FortsetzungsromanDie Folgen 61-90 von «Kaukasische Sinfonie»
Werner Ryser erzählt die Geschichte von Simon, dem Emmentaler Auswanderer, der seinen Traum, in Grusinien Grossbauer zu werden, verwirklicht hat.
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Folge 61
Vor ein paar Jahren hatte sich Jakob mit der Geschichte der Königin Tamar, die an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert gelebt hatte, auseinandergesetzt. Er hatte damals versucht, Schota Rustawelis Epos Der Recke im Pantherfell als sinfonische Dichtung zu vertonen. Der Poet hatte das Werk seiner Königin gewidmet. Es hiess, er habe sie geliebt.
Jakob war von seiner Tonschöpfung nicht überzeugt gewesen. Die Notenblätter lagen in einer Schublade und warteten darauf, überarbeitet zu werden. Jetzt, im Saal der legendenumrankten Tamar, die bis heute in den Köpfen der Georgier weiterlebte, fragte er sich, ob er den falschen Stoff gewählt hatte. Möglicherweise würde sich die unerfüllte Liebe des Dichters, der im Kreuzkloster von Jerusalem gestorben war, besser für eine Komposition eignen als ein mittelalterliches Ritterepos.
Jakob setzte seinen Erkundungsgang fort. Er kam in eine Höhlenwohnung. Eine Öffnung in der Felswand gab einen überwältigenden Blick nach Westen frei. Unten in der Flussaue strömte die Kura am Fuss einer ausgedörrten Hochebene Richtung Kaspisches Meer.
In ihrem Wasser brach sich glitzernd das Sonnenlicht. Ein Graureiher stand im seichten Ufergewässer und wartete auf Beute. Im klaren sommerlichen Abendhimmel schien der Kleine Kaukasus zum Greifen nah. Die Sonne stand noch anderthalb Handbreit über dem Horizont. Sie färbte die Gipfel und Kuppen der Berge rötlich, während sich über die tiefer liegenden Regionen des Gebirges bereits violette Schatten legten.
Mit einem Mal begriff Jakob, was der Bruder seines Vaters mit seiner Vision der Ewigkeit hatte zum Ausdruck bringen wollen. Die Mutter hatte ihm einmal die Mappe mit den Bildern seines Onkels gezeigt. Er kannte die Entwürfe jenes Werkes, das zu vollenden ihm nicht vergönnt gewesen war. Jetzt verstand er, dass der junge Maler auf dem Schiff, das ihn übers Schwarze Meer trug, vom Farbenspiel am Horizont überwältigt gewesen sein musste. Ob der zu früh Verstorbene dieses Erlebnis auch mit Musik verbunden hatte, so wie sein nach ihm getaufter Neffe? Wahrscheinlich nicht.
Jakob schloss die Augen. Er hörte Klänge. Sie priesen Königin Tamar, mit deren Tod im Jahr 1213 das goldene Zeitalter Georgiens zu Ende gegangen war. Auch das Lied von Schota Rustawelis unerfüllter Liebe hörte er. Jakob zog das Notizbuch mit den vorbereiteten Notenlinien, das er stets bei sich trug, aus der Rocktasche.
Einen Augenblick überlegte er, in welcher Tonart er die beiden Grundmelodien festhalten sollte. Dann entschied er sich, Rustawelis Liebe in a-Moll zu erzählen und den Part von Königin Tamar in C-Dur. Er würde das Stück mit den warmen, melancholischen Klängen eines Cellos, von Klavierakkorden untermalt, adagio einleiten und mit einer Hymne auf Königin Tamar beenden. Hineinflechten würde er Elemente aus seiner sinfonischen Dichtung Der Recke im Pantherfell.
Er arbeitete in fieberhafter Eile. Als er mit seinem Kompositionsentwurf fertig war und aus dem Felsenfenster schaute, stellte er fest, dass die Sonne hinter den Bergen verschwunden war. Noch leuchtete der westliche Himmel in einem hellen Gold, aber bald würde die Nacht hereinbrechen. Jakob realisierte, dass das, was er soeben zu Papier gebracht hatte, die Basis zum ersten Satz seiner Kaukasischen Sinfonie war, eines Orchesterwerks, das er seit Jahren mit sich herumtrug. Er würde ihn Das goldene Zeitalter Georgiens nennen.
Plötzlich hörte er ein Geräusch hinter sich. Der Vater stand im Eingang der Felsenwohnung. In der Hand hielt er eine Laterne.
«Was tust du hier?», fragte er und: «Ist es Zufall, dass du ausgerechnet in dieser Höhle bist?» Seine Stimme klang seltsam erregt.
Er sei bei seinem Rundgang durch Uplisziche auf den Saal der Königin Tamar gestossen, sagte Jakob. Der Blick aus der Wandöffnung, fuhr er fort, habe ihn zu einer Komposition inspiriert.
«Inspiriert …» Simon schaute seinