die sie holen!» «Ich habe die Kraft nicht», hatte sie geantwortet. «Nicht mehr. Wozu sollte mein Leben noch gut sein?»
«Du kannst dein Leben doch nicht einfach wegwerfen!», hatte Magda zornig gesagt.
Aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt. Sie hatte alles verloren. Josef und das Kind, ihr einziges. «Ich habe alles verloren, was es zu verlieren gab.»
«Das Leben ist noch nicht vorbei – geh, Anna! Nicht für dich. Geh! Mir zulieb…»
Magda hatte sie davon abgehalten, den naheliegenden Fluchtweg nachts über den Rhein zu wagen. Die Schweizer Grenze wurde gut bewacht. Und in den Sümpfen des Riedlandes konnte man sich nicht nur verirren. Auch wenn tagsüber die Hügel des Appenzellerlandes mit Händen greifbar schienen, hatte Magda ihr geraten, den beschwerlicheren Weg hinauf durch das Montafon und über einen der alten Säumerpässe zu wählen.
Langsam beruhigte sich ihr Puls. Sie konnte den Bergweg unter sich sehen und würde jede Bewegung sofort bemerken, falls jemand heraufgestiegen käme. Hier unter dem dunklen Dach der Äste blieb sie unsichtbar. Sie öffnete die Tasche und kaute an der hart gewordenen Rinde des letzten Stücks Brot. Proviant hatte sie nur ganz wenig mitnehmen können, Brot, Hartkäse, zwei Äpfel, eine Flasche mit Lindenblütentee. Sie hatte gewusst, es würde nicht reichen, auch bei strengster Einteilung nicht. Hätte sie genügend Verpflegung mit sich geführt, für mehrere Tage, hätte eine Kontrolle fatale Folgen haben können.
«Kein Gepäck!», hatte Magda gesagt. «Nur eine Tasche, als ob du zu Besuch fährst. Und die Fahrkarte hin und zurück.»
Sie war froh gewesen, jemand zu haben, der für sie dachte. Die einfachsten Dinge hätte sie falsch gemacht. Wäre der Spinne ins Netz gelaufen und hätte sich darin verheddert, noch ehe der erste Tag um war.
«Trau niemand, schliess dich niemand an! Verlass dich nur auf dich selbst!» Vorgestern hatte Magda sie ein letztes Mal umarmt. «Du schaffst das!»
«Und wenn man nach mir fragt?»
«Wir werden einfach sagen, du bist nach Innsbruck gefahren, um deine betagten Eltern zu besuchen.» «Aber meine Eltern …» «Sind in Graz, ich weiss. Aber das werden wir denen doch nicht haarklein erzählen, Liebes.»
«Und dein Mann?»
«Weiss hoffentlich, was er tut.»
Magdas Mann war bereits vor dem Anschluss ans Reich in die Partei eingetreten. Er musste sich Vorteile ausgerechnet haben. Ihr gegenüber war er immer höflich gewesen. Trotzdem hatte Magda sie nur mit Mühe davon überzeugen können, dass er mit Josefs Verhaftung nichts zu tun hatte. Dass er ihn im Gegenteil gewarnt hatte. Aber Josef hatte ihm nicht geglaubt. Er hatte sich doch stets korrekt benommen, sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Was sollten sie gegen ihn vorzubringen haben? War es nur schon, weil er sich bisher aus allem herauszuhalten versucht hatte? Dass seine Grossmutter mütterlicherseits jüdische Wurzeln gehabt hatte, erfuhr sie nicht erst, als die Behörde sie vorlud und ihr mitteilte, Josef Schwarz, ihr Ehemann, sei während des Transports in ein Lager bei einem Fluchtversuch erschossen worden. Aber sie hatte es verdrängt.
Sie hatten sich nur kurz umarmt. Sie hatte Magdas fülligen Körper gespürt, der Halt bot, der fest verankert schien auf dem Boden, im Leben. In diesem Augenblick hatte sie ihre eigene Schmächtigkeit, ihre Unsicherheit viel deutlicher wahrgenom men. Sie hätte so stehen bleiben wollen, gehalten, in die Berührung des fremden menschlichen Körpers versunken. Aber Magda wollte keine Rührung aufkommen lassen. Behutsam hatte sie Annas Hände gelöst und war einen Schritt zurückgetreten.
«Morgen», hatte sie gesagt. «Mit dem Frühzug.» Und Anna hatte genickt.
Die Flasche war leer. Der Tee war schon am Vortag zur Neige gegangen, und sie hatte die Flasche an einem Brunnen mit Wasser aufgefüllt. Sie stand auf, geduckt unter den tief hängenden Ästen, wischte die Tannennadeln vom Kleid und hängte die Tasche um. Lange horchte sie in die Nacht, bevor sie ihr Versteck verliess und hinunterstieg auf den Weg.
Folge 9
Der Wald wurde dichter. Nur einmal noch sah sie die erleuchteten Fenster des Hotels und die Lampen, die unten bei der Zollwache brannten. Durch die Nebeldecke schimmerte das kränkliche Weiss des abnehmenden Mondes, der nur noch eine magere Sichel war. Es gab kein Licht, es gab nur Schatten, hellere und dunklere.
Die Geräusche aus dem Tal waren verstummt. Hier oben war es still, beinahe beängstigend still. Sie erschrak jedes Mal, wenn ihr Fuss an einen Stein stiess, der auf dem Weg lag, und sie ihn durch ihre Unachtsamkeit ins Rollen brachte. Wenn er dann ein paar Meter den Weg hinunterkollerte, bis er endlich liegen blieb, wurde das in ihren Ohren zu einem Getöse, das nicht unbemerkt bleiben konnte. Die Steine schrien geradezu: Hier ist sie, hier geht sie, die ihr sucht! Hierher, hierher, holt sie euch!
Sie suchte die Nähe eines Baumes, blieb stehen, lauschte. Nichts geschah. In den Wipfeln bewegte ein leiser Nachtwind die Zweige. Am Hang zwischen den Stämmen raschelte ein Nager. Einmal erstarrte sie, als ein grosser Schatten aus der Höhe herabstiess, fast geräuschlos. Eine Maus piepste. Dann vernahm sie wieder ihren eigenen Atem. Versuchte, dem Zittern Herr zu werden. Befahl den Füssen, weiterzugehen. Stieg höher.
Genauso schlugen sie zu. Stiessen herab, aus dem Nichts. Ein Piepsen. Ein Röcheln. Zu mehr kam das Opfer nicht. Sie war die Maus. Sie hatte Angst. Warum hatte sie Angst? Hatte sie nicht zu Magda gesagt, ihr Leben sei wertlos geworden? Wenn sie aber Angst hatte, hiess das doch, dass sie leben wollte.
Hatte Josef Angst gehabt? Ja, sicher hatte er Angst gehabt! Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie gross seine Angst gewesen sein musste. Und dann hatten sie ihn erschossen. Auf der Flucht. Von hinten, in den Rücken.
Sie war schwach. Was war ihre Angst schon gegen die seine?
«Männer erschiessen sie einfach», hatte Magda gesagt.
«Aber junge Frauen, die erschiessen sie erst nachher.»
Sie hatte das letzte Wort so betont, dass Anna nicht nachfragen musste. War es das, was ihr Angst machte? Das, was vor dem Sterben kam?
Schritt für Schritt zwang sie sich weiter. Stolperte über einen Ast, der quer über dem Weg lag. Hob ihn auf. Er fühlte sich an wie ein geschnittenes Haselholz. Als hätte jemand seinen Wanderstock verloren.
Sie nahm ihn mit, war froh, sich an etwas festhalten zu können. Und vielleicht würde er ihr noch von Nutzen sein, oben in den Steilhängen. Sie wusste ja nicht genau, wie der Pfad über den Pass verlief. Ob bereits der erste Schnee gefallen war.
Sie war in den Frühzug nach Innsbruck gestiegen. Ihr gegen über sass eine ältere Frau, die ihr freundlich zunickte, als sie sich setzte. Um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden, schloss Anna gleich die Augen und liess den Kopf nach kurzer Zeit im Takt der Schienenstösse wippen, als döse sie. Aufgeregt wie sie war, hatte sie in der vorangegangenen Nacht kein Auge zugetan. Sie war erschöpft, aber nicht müde. Jedenfalls bestand keine Gefahr, dass sie tatsächlich einschlief.
Nach Feldkirch, wo wieder Leute zugestiegen waren, kam der Schaffner. Hinter ihm war noch ein anderer ins Abteil getreten. Ein Uniformierter. Sie streckte dem Schaffner ihre Rückfahrkarte hin. Dem Blick des anderen wich sie aus. Der Schaffner gab ihr das Billett zurück und wandte sich den übrigen Reisenden zu.
«Sind Sie Jüdin?» Sie blickte auf. Der Uniformierte hatte sich vor ihr aufgepflanzt. «Ja, Sie!»
«Ich bin Österreicherin», sagte sie. «Das habe ich Sie nicht gefragt!»
«Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.» Sie versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht ganz.
«Ihren Ausweis!»
Sie griff in das Handtäschchen, worin sie Geld und Fahrkarte mit sich trug und gab ihm ihre Papiere. Womit hatte sie seine Aufmerksamkeit erregt? Der Spürhund witterte wahrscheinlich hinter der kleinsten Nasenkrümmung bereits jüdisches Blut. Bei ihr musste es das dunkle, fast schwarze Haar sein, das ihm aufgefallen war.
«Woher kommen Sie?», fragte er. «Aus Dornbirn. Ich fahre nach Schruns, um eine Bekannte zu besuchen.»
«Aus welchem Grund?»
«Ist das ein Verhör?»
Plötzlich war alle Angst weg. Sie hatte es gar nicht gemerkt. Ihre Stimme war klar und fest. Sie war nicht einmal erschrocken über das, was sie eben gesagt hatte. Nur erstaunt, dass solche Worte über ihre Lippen gekommen waren. Als hätte jemand anderes für sie gesprochen.
«Du schaffst das», hatte Magda gesagt. Sie war eine gepflegte Frau von fünfunddreissig Jahren. Sie war schwarz gekleidet, vielleicht in Trauer. An der linken Hand trug sie einen Ehering. Sie hatte nur eine kleine Reisetasche bei sich und eine Fahrkarte von Dornbirn nach Schruns und zurück. Und ihr Pass enthielt nichts, was sie hätte verbergen müssen.
«Ich habe Sie etwas gefragt», sagte der Uniformierte. In seiner Stimme war die Ungeduld nicht zu überhören. «Ein Todesfall in der Familie», sagte sie und sah ihm jetzt direkt in die Augen.
Sein Blick senkte sich in die ihren, mit unverkennbarem Misstrauen. Sie wich ihm nicht aus. «Mein Beileid», sagte er und gab ihr den Ausweis zurück. Sie steckte den Pass in das Täschchen und liess den Verschluss zuschnappen. Den Blick der Mitreisenden mied sie. Nur jetzt kein Getuschel, kein falsches Wort.
Folge 10
Sie schloss die Augen wieder.
In Bludenz stieg sie aus und wechselte in die Montafoner Bahn. Den Uniformierten sah sie in das Stationsgebäude eilen. Wenn er nun doch Meldung machte? Wohin und wem denn? Nur weil sie sich seiner Ansicht nach ungebührlich verhalten hatte? Nein, nicht sie – er. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Im Gegenteil: Nur wer seine Furcht offen zur Schau trägt, wirkt verdächtig. Aber sicher sein konnte sie nicht. Wenn sie nur schon an den stechenden Blick seiner stahlblauen Augen dachte, war es, als versinke sie in einem Eiswasserloch.
In Schruns kaufte sie Brot, Trockenfleisch und Käse. Dann verliess sie das Dorf talaufwärts. Sie hielt sich abseits der Strasse, benutzte unauffällige Wege, welche die Dörfer umgingen, suchte wenn immer möglich den Schutz von Gebüsch und Bäumen. Sie rastete am Flüsschen, ass, trank, schlummerte ein, schrak hoch, ging weiter. Sie zählte die Weiler, die Dörfer, die Seitentäler, wie Magda ihr geraten hatte, und achtete auf markante Bergkämme, an denen sie sich orientieren konnte. Eine Landkarte mitzuführen oder auch nur eine Skizze, hätte bloss Verdacht erregt. Mit Josef hatte sie vor Jahren einen Sonntagsausflug gemacht, aber weiter als bis Schruns waren sie nicht gekommen.
Einmal musste sie an einem grossen Acker vorbei, wo ein Bauer mit seinem Knecht die Wintersaat ausbrachte. Es gab keine Ausweichmöglichkeit. Sie blieb stehen, überlegte, ob sie sich zurückziehen und warten sollte, bis die beiden fertig wären. Sie hatten jedoch gerade erst angefangen, wie sie bald einsehen musste. So viel Zeit hatte sie nicht. Im Spätherbst wusste man nie, wann das Wetter umschlagen würde. Dann konnte der Passübergang schwierig und gefährlich werden, gefährlicher als er sonst schon war.
Sie ging an dem Feld vorbei, rasch, aber nicht zu schnell, aus den Augenwinkeln die Männer beobachtend. Den Kopf wendete sie erst, als sie sah, dass der eine der beiden auf sie aufmerksam geworden war und herüberstarrte. Sie waren in Rufweite, aber sie nickte ihnen nur zu. Im Rücken spürte sie die Blicke der beiden, denen wohl klar sein musste, dass da eben eine Fremde an ihnen vorbeigegangen war. Keine, die aus einem der umliegenden Dörfer stammte. Keine, die sie kannten. Sie drehte sich erst nach einer Wegkehre um, wo ein mit Gras und Gesträuch bewachsener Findling sie verbarg. Die beiden standen jetzt beieinander. Der eine zeigte in ihre Rich tung. Als sie wenig später wieder ihre Saat auszuwerfen began nen, ging sie beruhigt weiter.
Die Stunden zogen sich hin. Das Tal stieg stetig an und nahm in der Breite ab. An den Westflanken krochen die Schatten höher. In immer kürzeren Abständen musste sie sich hinsetzen. Sie war lange Wanderungen nicht gewohnt. Die Füsse begannen zu schmerzen, der Mund war ausgetrocknet. Die Teeflasche war beinahe leer, und die Tasche hing schwer an ihrer Schulter. Sie musste sich nach einem geeigneten Ort umsehen, wo sie die Nacht verbringen konnte. Geld hätte sie genug gehabt, und einen Gasthof hätte sie sicher in einem der Dörfer gefunden, aber sie musste der Versuchung nach einer Kammer mit einem richtigen Bett widerstehen. Eine alleinstehende Frau auf der Durchreise hätte zu viel Aufsehen erregt.
Sie raffte sich auf, hatte ein paar Hütten entdeckt, die auf der Sonnenseite oben am Hang lagen und um diese Jahreszeit wohl nicht mehr bewirtschaftet wurden. Wo ein kleiner Bach und Ufergehölz Sichtschutz bot, querte sie den Talboden und stieg durch den Wald hinauf. Fünf Hütten klebten am Hang, als sie zwischen den Bäumen hervortrat. Ställe, Heustadel, eine Sennerei. Die Umzäunungen waren umgelegt, damit sie im kommenden Winter nicht eingedrückt würden, die Türen waren verriegelt und verschlossen.
Die Sonne war bereits untergegangen, der Himmel wechselte seine Blautöne, als könne er sich für keinen wirklich entscheiden. Die Nacht würde kalt werden. Der letzte Aufstieg hatte an ihren Kräften gezehrt. Die Unterkleider waren feucht vom Schweiss und liessen sie frösteln. Vielleicht war es auch die Furcht vor einer Nacht im Freien.
Als sie schon aufgeben wollte, entdeckte sie bei einem der Stadel ein morsches Brett, das sich bewegen liess. Sie drückte es zur Seite und zwängte sich durch die Spalte. Drinnen war es dunkel. Nur durch die Ritzen der Bretterwand fielen noch schwache Lichtstreifen.
Das getrocknete Gras strahlte noch die Wärme aus, die sich über den Tag im Inneren des Stadels angesammelt hatte. Der Raum war zu zwei Dritteln mit Heu gefüllt. Es war frisch, vom Spätsommer, der Duft noch immer kräftig, fast ein wenig betäubend, wenn man nicht damit aufgewachsen war. Sie stellte die Tasche ab, legte den Hut darauf und liess sich ins Heu sinken.
Im letzten Licht des Tages ging sie nochmals hinaus, hinü ber zur Sennerei, wo ein Brunnen lief, und wusch sich. Das Wasser war kalt, und sie eilte zitternd zurück, quetschte sich durch die enge Öffnung und zog von innen das lose Brett an seinen Platz.
Das Heu umfing sie mit spitzen, dürren Fingern, es stach und zwickte, war alles andere als ein Daunenbett, aber es strahlte Geborgenheit aus und wärmte. Sie hatte vom Brot gegessen, vom Käse und vom Trockenfleisch. Sie hatte ein Dach über dem Kopf, sie musste nicht frieren. Der Anfang war getan. Es war nur der erste Schritt, sie wusste es.
Folge 11
Die Erschöpfung liess sie bald in einen unruhigen Schlaf voller wirrer Träume sinken. Sie reiste durch die Nacht, war ununterbrochen unterwegs, Stunde um Stunde, ohne je ans Ziel zu kommen, von dem sie nicht einmal wusste, was genau es war, ein Haus, ein Dorf. Oder vielleicht ein Mensch. Bei einem Hof, an dem sie vorbeigekommen war, hatte sich ein Hund losgerissen und verfolgte sie, ein zweiter gesellte sich dazu, und bellend und geifernd kamen sie immer näher. Sie rannte um ihr Leben. Schliesslich gelangte sie an einen Fluss. Sie versuchte, ihn zu durchqueren, er war nicht sehr tief, aber die Hunde hatten sie eingeholt, bevor sie das andere Ufer erreichte. Sie spürte, wie sie wütend nach ihrem Kleid schnappten, das Kleid zerriss unter ihren scharfen Zähnen mit einem hässlichen Geräusch. Sie fürchtete sich vor dem Schmerz, der unmittelbar bevorstand, wenn die Hunde zubissen, ins weiche, weisse Fleisch, sie zerfleischten, erbarmungslos, bei lebendigem Leib. In diesem Augenblick erkannte sie im Traum, dass es nur ein Traum war und die Hunde ihr nichts anhaben konnten. Und dann, als sie erwachte, waren es nur die dürren Grashalme, die in ihre nackten Beine stachen, weil das Kleid verrutscht war.
Anna erwachte, weil sie pinkeln musste. Feuchter Nebel lag über der Alp, es war empfindlich kühl. Sie ging hinaus, hob den Rock und hockte sich hinter den Stadel. Es war noch sehr früh am Morgen. An einer Stelle versuchte die Sonne erfolglos, ein Loch in den Nebel zu brennen.
Sie kroch wieder zurück, grub sich ins Heu, in dessen Wärme sie warten wollte, bis die Sonne die Oberhand gewonnen hätte.
Stimmen weckten sie. Sie erschrak. Hatte sich verschlafen, bis tief in den Vormittag hinein. Als sie durch die Ritzen blinzelte, war der Himmel noch immer bedeckt. Sie sah, dass drüben bei der Sennerei ein Mann und ein Junge standen. Der Mann schloss die Tür auf und verschwand im Inneren der Hütte. Der Junge blieb beim Brunnen und peitschte mit einem Stock die Wasseroberfläche, dass es nach allen Seiten spritzte.
Plötzlich entdeckte sie den Hund. Er stöberte zwischen den Hütten herum und rannte offensichtlich einer Spur nach. Dass es nicht irgendeine Spur war, wurde ihr erst klar, als er auf ihren Stadel zuschoss. Sie trat von der Ritze zurück und verbarg sich tief im Heu. Sie hörte, wie der Hund jetzt hinter dem Schober schnüffelte. Sicher roch er die Pfütze, die sie hinterlassen hatte. Gleich würde er zu bellen beginnen, befürchtete sie. Bellen und an der Holzwand zu kratzen beginnen. Da rief der Mann nach ihm. Er war offenbar wieder aus der Hütte gekommen. Immer noch vernahm sie das Schnauben an der Rückwand. Der Hund reagierte erst, als der Mann gellend durch die Finger pfiff.
Sie wagte nicht, ihr Versteck zu verlassen. Sie wartete, lauschte auf die Stimmen, die Geräusche. Die Tür knarrte, der Schlüssel wurde gedreht, einmal, zweimal. «Sepp, wir gehen!», rief der Mann. «Sepp!»
«Ich komme», antwortete der Junge. Sie konnte nicht feststellen, wo er sich befand. Der Mann pfiff erneut. «Wo ist der verdammte Hund jetzt wieder hin?», hörte sie ihn mit sich selber reden.
Endlich entfernten sich die Stimmen. Der Hund gab noch mals Laut, unten im Wald, aufgeregt und ausdauernd, als ob er ein Wildtier aufgescheucht hätte. Erst als es lange still geblieben war, befreite sie sich aus dem Heu und trat zu den Ritzen zwischen den Brettern, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich niemand mehr da war. Sie brach te den Heuhaufen in Ordnung, so dass man die Kuhle, wo sie sich eingenistet hatte, nicht mehr sehen konnte. Sie schüttelte das Kleid, die Jacke, säuberte den Hut, damit kein dürrer Gras halm verriet, wo sie herkam. Am Brunnen füllte sie die Flasche, immer ängstlich darauf bedacht, bei der geringsten Auffälligkeit Reissaus nehmen zu können. Eigentlich hatte sie Hunger, aber zum Essen war jetzt keine Zeit.
Sie stieg in den Wald hinunter und versuchte dann, am weglosen Hang die Höhe zu halten. Auf diese Weise war das Fortkommen beschwerlich. Mehr als einmal rutschte sie ab und musste sich an einem Baum festhalten. Bald begann ihre linke Hüfte zu schmerzen. Sie setzte sich auf eine Steinplatte, holte aus der Tasche, was ihr an Essbarem gerade in die Finger kam und verschlang es hungrig und wie ohne Besinnung. Schliesslich war sie vom Essen so erschöpft wie vom Gehen.
Ein tiefer Einschnitt im Hang, wo der Wald von schroffem Fels abgelöst wurde, zwang sie, ins Tal abzusteigen. Sie schlitterte und rutschte, das eine und andere Mal stürzte sie auch. Noch bevor sie die Talsohle erreichte, begann es zu regnen, ein hartnäckiger, flächendeckender Wasserschleier hing zwischen den Bäumen. Innert weniger Minuten waren ihre Kleider feucht und schwer. Sie sah sich nach einem Unterstand um. Die grossen Dörfer hatte sie hinter sich, sie lagen alle weiter unten im Tal, jetzt kamen nur noch kleine Siedlungen, Weiler, einzelne Häuser. Die musste sie meiden. Nach wie vor. Unter einem alten, verkrüppelten Apfelbaum fand sie etwas Fallobst, wurmstichig, aber geniessbar.
Über eine hölzerne Brücke wechselte sie auf die andere Seite des Flüsschens. Wenn sie von Weitem Menschen erblickte, versteckte sie sich oder umging sie auf oft kräftezehrenden Umwegen. Huflattich und Schachtelhalm säumten den Weg, Brombeergestrüpp griff mit Dornenkrallen nach ihrer Kleidung, die schwer an ihr hing und von deren Saum das Wasser tropfte. Auch die Bäume entlang des Flussbetts boten keinen wirksamen Schutz vor dem Regen.
Folge 12
Wie lange sie schon gegangen war, wusste sie nicht, aber es musste inzwischen sicher Nachmittag sein. Bei diesem Wetter war die Orientierung schwierig. Die Bergspitzen, die markanten Wegweiser, blieben verdeckt. Wie lange würde es noch dauern, bis jenes Tal kam, von dem Magda gesprochen hatte? Oder hatte sie es verpasst, war sie an der Abzweigung längst achtlos vorbeigegangen?
Sie schwitzte, sie zitterte. Die Verzweiflung wurde wieder übermächtig. Warum? Wozu? Sollte sie nicht einfach zum nächsten Hof laufen und um Unterkunft bitten, um trockene Kleider, warmes Essen, ein Nachtlager? Was waren das für Leute, die hier wohnten? Die hier zu Hause waren? Sie konnte sich nicht vorstellen, hier zwischen den Bergen zu leben, in einem engen Tal mit schroffen Hängen zu beiden Seiten. Und die, welche hier wohnten, konnten sich wohl ebenso wenig ein Leben unten in der Ebene, in der Nähe des Sees vorstellen. Aber weder die hier oben noch die unten am See konnten sich vorstellen, aus dem eigenen Zuhause, aus dem eigenen Land fliehen zu müssen.
Sollte sie nicht einfach auf Menschen hoffen, die keine Fra gen stellen würden? Doch wer konnte sich das noch leisten, keine Fragen zu stellen? Für den, der keine Fragen stellte, konnte das ebenso gefährlich werden wie für denjenigen, der keine Antwort darauf hatte. Und wenn die Fragen kämen, dann wäre es einfach zu Ende. Ganz rasch. In ein paar Stunden. Über Nacht.
Das Wasser lief ihr übers Gesicht. Sie wischte es nicht weg.
Nicht mehr.
Dann liess der Regen endlich nach. Von Westen her klarte es auf, einzelne blaue Löcher öffneten sich im Grau. Als die Sonne durch die Wolken brach, stieg Dampf aus den Feldern. In ihren durchnässten Kleidern fröstelte sie im Sonnenschein. Sie zog die Jacke aus, schüttelte sie, so dass das Wasser aus ihr spritzte wie aus einem nassen Hundefell, und zog sie wieder an. Den Saum des Kleides wrang sie mit beiden Händen aus. Er klebte schlaff an ihren Waden. Wahrscheinlich sah sie zum Fürchten aus. In ihrem Handgepäck lag ein kleiner Taschenspiegel. Sie liess ihn, wo er war.
Wenn sie zurückblickte, konnte sie jetzt die Einschnitte gut erkennen, wo Schruns liegen musste, wo Bludenz. Immerhin war sie nicht in die Irre gegangen. Sie sah wieder das Tal hinauf, das weit hinten, wo sich das Gewölk immer noch dunkel ballte, in die Höhe stieg, auf den Pass, der hinüberführte ins Tirol. Und das enge Tal, das aus Süden einmündete, vielleicht nicht einmal einen Kilometer entfernt?
Neuer Mut beschleunigte ihre Schritte. Bald stiess sie auf eine Fahrstrasse, dann auf eine Kreuzung. Sie ging abseits der Strasse so weit zurück, bis sie lesen konnte, was auf dem Wegweiser stand. Sie las, was sie sich erhofft hatte.
In dem engen Tal wurde es zunehmend schwieriger, unbemerkt voranzukommen. Obwohl es kaum Verkehr gab und die Versuchung gross war, die Strasse zu benützen, blieb sie vorsichtig.
Hinten im Tal lagen ein Dorf, ein paar Häuser, ein Hotel. «Und eine Zollwache», hatte Magda gesagt.
Sie fühlte plötzlich wieder ihre ganze Erschöpfung. Sie war so müde, dass sie sich einen Platz suchte, wo der Boden bereits trocken war. Auf einer abgemähten Bergwiese liess sie sich im Schutz eines kleinen Gehölzes nieder, legte den Hut über das Gesicht und schloss die Augen. Ein Vogelbeerbaum stand voller roter Münder, als hätte er sich geschminkt. Sie vernahm das Summen der Insekten, den Wind, der durch das Laub der Haselsträucher strich, und einmal, weit weg, das Brummen eines Motorrads.
Als sie erwachte, hatte sich die Sonne bereits aus dem Tal zurückgezogen. Es wurde rasch kühler. Schlaftrunken rappelte sie sich auf. Sie fühlte sich völlig zerschlagen. Wenigstens die Kleider waren einigermassen trocken geworden, stellte sie fest. Sie ass einen der schrumpeligen Äpfel. Bevor sie den Hut aufsetzte, klopfte sie ihn aus. Wieder wurde es Zeit, sich nach einem Nachtlager umzusehen. Ob es gescheit war, es nochmals bei einer Hütte zu versuchen? Der Entscheid wurde ihr abgenommen: In keinen der Stadel, die an ihrem Weg lagen, gelang es ihr einzudringen.
Das Hotel? Oh ja, das Hotel! Ein warmes Abendessen, ein weiches Kissen. Was würde sie sagen, wenn sie an der Rezeption vorsprach? «Der Arzt hat mir eine Kur verschrieben.»
«Tut uns leid, gnädige Frau, wir haben keine Reservation auf diesen Namen erhalten.»
«Da muss ein Missverständnis vorliegen. Sie haben doch wohl noch ein Zimmer für mich frei?»
«Wo haben Sie denn Ihr Gepäck, gnädige Frau?»
«Oh, das sollte doch schon da sein.»
«Einen Augenblick, gnädige Frau.»
Sie lachte bitter auf. Dieser Augenblick wäre der letzte, um noch unbehelligt aus dem Hotel entkommen zu können. Ein Spiel mit dem Feuer. Seifenblasen.
Sie stieg den Hang hinauf, um sich im Wald eine Stelle zu suchen, wo sie die Nacht zubringen konnte. Jedes Mal wenn sie abwägen musste, ob sie bleiben oder weitersuchen sollte, gab es etwas zu bemängeln. Wo Gestrüpp war, das Sichtschutz geboten hätte, fehlte der Schirm nach oben, der Kälte und Regen abhielt. Wo beides vorhanden war, fand sie den Hang zu steil und fürchtete, abzurutschen. So ging sie weiter, talaufwärts, immer die Höhe haltend, in sicherem Abstand zum Talboden und der Strasse.
Es dunkelte ein. Das Licht wich aus dem Wald, als würde es abgesaugt. Unter den Tannen flossen die Schatten zu einer undurchdringlichen Masse zusammen. Sie stolperte über Steine und Wurzeln, fiel hin, blieb erschrocken liegen.
Folge 13
Dann kroch sie nahe an einen Stamm, zog die Füsse unter den Rock und griff in der Tasche nach etwas Essbarem. Das letzte Stück Trockenfleisch, etwas Brot. Den Käse musste sie für den nächsten Tag aufsparen. Ein Apfel war noch da. Satt wurde sie nicht.
Mit den Händen tastete sie ringsum den Boden ab. Zwischen zwei groben Wurzelsträngen gab es eine Art Kuhle, wo die Unterlage nicht allzu hart schien. Sie legte sich hin, den Kopf auf der Tasche, und dachte mit Wehmut an das Heu der vergangenen Nacht. Der Tag lief vor ihrem inneren Auge ab, Szenen wiederholten sich, verwirrten sich und führten in Träume, die alles noch schlimmer machten.
Sie erwachte zitternd vor Kälte. Aus den Bäumen tropfte es, ein leichter Regen fiel wieder, aber da, wo sie lag, blieb es trocken. Sie versuchte, sich ganz kleinzumachen, wie sie das als Kind getan hatte, sich einzuigeln gegen die Kälte, die ihr unter die Kleider griff. Aus der Dunkelheit drangen die Geräusche des nächtlichen Waldes zu ihr und beunruhigten sie.
Sie fand den richtigen Schlaf nicht wieder, döste ein, schrak auf, drehte sich von einer Seite auf die andere, schob die eiskalten Finger zwischen die Schenkel. Eine undenkbar lange Zeit ging das so. Dann wurde die Kälte so unerträglich, dass sie sich aufsetzte, aufstand und sich, die Arme um den Körper schlagend, aufzuwärmen versuchte.
Die Stunden vergingen. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Begann die Sekunden zu zählen, die Minuten, wie sie das mit den Schülern getan hatte, um ihnen den Zeitbegriff nahezubringen. Aber die Müdigkeit liess sie über die Zahlen straucheln, dass sie bald aufgab. Sie presste sich mit dem Rücken an den Baumstamm. Das Tropfen des Regens und der Zahlen vermischte sich zum Ticken einer unbarmherzigen Uhr.
Langsam wich die Dunkelheit einem breiigen Grau, aus dem Gesträuch trat, Äste sich wie auf einem Scherenschnitt abzuzeichnen begannen, Bäume auftauchten, als ständen sie in einem Sumpf.
Sie fror jämmerlich. Aus dem Nichts musste sie plötzlich niesen, ein ums andere Mal, ein regelrechter Anfall durchfuhr sie. Sie musste sich den Rotz aus der Nase schnäuzen und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ab. Nun hatte sie sich auch noch erkältet. Sie nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche und spülte sich den Mund aus. Den schlechten Geschmack der Nacht wurde sie trotzdem nicht los. Sie holte den Käse hervor, wickelte ihn aus dem Papier und biss ein Stück ab. Es schmeckte räss und salzig und verdrängte alle anderen Empfindungen.
Als sie aufstand, verspürte sie einen ziehenden Schmerz im Oberbauch, der rasch zunahm. Die Würze vom Käse und die halb verdorbenen Äpfel vom Vortag bekamen ihrem empfindlichen Magen schlecht. Sie durfte jetzt nicht zimperlich sein. Sie strich sich mit den Händen durch das Haar, das sich filzig anfühlte, setzte den Hut auf, der im Regen gelitten hatte, und machte sich wieder auf den Weg. Durch die Bewegung fand auch die Wärme bald in ihren Körper zurück. Nur Hände und Füsse blieben noch eine Weile steif und gefühllos.
Es hatte aufgehört zu regnen. Solange der Nebel über dem Tal hing, hielt sich die Feuchtigkeit hartnäckig, und die Geräusche des einsetzenden Tages blieben gedämpft wie unter einem Deckel.
Der Wald bot nur noch stellenweise Schutz. Je weiter hinauf sie im Tal kam, umso mehr blieben die Nadelbäume zurück, schrumpften zu Inseln inmitten von Bergwiesen. Das erschwerte das Weiterkommen beträchtlich.
Nachdem die Sonne sich durchgesetzt und der Nebel sich verflüchtigt hatte, wurde es richtig warm. Was sie sich in der vergangenen Nacht nicht einmal andeutungsweise hatte vorstellen können: Jetzt schwitzte sie, jetzt war es nicht das Regenwasser, das sie mit dem Ärmel aus dem Gesicht wischte, sondern der Schweiss.
Sie schätzte, dass es gegen Mittag ging, als sie die ersten Häuser des Dorfes erblickte. Auf der anderen Talseite erkannte sie den markanten Bau des Hotels. Mit seinen beiden Seitenflügeln, die wie Wachttürme den breiten Mittelteil einschlossen, war es das grösste Gebäude im Tal. Sie hatte es schon auf Abbildungen gesehen. Wer es sich leisten konnte, fuhr hierher zur Kur. Jetzt verkehrten hier sicher Leute der Partei.
Sie ging bis an den Rand des schützenden Waldes. Unten lag die Zollwache. Ein Lastwagen hielt davor, ein Zollbeamter diskutierte mit dem Fahrer. Sie liess den Blick über das Tal und die Häuser schweifen, an den gegenüberliegenden Hängen hoch, zu den Zacken und Graten, die bereits ein dünner Schleier von Schnee überzog.
Eine Weile stand sie da, im Schatten eines Baumes, zögernd, was sie tun sollte. Schliesslich musste sie einsehen, dass es zu riskant war, die Talseite bei Tag zu wechseln, um auf den Weg zu gelangen, der hinauf zum Pass führte. Sie zog sich zurück in den Wald und lief weiter, bis sie eine Stelle fand, die ihr sicher und abseits genug schien, um die restlichen Stunden bis zum Einbruch der Nacht verbringen zu können.
Als sie die Baumgrenze erreichte, blieb sie stehen. Ein enges Hochtal erstreckte sich vor ihr und verlor sich in der Dunkel heit. Sie umklammerte mit beiden Händen den Stab und hielt ihn vor sich wie einen Speer.
Je höher sie stieg, umso näher rückten die Felswände. Die Flecken magerer Bergwiesen waren übersät mit Geröll. Die Steine waren grosse Schatten und kleine Schatten, bizarre Figuren, stumm, den Atem beklemmend. Das einzige Geräusch, das sie begleitete, kam vom Bergbach, der durch das Tal herunterfloss, ihr entgegen, manchmal näher am Weg, dann wieder weiter weg
Folge 14
Einmal überquerte der Pfad ihn über eine kleine Brücke, ein paar Holzbretter nur, die sich unter ihrem Gewicht bewegten, als sie vorsichtig darüberschritt. Sie verspürte Durst, die Flasche war leer. Sie tastete sich die Böschung hinunter, ans Ufer, füllte die Flasche auf und trank gierig ein paar Schlucke.
Aus der Dunkelheit tauchten unerwartet die Umrisse von Hütten auf. Eine letzte Alp. Sie ging daran vorbei. Der Weg führte nun steil am Hang hinauf, in engen Serpentinen. Oben wurde der Grat sichtbar, eine ausgefranste Linie, die sich von beiden Seiten her in einen Einschnitt senkte, auf den der Weg zustrebte. Das Joch. Dort war die Grenze. Ihr Herz klopfte nicht nur vor Anstrengung.
Sie setzte sich auf einen Stein. So weit war sie also gekommen. Hatte sie daran gezweifelt? Sie war einfach gegangen, Schritt für Schritt, Stunde um Stunde, Tag für Tag, umsichtig, jede Gefahr meidend, Zukunft und Vergangenheit verdrängend, einzig konzentriert auf die Gegenwart. Nur das Jetzt zählte, der Augenblick, der eine, der nächste, der folgende, nichts anderes. Sie spürte ihr Herz, wie es hart gegen die Rip pen schlug. Es war ihr, als müsste das Pochen auch ausserhalb ihres Körpers zu hören sein.
Dann war es eindeutig das Poltern eines Steins, das von oben kam. Sie schrak auf, horchte. Da oben musste jemand sein. War es nur ein Wildtier? Eine Gämse, ein Steinbock? Wieder lösten sich Steine. Und schliesslich vernahm sie auch Stimmen.
Was hatte sie sich denn gedacht? Dass sie die Einzige war, die sich vom Land auf der anderen Seite Sicherheit versprach? Die Einzige, die diese beschwerliche Reise auf sich nahm, weil sie trotz allem, was geschehen war, immer noch am Leben hing? Es war nicht mehr als ein lautes Flüstern. Ein Fluch, wenn ein Stein losgetreten wurde. Kein Zweifel, dass sich da Leute vor ihr auf dem Pfad befanden. Mindestens zwei. Und so wie sie sich im Gelände bewegten, taten sie offenbar ihr Möglichstes, um nicht bemerkt zu werden.
Sie atmete auf. Vor denen brauchte sie keine Angst zu haben. Die hatten dasselbe Ziel wie sie. Sie ging schneller, versuchte aufzuholen, die Distanz zu verkürzen. Sie war nicht mehr allein! Diesmal klopfte ihr Herz vor Erleichterung. Vor Magdas Stimme, die sich einmischen wollte, verschloss sie die Ohren.
Sie hatte die beiden bald vor sich. Sie schienen sehr erschöpft zu sein. Um sie nicht überholen zu müssen, passte sie ihren Schritt an. Sie trat noch vorsichtiger auf als zuvor, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Trotzdem konnte sie es nicht ver hindern, dass sich auch unter ihrem Schuh ein Stein löste. Die beiden blieben wie angewurzelt stehen. «Da ist wer!», flüsterte derjenige, der hinten ging. «Wer da?», fragte der andere energisch. «Los, gib dich zu erkennen!» Sie trat ein paar Schritte vor, dass die beiden ihre Silhouet te sehen konnten. «Wir sind auf demselben Weg», flüsterte sie. «Eine Frau!», stellte der eine erstaunt fest. «Bist du allein?», wollte sein Begleiter wissen.
«Ja», bestätigte sie. Er blieb misstrauisch. «Mach keinen Fehler», zischte er. «Jeder Fehler ist tödlich. Und dann hängst du mit drin.» «Ich bleibe ein paar Schritte zurück», schlug sie vor. «Nichts da!», befahl derjenige, der offenbar das Sagen hatte. «Du bleibst dicht dran!»
«Wie ihr wollt», lenkte sie ein. Jetzt stellte sich die Furcht wieder ein. Waren die beiden bewaffnet? Würden sie sie im entscheidenden Moment wieder loswerden wollen? Sie wusste ja nicht einmal, ob sie tatsächlich Flüchtlinge waren. Oder einfach nur Schmuggler. Aber dafür hatten sie zu wenig Gepäck bei sich.
Sie versuchte insgeheim, den Abstand langsam zu vergrössern, aber der Anführer, der voranstieg, blieb immer wieder stehen, drehte sich nach ihr um und ging erst weiter, wenn sie aufgeschlossen hatte.
Der Pfad wurde steiler, war nicht viel mehr als eine Rinne, gefüllt mit kleinen und kleinsten Steinsplittern, auf denen der Schuh bei jedem Schritt rutschte. Jetzt war sie froh um den Stock.
Die beiden vor ihr keuchten, es war deutlich zu hören. Wahrscheinlich hatten sie so wenig Gebirgserfahrung wie sie selber. Auch ihr eigener Atem ging stossweise, und obwohl es empfindlich kalt war hier in der Höhe, schwitzte sie vor Anstrengung.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon hochgestiegen waren. Der Grat schien immer gleich weit entfernt, so langsam kamen sie voran. Immer wieder hob sie ihren Blick und suchte den Kamm ab, ob sich dort oben etwas regte. Aber es blieb still. Da war nur ihr Atem. Nur das Rieseln der Steine. Trotzdem spürte sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Dazu bedurfte es Magdas Stimme nicht. Es war nicht zu ändern.
Wieder blieb sie zurück. Bückte sich, weil ein Schnürsenkel sich gelöst hatte. Vor ihr verschwanden die beiden Männer hinter den nächsten Felsblöcken.
In diesem Augenblick blitzte weiter oben ein Licht auf, und eine Stimme rief genau die Worte, die sie schon in ihren Träu men vernommen hatte: «Stehen bleiben oder ich schiesse!»
Anna konnte nichts sehen, weil die Felsen zwischen ihr und den anderen waren. Instinktiv kletterte sie seitwärts zwischen die Steinblöcke, duckte sich und lauschte. Die Grenzer hatten also doch auf der Lauer gelegen. Jetzt kamen sie herunter. Satzfetzen flogen hin und her, ein Gewehrhahn knackte. Sie verstand jedes Wort, das gesprochen wurde, woher, wohin, wie viele, Ausweis, Hände auf den Rücken, aber die Worte prallten an ihr ab, es war, als lausche sie einem Hörspiel im Radio, einem Ereignis, das sie nicht eigentlich etwas anging. Und doch war da noch eine andere Stimme, die immer lauter wurde, bis sie schliesslich alles übertönte: «Jetzt ist es aus – das ist das Ende.»
Das Ende. Immer wieder: das Ende.
Folge 15
Nach einer Ewigkeit, wie ihr schien, kamen die Grenzer mit ihren Gefangenen den Pfad herunter. Der vorderste trug eine Laterne. Anna zählte fünf Schatten. Zweien waren die Hände auf den Rücken gebunden. Die anderen trugen Gewehre.
«Und wo habt ihr die Frau zurückgelassen?», fragte der mit der Laterne, als sie nahe an ihrem Versteck vorbeigingen. Sie schrak zusammen. Es war so weit. Sie hatte es nicht geschafft. Da oben, in Reichweite, vielleicht zehn, fünfzehn Minuten zu Fuss, die fehlten, da oben war der Pass, die Grenze, wo das andere Land begann. Aber sie hatte es nicht geschafft.
«Wo habt ihr die Frau zurückgelassen?» «Unten auf der Alp», antwortete einer. «Bei den Hütten?» «Bei den Hütten.»
«Warum?», fragte der Grenzer. «Sie war erschöpft und konnte nicht mehr weiter.»
«Und da habt ihr sie einfach zurückgelassen?»
«Sie wollte es so.»
«Judenpack – einfach im Stich gelassen!» Sie verschwanden um die nächste Wegkehre. Längere Zeit vernahm sie noch ihre Stimmen, das Poltern der Steine, harsche Befehle. Sie gaben sich keine Mühe, leise zu sein, es gab keinen Grund mehr dazu.
Anna blieb liegen, wo sie war. Jede Kraft war aus ihr gewichen. Es gab Augenblicke, da dachte sie, sie sei tot. Sie fühlte nichts mehr. Nicht einmal die spitzen Steine, auf denen sie lag. Sie lag zusammengekrümmt zwischen den Felsblöcken. Ein dunkles, lebloses Bündel. Es war ihr fremd, es gehörte nicht zu ihr. Sie war ausserhalb der Zeit. Die Zeit zerrann. Bis unten im Tal, vielleicht bei den Hütten, der Knall eines einzelnen Schusses die Dunkelheit zerriss.
Josef!, dachte sie und spürte, wie wieder Leben in ihren Körper kam. Es war, als kehrte sie in eine enge Gefängniszelle zurück. Der harte Untergrund stach durch die Kleider hindurch in die Haut. Die Zunge, dick und rau im ausgetrockne ten Mund, war wie aufgequollen. Die Blasen an den Füssen und die Schwielen an den Händen begannen zu brennen.
Ein einzelner Schuss. Die Stille explodierte. Die Dunkelheit wie von einem Blitz zerrissen. Dann nichts mehr. Das, worauf sie wartete, kam nicht. Sie hätte auch nicht sagen können, worauf sie genau wartete. Auf alles, nur nicht auf diese absolute Stille.
Josef, dachte sie – wie fühlte es sich an, erschossen zu wer den? Ein Schlag, der ihn umwarf? Brennende Pfeile, die ihn durchdrangen? Schrie er, versuchte er noch davonzukriechen? Was waren seine letzten Gedanken? Lässt sich das Denken überhaupt beeinflussen in diesem Augenblick? Hatte er an sie gedacht? Oder war er so mit seiner Flucht beschäftigt gewesen, auf die vermeintliche Gunst der Stunde oder auf die Verzweiflung konzentriert, dass er nur die nächste Hecke, eine niedrige Steinmauer, einen Baum, ein Haus vor Augen hatte? Ob er gleich tot war nach dem ersten Schuss? Oder ob einer, der sah, dass er noch lebte, die Pistole hervorholte und aus nächster Nähe … War er tatsächlich geflohen, er, der unschlüssige Josef, dessen ganzes Leben ein einziges Zaudern gewesen war? Hatten sie ihm vielleicht sogar gesagt, lauf, du kannst gehen, hau ab, und hatten ihn dann in den Rücken geschossen?
Als er stürzte, dachte sie, und sie konnte sich nichts anderes vorstellen, als dass er gestürzt war, fiel er in die Freiheit. Sie wiederholte es, mehrmals, halblaut: in die Freiheit – in die Freiheit. So wollte sie es haben. So musste es gewesen sein. Es war das letzte, was sie für ihn tun konnte. Für ihn und für sich. Der Schweiss klebte kalt auf ihrer Haut. Sie fror. Sie rappelte sich auf, blickte nach oben, zum Grat. Nichts. Wo waren die Schweizer Grenzwächter? Würden sie sie zurückschicken, falls sie ihnen in die Arme lief? Es gab so viele Gerüchte, und niemand konnte sich für das verbürgen, was er gehört hatte.
Sie tastete nach der Tasche, dem Stock und stieg aus dem Steinwirrwarr hinaus auf den Pfad. Vorsichtig bewegte sie sich auf die Wegbiegung zu, lugte um die Felsnase nach oben. Es blieben keine hundert Meter mehr bis zum Kamm. Wieder hämmerte ihr Herz, dass sie sich zu jedem Schritt zwingen musste.
Und dann war sie oben, im Einschnitt, auf dem Joch, und die Steine, die aus der Entfernung in der Dunkelheit wie lauernde Gestalten ausgesehen hatten, waren nichts als Steine. Sie blieb stehen, blickte nach rechts, nach links, wo sie die Umrisse einer Postenhütte erkennen konnte, die am Hang klebte. Alles blieb still. Keine Schritte, die sich näherten, kein Zuruf, kein knackender Gewehrhahn. Nichts. Nur ihr keuchender Atem. Ungläubig spähte sie ins fremde Tal hinunter, das sich vor ihr auftat und das ihr ein bisschen heller erschien als dasjenige in ihrem Rücken, obwohl sie sich das sicher nur einbildete. Das Helle war der Schnee, der ganz nah war und zu beiden Seiten bereits die Spitzen des Grats bedeckte. Sie konnte sich von dem Anblick nicht lösen, der nächste Schritt war wie ein Schritt ins Leere, in ein anderes Leben, das nicht zu ihr gehörte. Und vielleicht war alles nur eine Falle.
Sie kam erst wieder zu sich, als sie die steilen Serpentinen hinter sich hatte und der Bergpfad aus Schotter und Geröll hinausführte auf die ersten Matten mit dürrem Herbstgras. Sie ging auf einem Weg, der im Vergleich zum Aufstieg drüben fast wie ein Silberband vor ihr lag.
Ein seltsames Licht geisterte durch das Tal, auch wenn der Mond nirgends einen Durchschlupf gefunden hatte in der dichten Wolkendecke.
Folge 16
Sie ging jetzt wieder schneller, beeilte sich, möglichst rasch vom Pass wegzukommen, Distanz zu schaffen zwischen sich und der Grenze, deren Bewacher ihr vielleicht immer noch gefährlich werden konnten.
Wie lange sie so ausgeschritten war, konnte sie nicht abschätzen. Ob es bereits gegen Morgen ging. Oder ob Mitter nacht kaum vorbei war. Als sie auf Hütten stiess, war sie so erschöpft, dass sie sich, ohne lange nach einer Einstiegsmöglichkeit zu suchen, unter eine Treppe legte, wo Brennholz lagerte. Auf den Holzschnitzeln und Rindenstücken, die eine leicht federnde Unterlage bildeten, schlief sie sogleich ein.
Als sie erwachte, war es heller Tag. Sie blinzelte in die Sonne und wusste im ersten Moment nicht, wie sie hierhergekommen war. Nur, dass sie die ganze Nacht auf der Flucht gewesen war, auch in ihren wirren Träumen. Dass die Häscher nach ihr gegriffen hatten, gierige, obszöne Hände, die mehr wollten, als ihr nur den Passübergang zu verwehren. Sie richtete sich auf. Ihre Glieder waren steif und schmerzten. Sie stöhnte leise.
Bevor sie ihren Unterstand verliess, witterte sie, beinahe wie ein aufgescheuchtes Rotwild. Weit oben zog sich der Grat von Gipfel zu Gipfel, als wäre er der zackenstarrende Rücken eines versteinerten Urgetiers. Der Einschnitt des Jochs war von hier schon nicht mehr zu sehen.
Das Seitental zog sich lang und unbewohnt ins Haupttal hinunter. Murmeltiere pfiffen warnend, wenn sie in ihre Nähe kam. Einmal beobachtete sie, wie zwei Gämsen hoch über ihr zwischen den Steinen am Steilhang nach Futter suchten. Kurz vor der Einmündung ins Haupttal standen die ersten Bäume, und sie war froh, nicht länger der prallen Sonne ausgesetzt zu sein. Sie setzte sich abseits vom Weg in den Schatten einer Arve. Es war nichts Essbares mehr in ihrer Tasche. Nur an Wasser fehlte es ihr nicht, sie hatte die Flasche im Bach wieder aufgefüllt.
Sie stieg hinunter durch den Wald, bis sie von seinem talseitigen Saum aus das Dorf erblickte. Es lag ein Stück tiefer auf einer schmalen Geländeterrasse am Hang. Von oben sah man nur die dicht beieinanderliegenden Dächer.
Etwas ausserhalb des Dorfes, auf einem kleinen Hügel, stand eine Kirche. Und das einzelne Haus über dem Dorf musste ein Schulhaus sein. Sie liess ihren Blick über das Tal schweifen.
Es schien in der Nähe keine weiteren Orte zu geben. Auf der gegenüberliegenden Seite reihten sich mächtige Bergrücken aneinander, die mit ihrer dunklen, im Gegenlicht fast schwarzen Bewaldung wie die gewölbten Buckel gutmütiger Riesen wirkten.
Das erste Glücksgefühl, das sie durchströmte, wollte, dass sie gleich hinuntereilte, ins Dorf, zu den Menschen, jetzt, unverzüglich. Aber Magdas Stimme erreichte sie auch jenseits der Grenze: Konnte sie tatsächlich davon ausgehen, dass man sie hier aufnehmen, ihr helfen würde? Oder würde man sie der Polizei übergeben, sie zurückschaffen, wenn sie sich an die falsche Person wendete? Vielleicht war sie nicht gut beraten, wenn sie am helllichten Tag in dem fremden Dorf auftauchte. Vielleicht war es besser, auch hier den Einbruch der Dunkelheit abzuwarten. Sie war erleichtert, nachdem sie einen Entschluss gefasst hatte. Als Erstes würde sie beim Schulhaus anklopfen.
Nach dem Sonnenstand schätzte sie, dass früher Nachmittag war. Sie zog sich in den Wald zurück und versuchte, ein wenig zu schlummern. Aber der Hunger rumorte in ihren Eingeweiden, dass nicht daran zu denken war. Der Magen, nur mit Wasser gefüllt, begann erneut zu rebellieren, und immer wieder musste sie die Hände auf den Bauch pressen gegen den stechenden Schmerz. Irgendwann machte der Hunger einer reglosen Gleichgültig keit Platz. Über die bewaldeten Bergrücken stiegen die Schatten empor. Das Licht auf den Dächern unten im Dorf erlosch, nur noch die Kirche und das Schulhaus standen in der Spätnachmittagssonne. Das Gelb der Lärchen verblasste. Dann krochen die letzten Strahlen über die Grate zwischen den Bergrücken in die südlicheren Täler hinüber. Es wurde rasch kalt.
Bei Beginn der Dämmerung trat sie aus dem Wald und stieg über die steilen Wiesen hinunter. Rinderhufe hatten unzählige Stufen in die Erde getreten, die wie holprige, terrassierte Pfade am Hang entlang ins Nichts verliefen. Das Schulhaus lag im Dunkeln, nur im ersten Stock war ein Fenster erleuchtet. Ein paar Mal strauchelte sie noch, und nur der Haselstecken bewahrte sie vor dem Sturz. Dann stand sie auf dem Vorplatz, auf den eine schmale Fahrstrasse mündete, die vom Dorf unten kam.
Sie blickte hoch zu dem erleuchteten Fenster. Hinter den Gardinen liess sich keine Bewegung ausmachen. Sie näherte sich der Haustür, in deren oberen Teil eine geriffelte Glasscheibe eingelassen war, geschützt von einem metallenen Ziergitter. Im Rahmen neben der Tür befand sich ein Klingelknopf. Es war zu finster, als dass sie hätte lesen können, was auf dem Schild darunter stand. Einen Augenblick zögerte sie noch, dann drückte sie fest auf den Knopf. Sie hörte, wie die Glocke im Inneren des Hauses schellte.
Eine Weile geschah nichts. Sie dachte schon, die Bewohner hätten das Läuten nicht wahrgenommen. Oder es sei gar nie mand da, und jemand habe vergessen, das Licht zu löschen, bevor er weggegangen war. Aber dann öffnete sich oben plötzlich knarrend ein Fenster. Es war nicht das erleuchtete, sondern dasjenige, das daneben lag. Eine männliche Stimme erkundigte sich, wer da sei.
Etwas hinderte sie daran, ihren Namen preiszugeben. Der Fragende hätte damit auch nichts anfangen können. Stattdessen bat sie um Entschuldigung für die nächtliche Störung.
Folge 17
Das Fenster wurde geschlossen. Wenig später ging das Licht an über dem Eingang, und sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Der Mann, der in der offenen Tür stand, war ein paar Jahre älter als sie. Vielleicht schien er auch nur älter, als er war. Das schmale Gesicht war von Furchen durchzogen, die das ursprünglich Weiche beinahe ausgelöscht hatten. Nur die Nase zeugte noch davon. Die Augen waren hell, das dichte, leicht gekrauste Haar war schon ergraut. Es weckte Vertrauen, dieses Gesicht, das war trotz allem ihr erster Eindruck. Aber vielleicht war es auch nur das, was sie darin zu sehen hoffte. Vielleicht war es Verletzlichkeit, die sie hinter der zerfurchten Haut ahnte, Verletzlichkeit und eine tiefe Trauer.
3
«Und du hast die Frau einfach hereingelassen», sagte Giusep. Es war eine Feststellung, keine Frage. Er hatte Anton den Rücken gekehrt, stand breitbeinig über dem Kotgraben und pinkelte. Im Stall war es warm von den Ausdünstungen der Kühe und Rinder. Der Geruch von Dung und Urin hing betäubend unter der niedrigen Holzdecke.
Giusep wusste, dass sein Schwiegersohn jetzt die Schultern hob. Unschlüssig. Zögernd. Eine angedeutete Bewegung nur. Er wusste es, ohne hinzusehen. Er knöpfte den Hosenschlitz zu, packte die Mistgabel und begann, Kothaufen und verschmutztes Stroh in die Mistkarre zu schaufeln. «Du musst sie melden», sagte er. «Das weisst du hoffentlich.» Anton nickte.
«Natürlich», sagte er, und Giusep drehte sich erstaunt um, weil er genau das nicht erwartet hatte. Beinahe hätte er gefragt, wann. Aber dann hätte Anton er neut mit den Achseln gezuckt. Also liess er es bleiben.
«Eine Jüdin», brummte er hinter dem Kautabak hervor. «Nein», widersprach Anton. «Woher willst du das wissen?»
«Sie hat mir ihren Pass gezeigt.» «Kein ›J‹ darin?»
Anton schüttelte den Kopf.
«Wo kommt sie denn her?», fragte Giusep. «Aus dem Vorarlbergischen», antwortete Anton.
«Die kommen doch sonst von Wien oder weiss ich woher.» «Aus Dornbirn», sagte Anton.
«Und sie ist übers Joch gekommen, behauptet sie?»
«So hat sie es erzählt.»
«Eine Frau, ganz allein? Das glaubst du wohl selber nicht!» «Eine Nachbarin hat sie unterstützt.» «Und jetzt?» «Sie kann vorläufig bei uns bleiben. Platz gibt es ja genug.»
«Bei euch in der Wohnung? Das meinst du nicht im Ernst?!» Giusep sah, wie Anton leer schluckte. Wie ein kleiner Junge kam er ihm vor, der vom Vater wegen einer Bagatelle abgekanzelt wird. Lächerlich. Er ärgerte sich.
«Sie kann in der kleinen Stube neben dem Schulzimmer schlafen», sagte Anton. «Die haben wir bisher nur als Abstell kammer benutzt.»
Giusep stiess die Mistgabel über den Stallboden, dass das Metall auf dem Stein hässlich kratzte. Die Kühe wurden unruhig. Ihre Schwänze zuckten, wurden aber durch die Schnüre, mit denen sie hochgebunden und an der Decke befestigt waren, am hin und her Klatschen gehindert. Eine Weile sagte keiner etwas. Schliesslich wandte sich Anton zum Gehen. «Du musst sie melden!», rief Giusep ihm nach.
Aber da hatte Anton die Tür bereits hinter sich geschlossen. Giusep stiess eines der Tiere mit der Schulter beiseite, um seine Arbeit machen zu können. Die Dämmerung brach früh herein, bald würde er nichts mehr sehen. Er fasste die Schubkarre an den Holzgriffen und fuhr sie hinaus zum Miststock vor dem Stall.
Der Hund, der draussen herumstreunte, wurde auf ihn aufmerksam und lief herbei. Er setzte sich in gebührender Entfer nung hin und kratzte sich mit dem Hinterlauf am Bauch. Als Giusep an ihm vorbeiging, winselte er. «Nu», brummte Giusep.
Der Hund sprang auf und trottete ihm nach in den Stall. Er liess sich in einer Ecke beim Eingang nieder, wo Stroh in einem leeren Abteil lagerte, und legte den Kopf auf die Pfoten. Giusep streute die Lagerplätze der Tiere mit frischem Stroh ein. Dann füllte er die Futterkrippen mit dem letzten bisschen Gras, das er noch hatte mähen können.
Gut achtundneunzig Prozent der Vorarlberger hatten im vergangenen Jahr dem Anschluss an das Reich zugestimmt. Es war, wie man vernommen hatte, das schlechteste Resultat eines österreichischen Bundeslandes. Das hatten sie jetzt davon. Und ihre Nachbarn mussten es mit ausbaden.
«Hallo!»
Er drehte sich um. Luzi stand in der Tür, sein Jüngster. Der Einzige, der noch den Haushalt mit ihm teilte. Alle waren sie ausgeflogen, von drei Söhnen und einer Tochter war nur er noch da. Und Barbla, in einer gewissen Weise. Den anderen war das Dorf zu eng geworden, das Tal. Früher hatte jeweils ein bitteres Lachen seine Kehle gekratzt, wenn er daran dachte. Heute wusste er, dass sie das Richtige getan hatten. Das Dorf konnte nicht mehr alle ernähren. Wer ging, tat das nicht nur für sich selber, sondern auch für die, die blieben.
Er hatte Zeit gebraucht, viel Zeit, bis er diese Wahrheit zu seiner eigenen hatte machen können.
«Schon Feierabend?», fragte er. Luzi zeigte ihm seine leeren Hände. «Keine Arbeit?»
«Wer kommt in dieser Zeit noch auf den Gedanken, sich einen Schrank oder ein neues Bett schreinern zu lassen?»
«Wenn man nicht weiss, was morgen ist», nickte Giusep.
«Bestellt werden nur noch Särge», sagte Luzi.
Folge 18
«Jetzt übertreibst du!»
«Ist doch wahr.»
Luzi drehte sich um und ging hinunter zum Haus. Giusep nahm die Mütze ab und kratzte sich am Hinterkopf. Luzi hatte in Flurin Caviezels Sägerei und Schreinerei die Lehre gemacht. Giusep hoffte, er würde später einmal den Hof übernehmen. Aber ob dieser dann noch eine Familie würde ernähren kön nen, war eine andere Frage. Auf jeden Fall konnte ein zweites Standbein nicht schaden. Wenn nicht grundsätzlich alles anders kam.
Die Furchen in Giuseps Gesicht zeichneten sich stärker ab, vertieften sich, und es war, als würden sich Schatten über Kämme und Täler schieben. Auch Luzi würde über kurz oder lang einrücken müssen wie seine älteren Brüder, die beide den Marschbefehl erhalten hatten.
Als er fertig war mit der Stallarbeit, stupste er mit dem Stiefel den Hund an, der im Schlaf mit den Pfoten zuckte. Das Tier blinzelte, erhob sich schwerfällig und ging ihm ein paar Schritte voran. Giusep liess die Stalltür hinter sich ins Schloss fallen und wusch sich am Brunnen Arme und Gesicht. Das kalte Wasser wirkte belebend nach der dumpfen Luft im Stall. Als er aufblickte, sah er, dass in der Küche bereits Licht brannte. Er beeilte sich, ins Haus zu kommen. Der Hund blieb vor der Tür sitzen.
In der Küche war niemand. Auf dem Tisch hatte es Krümel von Brot und Käse. Im Spülstein lagen ein Teller und ein Messer. Giusep trat in den Flur hinaus und rief nach Luzi. Es blieb still. Er schüttelte den Kopf. Sass er wieder im Gasthaus! Natürlich stritt der Junge ab, dass er nur wegen Madlaina hinging. Zugegeben, sie war hübsch und nicht auf den Mund gefallen. Aber eine Serviererin passte nicht in Giuseps Pläne. Und weggelaufen war der Kerl wieder, ohne das Licht auszumachen – wie oft hatte er ihm das schon gesagt!
Eigentlich war ihm nicht nach Kochen. Aber ausser Kaffee hatte er heute noch nichts Warmes zu sich genommen. Die Verlockung, ins «Crusch Alba» zu gehen und sich bedienen zu lassen, war gross. Doch dort war jetzt Luzi und machte Madlaina schöne Augen. Er kniete sich nieder und öffnete die Ofenklappe. Keine Glut mehr. Er stand auf, drehte den Hebel am Ofenrohr, ging wieder in die Hocke und schob Holz ein, Zündschnitzel und Zeitungspapier.
Vom Sims fischte er die Streichholzschachtel und riss ein Hölzchen an. Die Flamme leckte rasch am Papier hoch und griff auf die Späne über. Er schloss die Klappe und erhob sich ächzend. Das linke Knie machte ihm seit Längerem Mühe, aber das Ächzen gestattete er sich nur, wenn niemand in der Nähe war. Er hob die Bratpfanne vom Regal, setzte sie auf den Herd und holte Eier und Schmalz aus der Vorratskammer. Er gab einen Klacks Fett in die Pfanne, und als es zu brutzeln begann, schlug er zwei Eier hinein. In der Kaffeekanne war noch ein Rest Flüssigkeit vom Morgen. Er schob sie auf den Herd, schnitt Brot, nahm einen Teller und eine Tasse aus dem Küchenschrank und Besteck aus der Schublade.
Als schliesslich alles auf dem Tisch stand, musste er noch einmal aufstehen, weil er das Salz vergessen hatte. Er tunkte das Brot ins Eigelb und ass. Mechanisch und ohne grossen Appetit. Einfach weil es sein musste. Auf Befehl, wie damals im Militär. Zuerst die Waffen, dann das Material, zuletzt der Mensch. Am Fenster surrte eine Fliege. Sie schlug immer wieder gegen die Scheibe und hinterliess kleine, dunkle Kotpunkte.
Giusep war es gewohnt, allein zu essen. Er frühstückte erst nach dem Melken. Da war Luzi schon ausser Haus. Früher hatten sie wenigstens gemeinsam zu Abend gegessen. Auch als die anderen noch zu Hause waren. Aber das war lange her. Er ver suchte zu rechnen: Als Clara starb, da war Luzi gerade mal drei Jahre alt. Und Barbla ging damals noch zur Schule. Der Krebs, das unheimliche Tier, hatte kein Erbarmen gekannt. Mit vier Kindern und einem Bauernhof, der zu wenig abwarf, war er dagestanden. Wenigstens hatte Clara nicht lange leiden müssen. Nur ein halbes Jahr nach der Diagnose waren er und die Kinder ihrem Sarg hinauf zur Kirche gefolgt. Eingeschüchtertes Fussvolk, dem der aufrechte Gang abhandengekommen war.
Ohne Babigna hätte er es nie geschafft. Die gute Seele, die auf eine eigene Familie verzichtet hatte und jetzt auch Barbla zur Seite stand. Was, wenn er sie geheiratet hätte? Hätte er das denn gekonnt? Und hätte Babigna es auch gewollt? Sie hatte nie etwas gesagt. Aber vielleicht hatte sie ja all die Jahre nur auf einen Antrag von ihm gewartet. Er wischte mit der rechten Hand die Brotkrümel zusammen, schob sie über den Tischrand hinaus in die offene Linke und kippte sie in den Teller.
Nein, er hatte Babigna nicht ausgenutzt, er hatte sie bezahlt. Recht bezahlt. Sogar mehr, als sie verlangt hatte. Und was wäre gewesen, wenn er ihr einen Antrag gemacht und sie ihn abgelehnt hätte? Das hätte die Sache nur schwierig gemacht. Und er, in seinem verletzten Stolz, hätte künftig auf ihre Hilfe verzichten müssen. Er kannte sich da zu gut. Wahrscheinlich war das überhaupt der Grund, dass es nach Clara keine andere Frau mehr geben konnte für ihn.
Er trank die Tasse aus. Der Kaffee war nur noch lauwarm und schmeckte bitter.
Nachdem er Geschirr und Besteck abgeräumt und neben die Spüle gestellt hatte, schob er im Herd ein paar Holzscheite nach und regulierte die Klappe, damit die Wärme nun hinüber in den Kachelofen in der Wohnstube floss. Er nahm die Zeitung von der Küchenbank, löschte das Licht und ging in die Stube. Durch die Fensterscheiben sah er die Lichter in den Nachbarhäusern und die unruhig flackernde Strassenlaterne auf dem kleinen Platz, wo der Dorfbrunnen stand. Über den Dächern erhob sich der Piz Malört, ein mächtiger Schatten, noch dunkler als seine Umgebung.
Folge 19
Er tastete nach dem Schalter neben der Tür. Das Licht der Lampe warf einen gelben Kreis auf das bestickte Tischtuch, das noch von seiner Mutter stammte. Irgendwo am Saum waren ihre Initialen eingewirkt, LS, Leta Simonett. Er suchte nach der Brille. Das war neu, dass er nicht mehr wusste, wo er sie hingelegt hatte, und er ärgerte sich darüber. Für diese schleichende Altersnachlässigkeit war er noch nicht bereit. Man durfte sich nichts durchgehen lassen. Er wusste genau, so fing es an. Und dann war es plötzlich mit nichts mehr aufzuhalten. Beispiele gab es genug im Dorf. Vor drei Jahren hatte er das Amt des Gemeindepräsidenten abgegeben. Aber von ihm sollte es nicht jetzt schon heissen, er lese jeden Tag nur noch die Zeitung. Ein Armutszeugnis! Es würde noch früh genug kommen.
Die Brille lag in der Obstschale zwischen den Äpfeln. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, warum er sie dorthin gelegt hatte. Er zog einen Stuhl heran, setzte sich und schlug die Zeitung auf. Die Druckerschwärze war so finster wie der Inhalt. Leichenpost, dachte er. Das Wort war ihm in diesem Augenblick zugeflogen. Er schüttelte den Kopf. Was stand schon in der Zeitung – zensierte Berichte über die Kriegsgräuel, Zahlen zur wirtschaftlichen Krise, Behördenaufrufe, Unfallmeldungen, das Wetter. Nichts, ohne das man nicht ausge kommen wäre. Er griff nach dem Tabakbeutel und stopfte die Pfeife. Beim Anzünden stieg der Rauch in den Lampenschirm und trübte für eine Weile das Licht. Früher hatte er nie in der Stube geraucht, Clara hätte das nicht zugelassen. Auch wegen der Kinder nicht. Jetzt, wo er allein war, störte sich keiner mehr an seinem würzigen Tabak.
Der Rauch hüllte ihn ein wie herbstliche Nebelschwaden. Es war, als ob er sich so einen abgekapselten Raum schaffen könne innerhalb der ihn umgebenden Welt, als könne er sich abnabeln, einigeln, verborgen und bewegungslos.
Nun erst war er fähig, sich den Inhalt der Zeitung zuzuführen. Er vertiefte sich in einen Artikel über die neuen Richtlinien der Zensur. Statt dass man dem geifernden Hund jenseits der Grenze einen Maulkorb verpasste, zog man ihn selber über, um den anderen nicht unnötig zu reizen. Erläuterungen zum Verbot, Kriegsmaterial auszuführen. Die Haltung des Bundesrates in dieser und jener Hinsicht. Wirtschaftszahlen. Aber durfte man den Meldungen noch vertrauen? Versteckten sich nicht, seit Langem vielleicht, Manipulationen zwischen den Zeilen? Und vor allem: Was hielten die Meldungen zurück, was nicht für Augen und Ohren der Allgemeinheit bestimmt war? Schon als Gemeindepräsident hatte er mehr gewusst als der gewöhnliche Steuerzahler. Um wie viel mehr musste es gehen, je näher man dem Zentrum der Macht stand? Da rauchte dann keiner mehr diesen billigen Tabak aus dem Dorfladen.
Qualm hing in der Luft, sie war schwer und aromagesättigt. Die Buchstaben liefen in ungeordneten Formationen aus dem Text heraus. Zwischen den Zeilen fand Giusep endlich eine ruhige Ecke, wo er seinen Kopf hinlegen konnte.
Er wurde wach, weil ihn jemand an den Schultern rüttelte.
«Willst du nicht schlafen gehen?» Giusep rieb sich verwundert die Augen. Es war Luzi. «Schon zurück?» Luzi lachte. «Du solltest vielleicht mal einen Blick auf die Uhr werfen», meinte er. «Wo du recht hast, hast du recht», brummte Giusep. Die Zeiger der Uhr auf dem Buffet standen auf Viertel vor elf. Er schob die bedruckten Blätter auf dem Tisch zusammen. «Neuigkeiten?», fragte Luzi und deutete auf die Zeitung. Giusep schüttelte den Kopf. «Und im Dorf?», wollte er wissen. Luzi zuckte die Achseln. «Wiederkäuer, allesamt. Nach dem dritten Bier dreht man sich im Kreis.» Giusep klopfte die Pfeife im Aschenbecher aus und stand auf. «Tja, dann gute Nacht», sagte er. «Gute Nacht», sagte Luzi, während er die Fenster aufriss und die kalte Nachtluft in die verrauchte Stube strömen liess.
Mit dem Einschlafen war das heute keine so einfache Sache. Während beinahe einer Stunde wälzte sich Giusep vergeblich hin und her, und als das ständige Knarren der Bettstatt auch keine Ruhe zuliess, setzte er sich auf und griff nach der Schnapsflasche, die im Nachtschränkchen stand. Er zog den Korken heraus und nahm drei tüchtige Schlucke. Früher hatten sie noch in der Kehle gebrannt, jetzt spürte er nicht einmal mehr das.
Immer wieder ging ihm Antons Beichte durch den Kopf: dass er eine Frau, die von drüben geflüchtet war, bei sich aufgenommen hatte. Also, eine Beichte war es ja nun gerade nicht gewesen. Er war einfach gekommen, um seinen Schwiegervater zu informieren. Oder um Rat zu fragen. Er hatte ziemlich verunsichert gewirkt. Aber das Wort Beichte wollte Giusep trotzdem nicht aus dem Kopf. Hing es damit zusammen, dass es sich um eine Frau handelte? Was, wenn es ein Mann gewesen wäre? Hätte Anton ihm da vielleicht gar nicht Unterschlupf gewährt? Nach dieser Überlegung musste er gleich nochmals zur Flasche greifen.
Drei Tage hatte Anton angeblich gewartet, bis er es jemand gesagt hatte. Und dieser Jemand war er, der Schwiegervater. Barbla hatte er es natürlich gesagt. Zumindest behauptete er das. Barbla verstand schon, was man ihr sagte. Sie merkte auch, wenn man ihr etwas vorenthielt. Es war nur schwierig, mit ihr zu kommunizieren, ihre Antwort zu verstehen, wenn es nicht genügte, dass sie nickte oder den Kopf schüttelte. Zur Not konnte sie auch etwas aufschreiben, aber das bereitete ihr Mühe, war anstrengend und brauchte Zeit.
Folge 20
Folge 20Die Frau hustete, hatte Anton gesagt. Sie habe sich auf ihrer mehrtägigen Flucht erkältet. So würde sich ihre Anwesenheit nicht lange verheimlichen lassen. Die Schüler würden kaum glauben, dass es die Frau des Lehrers sei, die im Nebenraum hustete. Denn die blieb doch seit ihrer Erkrankung nur noch oben in der Wohnung. «Damit ich besser nach ihr sehen kann», konnte Anton allenfalls entsprechenden Fragen begegnen. Andererseits: Was hatte die Frau zu befürchten? Dass sie abgeschoben würde? Sie war ja offensichtlich keine Jüdin. Nach dem Anschluss ans Reich hatte man für Inhaber österreichischer Pässe die Visumspflicht eingeführt. Dann war die österreichische Grenzwache in die deutsche integriert worden. Alle Pässe hatte man durch deutsche ersetzt. Und der deutsche Pass verlangte kein Visum. In Strömen waren sie dann über die Grenze gekommen. Da nützte auch das Schliessen der Grenzübergänge nichts. Erst der Stempel hatte den ungehinderten Zustrom von Juden gebremst. Man konnte schliesslich nicht das Schicksal des eigenen Staates aufs Spiel setzen unter dem Vorwand, humanitäre Hilfe leisten zu müssen. Es war nicht richtig, da hatte Anton recht. Aber er hatte auch keine Antwort auf den Flüchtlingsstrom. Die Obrigkeit befahl, und man gehorchte. Es geschah ja zum Wohl des Landes, der eigenen Bevölkerung. Das musste doch jeder einsehen. Wenn die Frau illegal eingereist war, dann musste sie der nächsten Polizeistelle übergeben werden. Im Dorf gab es aber keinen Polizisten. Da waren die unten im Tal zuständig. Saluz war es, der benachrichtigt werden musste, der Gemeindeschreiber. Der würde das Notwendige veranlassen. Dass man die Frau zur Einvernahme abholte. Und dann würde man weitersehen.
Warum war Anton zu ihm gekommen? Damit er sich nicht selber die Hände schmutzig machen musste? Anton war kein hartgesottener Kerl, keiner, der mit den Ellbogen durchs Leben ging. Er war ein weicher Mensch. Sicher, er hatte seine Linie, er wusste, was er tat und sagte, aber manchmal hätte er dem Mann seiner Tochter doch etwas mehr Bestimmtheit im Auftreten gewünscht. Er kam von unten, vom Rheintal, er war kein Arquint, er war nicht von hier, auch nach zwölf Jahren nicht. Er hatte seinen Rucksack zu tragen, gewiss keinen leichten. Doch wem war das schon vergönnt hier oben.
Giusep langte nochmals nach der Flasche, verkorkte sie und schloss sie ins Schränkchen. Als er sich zurücklegte, war das zerwühlte Kissen spürbar weicher geworden.
Der Morgen war trüb. Die Wolken trieben grau und schwer über die Bergrücken, und der heftige Wind riss das Gold aus den Lärchen.
Giusep molk die Kühe und fuhr die Milch zur Sammelstelle. Als er mit der Stallarbeit fertig war, wusch er sich, frühstückte und wechselte die Kleider. Dann machte er sich auf den Weg hinauf zum Schulhaus. Einmal im Monat schaute er nach Barbla und machte einen Höflichkeitsbesuch bei Tochter und Schwiegersohn. Diesmal ging es um etwas anderes: Er wollte die Fremde sehen. Mit eigenen Augen.
Giusep hatte den Hut tief in die Stirn gedrückt. Er stapfte gegen den Wind den Hang hinauf. Ab und zu geriet er in einen Regenschauer, der sich wie ein Schwarm aufgescheuchter Wes pen auf ihn stürzte. Er hatte einen Schirm bei sich, aber es war sinnlos, ihn bei diesem Wind aufzuspannen.
Von Weitem sah er, dass die Schüler auf dem Schulhof herumtollten. Er kam richtig, zur Zeit der grossen Vormittagspause. Hinter dem Schulhaus traf er auf drei Mädchen, die sich offenbar vor dem lauten Trubel zurückgezogen hatten. Er kannte sie, sie grüssten höflich. Eigentlich hatte er gehofft, schon draussen auf Anton zu treffen.
«Wo finde ich den Lehrer?», fragte er die älteste der drei.
Sie deutete wortlos auf die Tür. Er nickte und stiess die Tür auf. Im Flur war es düster. Er suchte nach dem Lichtschalter und drehte die Beleuchtung an. Die Tür zum Schulzimmer war nur angelehnt. Anton stand an einem der Fenster und rauchte. Der Lärm vom Pausenhof drang zum Fenster herein, so dass er nicht hören konnte, wie jemand ins Zimmer trat.
Giusep klopfte mit dem Schirm gegen den Türrahmen.
«Allegra», sagte er, als Anton sich umwandte. «Allegra», wiederholte Anton. Hinter seinem Morgengruss lag ein Fragezeichen. Er drückte den Zigarettenstummel aus und kam langsam auf Giusep zu, der in der Tür stehen geblieben war. Das Wasser tropfte vom Hut, den sein Schwiegervater in der Hand hielt.
«Ich wollte nach Barbla sehen», sagte Giusep. «Sie ist oben.» Giusep nickte.
«Da ist noch etwas anderes», sagte er. «Ich wollte nochmals mit dir über diese Frau sprechen.» Er deutete auf die Wand, hinter welcher der kleine Neben raum lag.
«Die Pause ist gleich zu Ende», sagte Anton. «Und ich kann nicht vor den Schülern …»
«Die haben doch längst gemerkt, dass etwas nicht stimmt.» Anton zuckte die Schultern. «Wie du willst», lenkte Giusep ein. «Ich gehe nach oben, zu Barbla.»
«Tu das», seufzte Anton. «Aber sprich nicht mit ihr darüber. Sie soll sich nicht unnötig aufregen.»
Giusep kniff die Lippen zusammen und nickte nachdenklich. Dann drehte er sich um, trat hinaus in den Flur und stieg die Treppe hinauf. Noch bevor er anklopfen konnte, schellte die Pausenglocke durch das Gebäude, und das Schwatzen und Lachen der hereinströmenden Kinder erfüllte das Treppenhaus. Er wartete, bis sich die Tür des Schulzimmers geschlossen hatte und er Antons Stimme hörte, die Ruhe befahl. Er klopfte an die Wohnungstür und trat ein.
Folge 21
«Hallo Barbla», rief er aus dem Flur. Kein Laut drang an sein Ohr. «Besuch kommt!» Er stellte den Schirm in die Ecke und legte den Hut auf die Ablage. Dann ging er in die Wohnstube. Barbla kam ihm entgegen, langsam, das Bein schlenkernd, auf den Stock gestützt. Im Gegenlicht sah er ihren Gesichtsausdruck nicht. Sie musste am Fenster gestanden und das Treiben auf dem Schulhof beobachtet haben.
Wenn sie das regelmässig tat, dann konnten die Schüler, wenn sie am Haus hochblickten, zufällig, im Spiel, die Gestalt oben am Fenster, hinter den Gardinen, erkennen. Und dann konnten sie sich denken, dass es nicht die Frau Marxer war, die Lehrersfrau, die im stets abgeschlossenen Raum neben dem Schulzimmer seit drei Tagen hustete.
Er ging die paar Schritte auf seine Tochter zu und umarmte sie mit einer Behutsamkeit, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. Sie liess es geschehen. Als er sich von ihr löste, sah er ihren fragenden Blick. «Ja, ich bin etwas früher gekommen als sonst», sagte er. «Das meinst du doch. Aber man muss sich ja nicht immer an strikte Regeln und Termine halten. Von denen gibt es noch genug. Und in diesen Zeiten kann es nicht schaden, wenn man sich gegenseitig stützt.» Er wusste, er hatte nichts verraten. Aber zu viel gesprochen. Der alte Arquint machte nur mehrere Sätze am Stück, wenn er etwas zu verbergen hatte. Sonst kam es ihm nie in den Sinn, sich für etwas zu rechtfertigen.
Ohne es zu merken, trommelte er mit den Fingern auf die polierte Kante des Buffets. Durch Barblas Blick fühlte er sich erneut ertappt. Er hatte sich zu wenig vorbereitet auf diesen Besuch. Das gab einen Tanz auf glattem Parkett.
«Ich habe Anton gerade noch gesehen, bevor die Pause vorbei war», sagte er. «Keine leichte Aufgabe, diese ungestümen Bälger zu unterrichten. Sicher ist er froh, heute einen schulfreien Nachmittag zu haben.»
Er wartete, ob Barbla eine zustimmende Bewegung machen würde. Aber sie stand nur da, auf ihren Stock gestützt, und sah ihn unverwandt an. Das tat sie selten. Meist blickte sie an ihrem Gegenüber vorbei. So als streife sie es nur. Als wäre ihr das Vollbild unzuträglich. Oder als sähe sie jemand hinter demjenigen, der unmittelbar vor ihr stand. In den ersten Monaten nach ihrer Erkrankung hatte sich Giusep wiederholt umgedreht, verunsichert, mit einem Schauder im Nacken. Was war er doch für ein Narr gewesen!
«Er macht es gut, dein Mann», fuhr er fort. «Er hat ein weiches Herz, aber er kann zupacken.» Er breitete die Arme aus, um das Ganze einzubeziehen in sein Lob, Schule und Haushalt und Pflege.
«Er ist gut zu dir. Das wusste ich von Anfang an. Sonst hätte ich dich ihm nicht anvertraut damals.»
Barbla klopfte unvermittelt mit dem Stock auf den Boden. Giusep zuckte unmerklich zusammen. «Du hast recht», sagte er, «ich rede zu viel.»
Barbla bewegte den Mund. Aber es kamen nicht mehr als ein paar unverständliche Laute über ihre Lippen. «Wollen wir uns nicht setzen?», fragte er und zeigte auf den Sessel. Barbla sah ihn einen Augenblick lang an, als hätte sie noch eine Antwort zugute. Dann drehte sie sich um und tappte auf den Sessel zu. Giusep folgte ihr, rückte einen Stuhl vom Esstisch zum Fenstersessel hin und setzte sich. Er erhob sich wieder, um ihr zu helfen, als er sah, wie viel Mühe es ihr machte, bis sie so vor dem Sessel stand, dass sie sich auf das Polster sinken lassen konnte. Aber sie stiess seinen Arm beinahe energisch weg.
«Lass sie machen», hatte Anton gesagt, «es geht schon ir gendwie. Sie will nur die Hilfe, die sie sich erbittet. Alles andere empfindet sie als Bevormundung.» Dabei hatte er es nur gut gemeint. Es war nicht einfach, zusehen zu müssen, wie sie sich abmühte, wie sie kämpfte. Mit all den Kleinigkeiten des Alltags. Mit sich selber. Vielleicht war es auch nur sein schlechtes Gewissen, das ihn zuvorkommender sein hiess, als er für gewöhnlich war. Er machte seiner Tochter etwas vor. Und obschon er wusste, dass sie es wusste, rückte er keinen Zoll von seiner Rolle ab.
Längst hätte er sie fragen müssen, wie es ihr gehe. Deswegen war er doch gekommen. Die Frage musste gestellt werden, immer wieder, bei jedem Besuch. Auch wenn die Antwort ein leerer Blick war, ein Schulterzucken, ein Kopfschütteln. Auch wenn die Antwort klar war, die Frage überflüssig, so musste sie doch gestellt werden.
«Der Wind bläst den Lärchen den Marsch», sagte Giusep, als er nach draussen blickte, wo sich die Bäume bogen. Wovon faselte er denn da? Er stand auf und trat ans Fenster. Durch den Regenschleier leuchtete das Weiss der Kirche, unscharf, ein heller Fleck, der sich in all dem Grau behauptete. Dort war er getauft und konfirmiert worden. Dort hatte er Clara das Jawort gegeben, die Kinder zur Taufe gebracht, von den Eltern Abschied genommen, von Clara, und irgendwann würden sie auch ihn dort hinübertragen. Er dachte an den Rollstuhl, den Anton für Barbla entworfen und den Luzi geschreinert und konstruiert hatte, ein seltsames Gefährt, womit sie Barbla in die Kirche fahren konnten, seit sie nicht mehr zu Fuss hingelangte. Sie, die ehemalige Sigristin, die am liebsten allein in der leeren Kirche gesessen und dem Orgelspiel gelauscht hatte.
«Was meinst du», fragte er, ohne sich nach ihr umzudrehen, «sollen wir dich am Sonntag wieder einmal in die Kirche fahren?»
Folge 22
Sobald es ihre Genesung erlaubte, hatten sie Barbla Sonntag für Sonntag in ihrem hölzernen Vehikel auf den Kirchhügel gestossen, er und Anton, und manchmal auch Luzi. Um sie mitsamt dem Rollstuhl die Eingangstreppe hochzutragen, hatte es schon vier starke Arme gebraucht. Dann hatte Anton sie durch das Kirchenschiff nach vorn gefahren, über die ausgetretenen Grabplatten dahingegangener Geistlicher, an all den Leuten vorbei, die ihr zugenickt und gegrüsst hatten, bis zur ersten Bankreihe, in die Nähe der Kanzel. Sie konnte in den Chor sehen, wo ein mächtiger Jesus an die gewölbte Decke gemalt war, mit drei Köpfen, drei Gesichtern, und mit viel zu grossen, nackten Füssen.
Barbla reagierte nicht. Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass sie die Augen geschlossen hatte. War sie so erschöpft, dass sie schon vor dem Mittag im Sessel einnickte? Meist war doch das Radio eingeschaltet, wenn er kam. Nicht mehr als eine Geräuschkulisse? Oder gab sie nur vor zu schlafen, weil sie genau wusste, weshalb er ausser der Zeit aufgetaucht war?
Giusep nagte an seiner Unterlippe. Er rückte den Stuhl ans Fenster und setzte sich wieder. Für einen Augenblick sah man die Dächer des Dorfes deutlich. Er kannte jedes einzelne, jede einzelne Geschichte. Von den Bündner Wirren mit den Tirolern bis zum grossen Brand Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Die Lawinenwinter, die Seuchen, die Familienfehden. Ein Dach bot nur nach aussen Schutz, nach innen nicht. Die Dächer im fernen Polen hatten nicht standgehalten. Er hob die Hände und formte mit ihnen eine schützende Hülle über dem Dorf. Es war ihm fast ein wenig feierlich zumute.
Dann wieder schalt er sich einen Narren, der sich solch pfarrherrliche Gebärden anmasste. Clara hatte ihn jeweils in die Seite gepufft, wenn er zu grossen Worten griff, und ihn auf den Boden zurückgeholt. «Du kannst Theater spielen, wenn der Gemischte Chor seinen Unterhaltungsabend hat!»
Beschämt sank er auf seinem Stuhl zusammen. Er hatte es nie ganz gelernt. Vielleicht wenn Clara nicht so früh hätte gehen müssen …
«Der grosse Arquint, jetzt ist er wieder ganz klein – ein einziges Wort von seiner Ehefrau genügt!» Das hatte Bazzell gesagt, sein Widersacher im Gemeinderat damals. Nur einmal. Dem hatte er das Maul gestopft. Ein für alle Mal. Aber der hatte ihn durchschaut. Doch, heute musste er das zugeben. Er knirschte hörbar mit den Zähnen.
Dann sah er wieder nach Barbla, deren Kinn auf die Brust gesunken war. Er stand auf, leise, um sie nicht zu wecken, und tappte in die Küche. Eigentlich war er froh, dass er nicht gezwungen war, ein unverfängliches Gespräch zu führen. Er nahm ein Glas aus dem Küchenschrank und füllte es mit Wasser. Während er trank, hörte er, wie jemand hustete im unteren Stock. Das Geräusch war beinahe beängstigend. Als ob die betreffende Person Kette rauchte. Es musste auch im Schulzimmer unüberhörbar sein.
Er setzte sich auf die Bank hinter dem Küchentisch und lehnte den Kopf an die Wand.
Er erwachte, weil jemand mit Geschirr klapperte. Anton deckte den Tisch. «Wolltest du nicht Barbla Gesellschaft leisten? Isst du mit uns?», fragte Anton. Giusep schüttelte den Kopf und richtete sich auf. «Es ist genug da», sagte Anton, «Ich lade mich doch nicht selbst ein», sagte Giusep.
«Wie du willst.»
Anton holte eine Schüssel mit Polenta aus der Vorratskammer, formte kleine Plätzchen und briet sie in der Pfanne. Du könntest Barbla zu Tisch bitten», forderte er den Schwiegervater auf. «Vielleicht braucht sie Hilfe, um aus ihrem Sessel hochzukommen.»
Von ihm würde sie sich sicher nicht helfen lassen, dachte Giusep. Aber er sagte nichts und erhob sich. Als er in den Flur trat, war er erstaunt, dass Barbla bereits in der Stubentür stand. Ob sie gelauscht hatte? Nun, gesprochen hatten sie ja so gut wie nichts. Er liess Barbla den Vortritt. Sie ging etwas wackelig, aber zielstrebig in die Küche. Anton schob ihr einen Stuhl hin. Er stellte die Pfanne mit den Maisplätzchen auf den Tisch und einen Teller mit Zieger dazu.
«Du hast doch sicher Hunger», sagte er und legte auch für Giusep Teller und Besteck hin.
«Es riecht nicht schlecht», meinte Giusep, während er beobachtete, wie Barbla mühselig auf dem Stuhl hin und her rutschte. Anton schöpfte, und sie assen schweigend.
«Und», fragte Giusep, als sein Teller leer war, «machen sie Fortschritte?» Anton sah ihn verständnislos an. «Die Schüler halt», präzisierte Giusep.
«Die Mädchen, ja.»
«Die Mädchen», wiederholte Giusep nachdenklich. Barblas Gabel kratzte auf dem Teller. Anton langte über den Tisch und drehte ihn, damit die Gabel auf ihren Forschungsreisen wieder auf Polenta stossen konnte.
«Kaffee?», fragte er später, nachdem er abgeräumt hatte.
Giusep lehnte dankend ab. Anton nahm die Blechkanne vom Herd, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und füllte auch Barblas Schnabeltasse. Er griff nach der Zigarettenpackung in seiner Hemdtasche und nahm die Kaffeetasse vom Tisch. «Ihr entschuldigt mich einen Moment», sagte er und verliess die Küche. Giusep hörte, wie er die Wohnungstür aufmachte und im Treppenhaus das Fenster öffnete, um zu rauchen.
Folge 23
«Du hast ihn gut erzogen», sagte er zu Barbla. «Ganz wie deine Mutter das mit mir getan hat.» Barbla machte mit der Hand eine unkontrollierte Bewegung. Ihre Schnabeltasse kippte, und eine kleine Kaffeelache breitete sich auf der Tischplatte aus. Giusep stellte die Tasse wieder hin, holte den Wischlappen von der Spüle und putzte die Flüssigkeit weg. Er trank sein Wasserglas aus und stellte es zum verschmutzten Geschirr. Als er sich umwandte, bemerkte er, dass an Barblas Mundwinkel noch Polenta klebte. Er wusch den Lappen aus, kam um den Tisch herum und wollte sie sauber machen. Aber sie drehte entschieden den Kopf weg.
In diesem Augenblick kam Anton zurück. Er nahm Giusep den Lappen aus der Hand. «Ich mach das schon», sagte er.
«Barbla, bitte», sagte er und hielt ihr Kinn fest, als sie wieder den Kopf wegdrehen wollte.
Er warf den Lappen in das Spülbecken, ging mit Barbla zur Toilette und führte sie dann zurück in die Stube, wo er ihr ein Kissen unterschob, damit sie im Sessel ihren Mittagsschlummer machen konnte.
«So», sagte er, als er wieder in die Küche kam. Er wärmte die restliche Polenta in der Pfanne auf und schöpfte sie auf einen Teller. «Ich bringe ihr jetzt das Essen», sagte er zu Giusep. «Du kannst mitkommen. Sie weiss Bescheid.» Sie stiegen die Treppe hinunter. «Warte hier», sagte Anton, bevor er die Tür zu der kleinen Kammer öffnete. «Ich hole dich dann. Sie soll zuerst in Ruhe essen können.»
Er klopfte an und trat ein. Ehe die Tür sich schloss, erhaschte Giusep einen Blick auf das Fussende einer Pritsche, worauf sich zusammengeknüllte Decken wie schmutziger Schnee türmten.
Giusep wanderte im Flur auf und ab, warf einen Blick ins Schulzimmer, hörte die Frau husten. Das Warten machte ihn ungeduldig. Stunden hatte er nun schon geopfert, um die Fremde sehen zu können. Oder wenigstens mit Anton die Situation nochmals zu besprechen. Er öffnete die Haustür und trat unter das Vordach. Es hatte wieder zu regnen begonnen. In der Nässe zeigten die Buckelsteine auf dem Vorplatz alle Farben. Der Nebel hatte sich ein wenig höher verlagert, er hing jetzt oben unter dem Waldrand.
Giusep ärgerte sich, weil er Pfeife und Tabak nicht dabeihatte. Gehässig trommelte er mit den Fingern auf den Türrahmen. Schliesslich hielt er es nicht mehr aus. Er stand schon vor der verschlossenen Tür, um anzuklopfen, als sie sich endlich öffnete.
Das Zimmer war so schmal, dass Anton, der ihm vorausging, mit seinem Rücken die Sicht in die Tiefe des Raums verdeckte. Vorn am Fenster trat er zur Seite. Die Kranke sass auf einem Stuhl am kleinen Tisch. Sie trug Barblas alten Morgenmantel. Das war das Erste, was Giusep auffiel. «Giusep Arquint», stellte Anton vor, «mein Schwiegervater – Anna Schwarz.»
Als die fremde Frau ihre Augen auf ihn richtete, durchfuhr es Giusep, als hätte ihm jemand einen heftigen Schlag versetzt. Die grossen, dunklen Augen, wie von einem wunden Tier. Das ebenso dunkle, fast schwarze Haar, das kraus und wirr das bleiche Gesicht umfing. Die Wangenknochen, die leicht hervor tretend, etwas Fremdes, beinahe Exotisches in dieses Antlitz zeichneten.
Anton sah, dass sein Schwiegervater taumelte. Er griff nach seinem Arm. «Ist dir nicht gut?» Giusep, durch die Berührung zurückgeholt, fing sich und schüttelte Anton ab. Er hätte der Fremden jetzt die Hand geben sollen. Aber das schaffte er nicht. Er nickte ihr zu und setzte sich auf den anderen Stuhl, damit die beiden nicht sehen konnten, wie seine Knie zitterten.
Die Frau sah ihn mit fieberglänzenden Augen an, als warte sie auf ein Wort aus seinem Mund. «Frau Schwarz ist über den Pass gekommen», sagte Anton in die Stille hinein. «Sie haben ihren Mann erschossen.» Giusep nickte. Die Frau hatte wieder einen Hustenanfall. Sie hielt sich die Rippen. Atemnot und Schmerz verzerrten ihr Gesicht.
Giusep ertrug den Anblick nicht und senkte den Kopf. Anton füllte Tee aus dem Krug in die Tasse und hielt sie Anna Schwarz hin. Sie schüttelte den Kopf. «Ich möchte niemand zur Last fallen», flüsterte sie mit krächzender Stimme.
Giusep hob den Kopf und blickte sie an. «Sie ist krank», murmelte er. «Sie ist schwer krank», sagte er plötzlich, so laut, dass Anna erschrak.
Er stand auf. «Sie muss zum Arzt», sagte er. «Unverzüglich!»
«Das geht nicht», widersprach Anton. Anna versuchte, sich vom Stuhl zu erheben, aber Anton drückte sie sanft zurück. «Ruhig», sagte er, «ganz ruhig.» «Sie hat doch eine Lungenentzündung», regte sich Giusep auf. «Ich kenne diese Art von Husten. Ohne Arzt wird sie dir unter den Händen sterben!»
«Wir können doch nicht mit ihr ins Tal hinunter – da können wir sie gleich zur Polizei bringen. Dann geht alles seinen Weg.»
«So wolltest du es doch», fügte er nicht hinzu, aber Giusep hatte verstanden. «Der Arzt muss herkommen», sagte er. «Ich mach das.» Er ging zur Tür.
«Wo willst du hin?», fragte Anton. «Telefonieren.»
«Aber …»
«Brunner untersteht der ärztlichen Schweigepflicht», zog Giusep einen Strich unter die Diskussion. Er verliess den Raum und ging nach oben.
Der schwarze Telefonapparat hing im Flur über der geschnitzten Truhe. Barbla hatte sie sich aus dem Nachlass der Grossmutter erbeten. Ein Notizblock lag darauf, ein Bleistift, das Nummernverzeichnis und ein verblasster Strauss aus Trockenblumen.
Folge 24
Giusep schloss leise die Tür zur Stube, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Barbla schlummerte. Er wählte die Nummer des Arztes und verlangte Doktor Brunner persönlich zu sprechen. «Barbla», sagte er, als er den Arzt am Apparat hatte. «Ich vermute, es ist eine Lungenentzündung.»
«Das wäre tatsächlich unerfreulich.»
«Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du vorbeikommen könn test», bat Giusep.
«In frühestens einer bis anderthalb Stunden», versprach Brunner. «Vorher kann ich nicht weg.»
«Wir warten», sagte Giusep. «Danke.» Er hängte auf. Bevor er hinunterging, öffnete er die Stubentür wieder. Sie knarrte ein wenig, aber Barbla schien es nicht bemerkt zu haben.
Er holte Anton aus dem Zimmer und informierte ihn. Dann gingen sie gemeinsam zu Anna hinein. Giusep setzte sich auf den Stuhl und verlor sich in dem fahlen Gesicht der Fremden, das ihn anzog wie ein flackerndes Licht in der Nacht den Falter.
Anton versuchte Anna zu beruhigen. Es drohe keine Gefahr vom Arzt. Er sei ein Freund der Familie. Während der Husten sie immer wieder schüttelte, berichtete er Giusep, was er von ihrer Flucht wusste.
Als sie das Auto hörten, ging Giusep hinaus, um Brunner abzufangen und ihn über den wahren Sachverhalt aufzuklären, bevor man ihn zu der Kranken vorliess. «Du entschuldigst die Notlüge», sagte er. «In diesen Zeiten gibt es Dinge, die man nicht dem Telefon anvertrauen kann.»
«Ihr mutet mir da etwas viel zu», brummte Brunner. «Aber ich bin ja von dir einiges gewöhnt.» Er hängte den Regenmantel an einen der Haken vor dem Schulzimmer.
Der Seitenhieb war berechtigt, Giusep wusste es. Er verzog das Gesicht zu einem halbherzigen Grinsen und schwieg. Nachdem er beim Nebenzimmer angeklopft hatte, trat er einen Schritt beiseite und liess Brunner den Vortritt.
Einen Moment lang blieb er noch vor der Tür stehen, die der Arzt hinter sich geschlossen hatte, dann ging er hinüber ins Schulzimmer. Er trat an eines der Fenster und blickte hinaus auf den Turnplatz, der immer noch gleich aussah wie zu der Zeit, als er selber hier die Schulbank gedrückt hatte. Wenig später hörte er, wie Anton kam. Er drehte sich nicht um.
«Schlief Barbla, als du oben warst?», fragte Anton. Giusep nickte. «Mittlerweile wird sie wach geworden sein», vermutete er. «Ein Auto fährt ja hier nicht jeden Tag vor.» Anton schwieg. «Was ist, wenn Brunner sie doch meldet?», fragte er nach einer Weile.
Erstaunt sah Anton seinen Schwiegervater an. Dann zog er die Zigaretten hervor und bot ihm eine an. Giusep schüttelte den Kopf. «Ich rauche kein Papier!» Anton öffnete das Fenster einen Spaltbreit, riss ein Streich holz an und hielt es unter die Spitze der Zigarette. Den Rauch blies er hinaus in die feuchte Luft, wo er kaum mehr vom Nebel zu unterscheiden war.
Giusep ging hinaus auf den Flur und auf den Abort, der sich neben dem Treppenaufgang befand. Als er zurückkam, hockte Anton auf einem der Schülerpulte. An seinem Lehrerschreibtisch sass Doktor Brunner und schrieb. Seine Arzttasche aus abgewetztem, dunkelbraunem Leder lag geöffnet neben ihm. Also», sagte er, nachdem sich Giusep neben Anton gesetzt hatte. «An den Lungenspitzen ist das Geräusch leicht gedämpft. Aber um eine Lungenentzündung handelt es sich glücklicherweise nicht. Noch nicht. Medikamente habe ich dagelassen, mit der Vorschrift, wie sie einzunehmen sind. Wichtig ist, regelmässig das Fieber zu messen», sagte er nun zu Anton gewandt. «Sollte es doch plötzlich ansteigen, so ruf mich unverzüglich an, denn dann müsste sie ins Krankenhaus.»
«Und deine Prognose?», wollte Giusep wissen. «Bin guter Zuversicht», sagte Brunner und klappte seine Tasche zu. «Die Frau ist robuster, als sie aussieht.»
«Hast du das nicht auch bei Clara schon behauptet?» Giusep hatte sich die Frage nicht verkneifen können. Brunner sah ihn lange an. «Ich konnte dir doch nicht ins Gesicht sagen, was ich ahnte.»
«Und jetzt?»
«Liegt die Sache anders.»
«Willst du mir wieder etwas vormachen?», fragte Giusep, und seine Stimme klang nicht nur grob, sie hatte etwas Gefährliches. «Dir?», fragte Brunner. «Warum gerade dir?»
Giusep biss sich auf die Lippe. Natürlich, dachte er, warum mir? Er zog es vor zu schweigen.
Brunner stand auf, nahm seine Tasche und verliess das Zim mer. Anton folgte ihm. Giusep blieb sitzen. Er hörte, wie die beiden im Flur einige Worte wechselten, konnte aber nicht verstehen, was sie redeten. Eigentlich war es egal. Er fühlte sich plötzlich hundemüde.
Als er schon dachte, der Arzt sei jetzt gegangen, stand dieser unerwartet wieder in der Tür, ein mächtiger Mann, der sich ducken musste, wenn er in die niedrigen Krankenstuben im Dorf trat. Der offene Mantel wehte um seine Beine, wie bei dem verwegenen Kerl in einem Western, den Giusep bei seinem einzigen Kinobesuch gesehen hatte.
«Wenn ich also richtig informiert bin», sagte Brunner so laut, dass es auch die Kranke in ihrer Kammer hören musste, «ist Anna Schwarz, geborene Gruber, die Tochter einer Cousine von Antons Mutter, das heisst Antons Coucousine. Oder eine Cousine zweiten Grades, wie man drüben sagt. Eine Ver wandte, auf Besuch da. Das vereinfacht die Sache natürlich. Hättet ihr mir auch früher sagen können.»
Er setzte den Hut auf, drehte sich um und war weg. Wenig später entfernte sich das Rattern des Motors talwärts.
Folge 25
Anton kam zurück ins Schulzimmer. Giusep stand auf. Der Ärger war ihm ins Gesicht geschrieben. «Bist du verrückt geworden?», fragte er.
«Das war bestimmt nicht meine Idee», rechtfertigte sich Anton. «Das war nicht deine Idee?», wiederholte Giusep. Es dauerte eine ganze Weile, bis er die Tragweite dieses Satzes begriffen hatte. «Ich habe ihn tatsächlich unterschätzt», murmelte er. Anton griff nach den Zigaretten, schien aber im gleichen Augenblick vergessen zu haben, dass er rauchen wollte, und fingerte nur an der Packung herum.
«Ja», sagte Giusep, «dann werde ich mich von deiner Cousine zweiten Grades mal verabschieden.»
«Warte», sagte Anton und ging hinüber in Annas Kammer.
«Sie schläft», gab er Bescheid.
«Nur auf einen Blick», sagte Giusep, drängte sich an dem verdutzten Anton vorbei und äugte in das Zimmer. «Sie hat schliesslich genug Aufregung verursacht», schnitt er unerwünschte Fragen ab.
Die Kranke lag jetzt im Bett, eingewickelt in die Decken, als kämpfe sie um jeden Zentimeter Wärme. Nicht einmal das Gesicht gab sie preis, nur das dunkle Haar und den bleichen Stirnansatz. Giusep konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Er gab Anton die Hand. «Pass auf sie auf», sagte er.
Er wich Antons Blick aus, der ihn verwundert ansah.
Giusep torkelte den Fahrweg hinunter, als hätte er im «Crusch Alba» mehr als nur einen über den Durst getrunken. Er war froh, dass der Nebel das Schulhaus nach wenigen Metern verschluckte und dass die Strasse sich vor ihm immer nur so weit verlängerte, wie sie sich hinter ihm verkürzte. Ein abgeschnittenes, steiles Band in einer milchigen, wattierten Welt. Er fühlte, wie die Beine bei jedem Schritt unter ihm wegzukippen drohten und er sie nur mit Mühe unter Kontrolle zu halten vermochte. In seinem Inneren war nichts mehr, wie es noch vor ein paar Stunden gewesen war. Aufruhr und Chaos. Verzweiflung und Freude. Gefühle, für die er keine Worte fand. Ein tobender Tanz. Nah am Abgrund. Aber alles ballte sich in einen Namen, weitete, presste, krampfte sich zusammen, schrie und flüsterte: CLARA! Clara war wieder da! Seine Clara! Oben im Schulhaus …
4
Barbla ärgerte sich. Über sich selbst. Früher hatte sie sich über andere geärgert. Hatte fuchsteufelswild werden können, wenn sie auf Widerstand gestossen war. Ein Erbe ihres Vaters. Das war vorbei, diese urplötzlichen Ausbrüche. Die Schreie blieben stumm, unter Verschluss, und waren deshalb sinnlos geworden. Das verdankte sie der Krankheit. Dem Hirnblitz, wie der Arzt sie nannte. Als wollte er der richtigen Bezeichnung den Schrecken nehmen. Schlaganfall. Man durfte den Ausdruck nicht in den Mund nehmen. Er war offensichtlich ein naher Verwandter des Leibhaftigen, dessen eigentlicher Name auch nicht ausgesprochen wurde.
Doktor …? Sie wusste genau, dass der Name irgendwo hinterlegt war. Aber der Weg war so schwierig geworden zu den einzelnen Ablagefächern. Ein Archiv mit viel zu langen, viel zu düsteren Gängen. Alles war noch da, aber ungeordnet. Als hätte sich jemand einen bösen Spass erlaubt und alles durcheinandergebracht. – Brunner! So hiess der Arzt. Ja, Vinzenz Brunner.
Worüber hatte sie sich geärgert? Über Brunner? Vielleicht. Aber warum? Nein. Das Auto. Sie hatte das Auto gehört. Wer sonst würde hier in einem Wagen vorfahren? Natürlich. Deswegen war ihr Vater gekommen. Zur Unzeit. Er, der stets alles nach genauen Regeln tat. Keine Abweichungen zuliess. Es ging um die Frau, die Fremde, die seit einigen Tagen im Haus war. Sie war krank. Ihr Husten war bis in die Wohnung zu hören.
«Hast du wieder jemand aufgenommen?», hatte sie auf das Papier gekritzelt. Die Buchstaben waren schief gestanden, wie bei den Schülern aus der ersten Klasse. Er hatte genickt. Es war nicht das erste Mal, dass jemand vom Pass heruntergekommen war und gesagt hatte: «Ich sah das Licht.»
Meist war es ja nur für eine Nacht gewesen. Am folgenden Morgen waren sie weitergegangen. Keiner hatte länger bleiben wollen.
Barbla lauschte. Kein Husten. Keine Stimmen. Wo waren die Männer? Warum hustete die Frau plötzlich nicht mehr?
Sie setzte sich im Sessel auf. Das Kissen rutschte hinunter, ins Kreuz, und gab ihr ein wenig Stütze, dass sie sich nach vorn bewegen konnte. Mit der gesunden Hand versuchte sie, sich an der Armlehne hochzuziehen. Nach dem Mittagsschlaf fehlte ihr oft die nötige Kraft dazu. Auch diesmal musste sie sich nach dem zweiten vergeblichen Anlauf erschöpft zurücksinken lassen. Aber eine gebürtige Arquint gab nicht auf. Sie presste die Zähne zusammen, arbeitete sich auf dem Sitzpolster erneut nach vorn, bis sie die Kante unter ihrem Gesäss spürte. Sie atmete tief ein, stiess sich mit dem besseren Fuss ab und stand schliesslich schwankend da, unsicher, aber sie stand und fasste nach dem Stock, der neben dem Sessel an der Fensterbank lehnte. Sie stützte sich auf den Handgriff und blickte hinaus.
Der Nebel hatte das Dorf verschluckt. Als sie noch unten gewohnt hatte, im elterlichen Haus, war es das Schulhaus gewesen, das manchmal im Nebel verborgen war. Sie hatte sich dann gar nicht vorstellen können, dass dort oben noch ein einzelnes Haus stand, hinter der weissen oder grauen Wand. Manchmal hatte der Nebel auch nur Teile des Gebäudes freigegeben. Da sah es dann aus, als schwebe ein Dach in der Luft, das sich von einem Haus gelöst hatte. Oder eine Mauerecke mit einem und einem halben Fenster.
Folge 26
Sie musste sich vergewissern, das Foto suchen. Barbla wandte sich ab und machte sich auf den Weg hinüber in das dritte Zimmer. Es war kleiner als die Wohnstube und das Schlafgemach. Das Kinderzimmer. So war es gedacht, so wurde es genannt. Sie hatten es nicht seiner ursprünglichen Bestimmung zuführen können. Täglich war das Schulhaus voller Kinder, mit Lachen gefüllt, mit Poltern, Lärm und Geschrei. Aber jeden Abend wurde es wieder still, und sie beide waren allein.
Zu den fremden Kindern waren keine eigenen dazugekommen. So sehr sie sich das auch gewünscht hatten. Wie oft hatte sie mit ihm gehadert, dessen Haus sie betreut hatte, drüben auf dem Hügel. Dessen Namen sie nicht mehr aussprechen konnte. Ebenso wenig wie Hirnblitz oder Leibhaftiger. ER hatte ihr keine Kinder geschenkt. ER hatte ihr die Sprache genommen. War das seine Gerechtigkeit?
Barbla!, schalt sie sich. Er wusste doch von der Krankheit, die über dich kommen würde. Wie hätten deine Kinder aufwachsen sollen mit einer solchen Mutter?
Es war noch immer das Kinderzimmer. Ein abstrakter Be griff, über den man nicht weiter nachdenken sollte. Jetzt stand Antons Schreibtisch dort. Und ihre Nähmaschine, die der Staub bedeckte mit einer flaumigen Schicht, als wäre er ein Verwandter des Nebels.
Hinter der Tür stand ein Schrank, daneben eine hohe Kommode, mit vielen kleinen und grösseren Schubladen. Bar bla stellte den Stock hin und zog eines der oberen, kleinen Schubfächer auf, das mit Fotografien gefüllt war.
Sie blätterte die verschiedenen Formate durch, hielt manchmal inne, um das eine oder andere Bild näher zu betrachten. Die Geschwisterschar. Da war Luzi noch gar nicht dabei. An der Konfirmation, mit Grossmutter Arquint. Und viel später im Brautschleier auf der Kirchentreppe. Anton, der eine Stufe tiefer stand, damit ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Giusep, ihr Vater, etwas steif, allein.
«Herausgeputzt» hatte er die ungewohnte Aufmachung in Anzug und Halsbinde damals bezeichnet.
Er trug sie nur zu kirchlichen Feierlichkeiten.
Dann war da noch eine Aufnahme vom Kirchenchor. Es gehörte zu den Aufgaben des jeweiligen Lehrers, den Chor zu leiten. Anton stand mit dem Rücken zur Kamera, sie selber in der Reihe des Soprans.
Sie wühlte mit der Hand tiefer in dem Schubfach. Endlich fand sie, was sie suchte. Das Foto zeigte ihre Mutter in jungen Jahren. Da war sie vielleicht vierundzwanzig. Schwierig zu schätzen. Barbla schaute sich die Rückseite an. Nur der Stempel des Fotografen war darauf. Kein Datum, keine Jahreszahl. Sie drehte das Bild wieder um und betrachtete das Antlitz mit den ernst blickenden Augen. Es war unverkennbar: Die junge Frau, die unten in der Kammer lag, die um Zuflucht gebeten hatte, die Anton aufgenommen hatte ohne sie, Barbla, zu fragen – diese Frau hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Mutter. Ihrem Vater war das gewiss aufgefallen. Anton wohl kaum, der hatte ihre Mutter ja nie kennengelernt.
Sie hatte die Frau gesehen. Sie war am Tag nach ihrer Ankunft hinter Anton die Treppe heraufgekommen, in die Wohnung, und war in der Stubentür stehen geblieben. In höflicher Zurückhaltung? Vielleicht. Sie wollte nicht stören. Es war ihr peinlich, dass sie einem Mann zur Last fiel, der sich eigentlich um seine behinderte Ehefrau kümmern musste. Vielleicht. Vielleicht taxierte sie auch nur aus der Distanz, was sie zu sehen bekam. Die eher ärmliche Einrichtung der Lehrerwohnung. Die Frau, welche die Sprache verloren hatte. Den Mann, dem die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben stand.
Barbla blickte wieder auf das Bild der Mutter. Mit vierundzwanzig hatte sie bereits zwei Kinder geboren. Schon zeigte die Schönheit der Jugend einen Stich ins Herbe. Sie war früh gealtert. Die Krankheit hatte das Ihre dazu beigetragen. Barbla besass nur eine Fotografie aus ihren späten Lebensjahren, alle anderen bewahrte der Vater auf. Sie suchte nicht danach. Das Gesicht der Mutter, kurz vor ihrem Tod, hatte sich dem jungen Mädchen eingebrannt. Es war gut, gab es Fotografien. Sie waren die einzige Möglichkeit, der Vergänglichkeit ein Schnipp chen zu schlagen.
Sie legte das Foto zurück und schob die Schublade zu. Am ersten Abend war Anton ihr ausgewichen. Er hatte sie im Glauben gelassen, es habe sich um die Mutter einer Schülerin gehandelt. Ein Elterngespräch. Erst am nächsten Morgen hatte er ihr die Wahrheit gesagt. Er hatte sie nicht beunruhigen wollen. Aber genau das hatte er damit erreicht! Sie wurde wieder ungehalten. Über Anton. Über die Fremde. Über sich selbst, weil sie sich über diese Frau aufhielt, die doch nur ihr eigenes Leben retten wollte. Ihr Leben. Nicht mehr. War das zu viel verlangt?
Barbla hatte das Essen verweigert, das ihr Anton vorgesetzt hatte. Einen ganzen Tag lang. So wollte sie ihn bestrafen für seine Notlüge. Für seinen Vertrauensbruch.
«Barbla, du musst essen», hatte er ihr zugeredet. «Was ist nur mit dir? Du verlierst alle Kraft auf diese Weise. Du weisst, was der Arzt gesagt hat.»
Was der Arzt gesagt hat, was Anton gesagt hat, Babigna, der Vater, der Pfarrer. Alle hatten sie etwas zu sagen. Alle wussten sie, was gut für sie war. Es war ja so einfach, jemandem Ratschläge zu erteilen, der zu keiner Antwort fähig war!
Folge 27
Sie blickte nach seinem Schreibtisch, wo viel Papier lag, und stiess den Stock auf den Boden, dass es krachte. Früher, wenn Anton abends hier gesessen hatte und seine Arbeiten erledigte, war sie jeweils zu ihm hereingekommen, hatte ihre Hände auf seine Schultern gelegt und darauf gewartet, dass er sein Papier verrotten liess, aufstand und sie in die Arme nahm. Oder wenigstens von seinem Tag erzählte oder von dem, was beim Abendessen noch nicht zur Sprache gekommen war. Jetzt brachte er sie jeweils zu Bett, bevor er sich hierhersetzte.
Als sie sich umdrehte, schwankte sie ein wenig. Sie stiess mit dem Stock an die Tür, dass diese knarrend gegen den Schrank schlug. Einzelne Körperteile hatten sich verschworen gegen sie, liessen sie im Stich. So fühlte es sich manchmal an. Ein andauernder Kampf, mit sich selbst und gegen sich selbst. Aber dann gab es auch wieder Tage, widerstandslose, da fühlte sich alles, was nicht gehorchte, was sich nicht mehr beeinflussen liess, wie tot an. Da waren der Arm, das Bein ganz einfach leblos. Tote Gegenstände, die noch an ihrem Körper hingen. Als gehörten sie zu einer anderen Person. Als wären sie Teile ihres Schattens. Wann würde der Schatten die Oberhand gewinnen? Luzi hatte die Türschwellen in der Wohnung zurückgeschliffen. Um eine halbe Handbreite, wie er gesagt hatte. Und Luzi hatte kräftige Hände. «Mehr geht nicht», hatte er erklärt. «Sonst bekommen wir ein Problem mit der Statik. Da hängt alles mit allem zusammen.»
Die Schwellen blieben ein Hindernis. Aber sie wurden überwindbar.
Im Flur blieb sie stehen und blickte nachdenklich auf die Wohnungstür. Wo blieben die Männer? Sie stakste durch den Flur, wo die Farben des Flickenteppichs ausgebleicht waren wie Mondlicht. Sie versuchte, die Türklinke hinunterzudrücken, ohne den Stock aus der Hand zu geben. Heute war ein guter Tag. Der Stock fiel ihr nicht zu Boden.
Aus dem Treppenhaus vernahm sie Stimmen. Ihr Vater verabschiedete sich von Anton. Sie hörte, wie ihr Mann die Tür verschloss, hin und her tappte im Vorraum, auf leisen Sohlen, als wollte er etwas verheimlichen. Hatte er mitbekommen, dass oben die Tür zur Wohnung geöffnet worden war?
Jetzt befand er sich vor Annas Kammer. Dann gingen seine Schritte hinüber zum Schulzimmer. Sie konnte jederzeit exakt bestimmen, wo er sich gerade befand.
Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass er nun nach oben käme. Mittag war ja längst vorbei, es begann bereits zu dunkeln, früher als sonst. Es war gar nie richtig hell geworden. Jetzt stand er wieder vor dem kleinen Zimmer. Ein Hin und Her, als wisse er nicht wohin. Ein aufgescheuchtes Tier, gejagt, gehetzt.
Die Frau war schuld! Die Fremde. Anna. Sie hatte diese Unruhe ins Haus gebracht. Unrast und Hektik. Die Unruhe trieb Anton an. Sie liess ihn herumhuschen, als wären gleichzeitig mehrere Antone in den Zimmern, auf den Treppen, auf den Fluren. Es gab aber keinen mehr, der für sie, Barbla, Zeit gehabt hätte.
Die Fremde hatte Anton die Zeit gestohlen, hatte sie auch ihr gestohlen. Hatte um Obdach, um Unterschlupf und Versteck gebeten, dabei war sie eine Zeitdiebin! Nur darauf war sie aus. Nur deshalb war sie gekommen. Saugte die Zeit aus allen, die in ihre Nähe kamen, bis nichts mehr von ihnen blieb als eine schlaffe Hülle.
Barbla zitterte. Sie spürte den Zorn bis in die Fingerspitzen. Bis in die Haarwurzeln. Sie wollte, dass es wieder würde wie zuvor. War sie nicht angewiesen auf Antons Hilfe, auf die Ruhe, dass alles seinen gewohnten Gang ging? Hatte sie nicht ein Recht darauf?
Sie achtete nicht auf das Zittern, als sie die Tür weiter aufstiess und über die Schwelle, die einzige, die Luzi nicht zurückgeschliffen hatte, auf den Treppenabsatz hinaustrat.
«Anton!», rief sie, wollte sie rufen. Sie würgte an dem Wort, das sich nicht formen lassen wollte. In ihrer Wut begann sie, mit dem Stock gegen das eiserne Treppengeländer zu schlagen, dass es durch das Haus dröhnte. Dann verliess sie die Kraft, der Stock fiel ihr aus der Hand, und sie sank mit einem gurgelnden Laut in sich zusammen.
«Barbla!»
Sie blinzelte. Da war Anton. Endlich war er gekommen.
«Was ist geschehen?»
Ja, was ist geschehen?, dachte Barbla.
Sie lag am Boden vor der Tür zur Wohnung, die Stellung war unbequem, aber sie fühlte keine Schmerzen. Immerhin hatte sie sich nichts gebrochen.
«Hast du dir wehgetan?» Sie schüttelte den Kopf. Er half ihr, sich aufzurichten, gab ihr den Stock. Er nahm ihren Arm in den seinen und führte sie zurück in die Wohnung. «Das solltest du nicht machen», mahnte er sie, «allein auf die Treppe hinaus. Das kann schiefgehen. Das kann ins Auge gehen. Ganz dumm kann das gehen.»
«Ich weiss», sagte er, als er ihren Blick sah, «ich bin lange weggeblieben. Ich hätte eher kommen sollen. Aber ich konnte nicht weg da unten. Der Arzt musste kommen. Sie ist so stark erkältet. Wir vermuteten, es könnte sich um eine Lungenentzündung handeln. Also, Giusep und ich. Dein Vater rief schliesslich Doktor Brunner an.»
Barbla reagierte nicht. Er passte sich ihrem Schritt an. Sie steuerte von selbst die Küche an.
«In die Küche», stellte er fest. «Hast du Durst? Ja, es kann nicht schaden, wenn wir eine Tasse Tee trinken. Du und ich, nur wir beide.»
Folge 28
Oh, du weisst nicht, wie wütend ich war, dachte Barbla. Und jetzt willst du mich mit deinem Gesäusel einlullen, als wäre nichts gewesen. Was war denn? Ich war allein. Ich war lange allein. Zu lange. Du hast mich allein gelassen. Und du weisst es. Aber du würdest es wieder tun. Das würdest du. Mir kannst du nichts vormachen.
In der Küche rückte Anton ihr den Stuhl hin. Sie schüttelte seinen Arm ab. Sie wollte sich selber setzen.
Ich bin in meinen Bewegungen eingeschränkt. Eingesperrt in diesen defekten Körper. Aber ich bin kein kleines Mädchen. Keine Puppe.
Sie liess den Stock absichtlich fallen, damit Anton ihn für sie aufheben musste. Sie wusste, dass sie eine schlechte Schau spielerin war. Es war ihr egal. Sollte er ruhig merken, dass ihr Zorn noch nicht verraucht war. Noch lange nicht.
Anton setzte Teewasser auf. Sein Rücken war nicht breit genug, dachte sie. Er war viel zu schmal für all das, was er sich aufbürdete. Was ihm abverlangt wurde. Da perlte nichts ab. Da hinterliess alles seine Spuren. Fast tat er ihr leid. Aber nein. Er stellte die Tassen hin, Zucker, holte Kekse aus dem Küchenschrank und schenkte ein, nachdem die Teeblätter ihr Aroma entfaltet hatten. Er gab zwei kleine Löffel Zucker in jede Tasse, rührte sorgfältig um und steckte den Schnabelaufsatz auf Barblas Tasse. Dann setzte er sich an den Tisch.
Er hatte während der ganzen Zeit, die keine Viertelstunde gedauert hatte und doch wie eine Ewigkeit erschien, geredet. Die ganze Zeit geredet. Als könnte etwas zusammenbrechen, falls er unverhofft eine Pause machen würde. Aber was?
Er klagte sich selber an. Machte sich Vorwürfe, weil er Barbla im Augenblick ihres Zusammenbruchs nicht zur Seite gestanden hatte. Weil er sie im Glauben gelassen hatte, die Fremde sei ihm wichtiger als sie.
Erschütterung zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Sie nahm es wahr. Zuneigung wollte er sie spüren lassen. Immer wieder versuchte er, sie zu berühren. Strich ihr über die Wange. Sie drehte den Kopf weg. Nahm ihre gesunde Hand zwischen seine Hände. Sie entzog sie ihm. Alles tat er, um ihr seine Gegenwart zu beweisen. Aber er war nicht dabei. Nicht so, wie sie das von ihm verlangte. Ihr Zorn forderte, dass sie die Bedingungen stellte. Er hatte sich in zwei Teile geteilt. Auf zwei Stockwerke verteilt. Hier in der Küche sass nur die eine Hälfte von Anton.
Dieser halbe Anton nahm in seiner Verzweiflung Barblas gelähmte Hand, die sie, ohne Gefühl, wie sie war, ihm nicht entziehen konnte. Sie sah es, sie liess es zu. Dieses Teil, das nicht mehr ganz zu ihr gehörte, gestand sie ihm zu. Mehr nicht. Und jetzt sollte er den Mund halten. Sie hielt das nicht länger aus. Sie legte die Finger der gesunden Hand auf ihre Lippen und sah ihm zum ersten Mal geradewegs in die Augen.
Anton hatte verstanden. Er schwieg betroffen. Lange sassen sie einander so gegenüber. Eine tote Hand zwischen zwei lebendigen. Das Schweigen breitete sich aus wie eine schwere Decke. Vor dem Fenster ging der Tag zu Ende.
Irgendwann schien es Barbla genug. Genug der Sühne. Oder schliefen Antons Hände ein? Sie zog mit der gesunden die gelähmte Hand aus den seinen.
Anton stand auf. Er ging zur Tür und drehte das Licht an. Barbla schloss die Augen, weil sie geblendet wurde. Anton blickte auf die Uhr. Dann begann er wortlos, das Abendessen vorzubereiten. Bevor sie assen, brachte er einen gefüllten Teller und frischen Tee hinunter, wo Anna wieder zu husten begonnen hatte.
Er war viel eher zurück, als Barbla gedacht hatte. Sie assen schweigend.
Barbla lag im Bett. Sie hörte, wie Anton nochmals die Treppe hinunterstieg. Unten blieb es ruhig. Wahrscheinlich hatte er der Kranken wieder Medikamente verabreicht, als er ihr das Essen brachte.
Im Flur hatte Anton die Lampe brennen lassen. Die Schlafzimmertür lehnte er jeweils nur an. Das Licht zwängte sich durch den Türspalt, verlor sich aber auf dem Weg in die Tiefe des Zimmers. Nur auf dem Bild über dem Bett lag ein kaum wahrnehmbarer Glanz. Der Schrank gegenüber dem Bett sah mit seinen Zierleisten in der Dunkelheit aus wie eine mächtige Burg. Früher hatte er bei ihrer Grossmutter gestanden. Als kleines Mädchen hatte sie immer geglaubt, die schlechten Träume würden sich tagsüber darin verbergen und nachts daraus entschlüpfen.
Barbla konnte hören, dass Anton zurückkam. Dass er ins Kinderzimmer ging und in seinen Papieren zu rascheln begann. Das regelmässige Umlegen der Seiten empfand sie als etwas Beruhigendes. Wie einen langsamen Ruderschlag durch die Nacht. Auch wenn Anton sich mit jeder umgeblätterten Seite auf dem See der Wörter weiter von seinem Zimmer entfernte, von der Wohnung, vom Schulhaus, von ihr. Gegen diese Welt hatte sie nichts einzuwenden. Sie konnte ihr, konnte ihm nicht gefährlich werden.
Sie erwachte, weil die Metallfedern unter der Matratze quietschten, als er sich neben sie ins Bett legte. Wenige Minuten später schnarchte er leise.
Sie drehte den Kopf nach seiner Seite. Jetzt wo das Licht im Flur nicht mehr brannte, konnte sie nichts erkennen im abgedunkelten Zimmer. Manchmal wälzte die Finsternis sich schwer durch den Raum. Manchmal sass sie auf der Brust wie ein Nachtmahr und beklemmte den Atem. Heute war sie lediglich ein dunkles Meer voller Erinnerungen.
Folge 29
Anton lag da, neben ihr. Auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Er war da. Der Mann, in den sie sich verliebt hatte vor Jahren. Der junge Lehrer, der aus dem Unterland ins Dorf gekommen war. Der alte Schulmeister Steiner, vor dem sich die Schüler gefürchtet hatten, weil er ohne Vorwarnung mit dem Rohrstock zuschlug, war endlich in Pension gegangen. Die Mädchen und Knaben wussten nicht, wie ihnen geschah. Die Frauen im Kirchenchor tuschelten hinter dem Rücken des neuen Chorleiters. Es gab Neiderinnen, als sich abzuzeichnen begann, dass Barbla das Rennen machen würde. Das heisst, von Rennen konnte keine Rede sein. Dafür war Anton viel zu bedächtig. Er wog alles genau ab, bevor er sich für etwas entschied. Das war bei der Liebe nicht anders gewesen.
Oh ja, hätte nicht Barbla ihm nach jenem Tanzabend so offensichtlich ihren Mund dargeboten, würde Anton wohl noch heute bloss von ihren Lippen träumen. Gewiss, sie hatte sich damit keine neuen Freundinnen geschaffen im Dorf. So etwas tat man nicht! Unschicklich war es, sich einem Mann dermassen aufzudrängen. «An den Hals zu werfen», wie sie sagten. «Und das in aller Öffentlichkeit.» Barbla verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Sie würde es wieder tun. Würde sie es wieder tun? Der Stock. Jetzt hätte sie gerne mit dem Stock auf den Boden geklopft. Aber Anton schlief ja. Sie seufzte.
Als offensichtlich wurde, dass sich beim Lehrer und seiner Frau kein Nachwuchs einstellte, hiess es im Dorf, das sei nun die Strafe für Barblas Verhalten. Anton hatte sich sicher von männlicher Seite einiges anhören müssen. Sie konnte es sich lebhaft vorstellen. Das hämische Grinsen, die faulen Sprüche. Anton sagte nichts. Aber eine Zeit lang mied er das Wirtshaus. Erst nachdem sie pflegebedürftig geworden war, von einem Tag auf den anderen, schlug die Häme in Mitleid um. Barbla hatte den Eindruck, dass mindestens ein paar Frauen im Dorf beinahe ein schlechtes Gewissen hatten. Als trügen sie Mitschuld an ihrem Schicksalsschlag. Als hätten sie mit ihren niederträchtigen Gedanken das Unglück herbeigeredet.
In der ersten Zeit, als sie nach dem Krankenhausaufenthalt wieder zu Hause war, hatte sich häufig Besuch im Schulhaus gemeldet. Meist waren sie zu zweit oder zu dritt gekommen. Kaum jemals eine allein. Auch das mochte seine Gründe gehabt haben.
«Die Frau von Jon – nein, nicht die vom Conrad, die vom Semadeni – die Frau von Jon also hatte schon die zweite Fehlgeburt», sagte Ursina. «Der Sohn von Saluz, dem Gemeindeschreiber», sagte Andrina, «hat sich mit der Axt ins Bein, keiner weiss, wie das geschehen konnte, beim Abasten im Wald.»
Andrina hatte eine ermüdende Art, ihre Sätze nicht zu vollenden. Zudem hatte Luzi bereits über den Unfall berichtet. Barbla schob die Schale mit dem Gebäck näher zum Besuch.
«Wie geht es dir?», fragte Ursina. Blendend, schrieb Barbla auf einen Zettel. Mit Buchstaben, die schief standen wie die Kletterstangen vor dem Haus. Das seht ihr doch, schrieb sie nicht.
«Und Anton?»
«Was Anton?», dachte sie. «Warum fragst du?» Sie malte ein Fragezeichen auf das Papier. «Ich meine nur», sagte Andrina.
«Für ihn ist das ja auch nicht einfach», ergänzte die andere. Wollte man sie weghaben? Wurde insgeheim bereits ihre Nachfolge geregelt? Anton ging es gut. Er war gesund. Was war das für eine Frage!
Mit der Zeit hatte sich Barblas Beweglichkeit etwas verbessert. Aber die Sprache fand nicht mehr zu ihr zurück. Das machte die Unterhaltung schwierig. Anton und Babigna lernten aus Lauten und Gesten zu verstehen, was sie meinte. Für die anderen, die nicht täglich um sie waren, blieb die fehlende Sprache eine Mauer. Nach den ersten Monaten nahmen die Besuche merklich ab, und bald fand kaum mehr jemand den Weg hinauf ins Schulhaus. Ausser Babigna und dem Pfarrer.
Babigna. Was für ein Glück, dass es Babigna gab! Sie hasste sie. Jetzt, hier im Dunkel der Nacht, durfte man das denken. Am Tag war alles anders. Aber die Nacht deckte auf, was sich in der blendenden Helle des Tages auflöste. Was hätte ihr Vater ohne Babigna gemacht? Was Anton? Babigna half ihr morgens beim Aufstehen, beim Anziehen, bei der Körperpflege. Babigna machte die Wäsche, putzte, kaufte ein. Babigna half ihr, die Zähne zu reinigen, wusch sie von oben bis unten, täglich.
Babigna tat all das, was sie schon bei der Mutter getan hat te. Barblas Mutter hatte dieselben vertrauten, fremden Hände gespürt. Da waren sie noch jünger, weicher gewesen.
Babigna tat all das, was Anton nicht tun konnte. Ohne Babigna hätte Anton sie in ein Pflegeheim geben müssen. Er war Babigna dankbar für das, was sie tat. Sie musste Babigna dankbar sein, dass sie all dies tat. Sie hasste Babigna. Sie hasste Anton, dass er es zuliess. Sie hätte auch jede andere Person gehasst, die an Babignas Stelle über ihren Körper verfügte, wie sie es für gut befand. Es war demütigend. Diese Hilflosigkeit. Diese Dankbarkeit, diese ewige Dankbarkeit! Sie schrie in die Nacht, sie schrie gegen den Tag an. Und keiner hörte es.
Was hatte Anton gesagt? Eine Cousine zweiten Grades sei die Fremde. Warum sagte er das erst jetzt? Warum nicht früher?
«Wir haben es erst heute herausgefunden», sagte Anton.
Wer wir? Du und Papa?, kritzelte Barbla auf einen Zettel.
«Der Arzt. Brunner.»
Absicht oder Zufall?, schrieb Barbla. Anton zuckte die Schultern. «Wie sie sagt, war es doch eher Zufall.»
Folge 30 bis 59 des Romans finden Sie an dieser Stelle: «Das Licht hinter den Bergen» 30 – 59
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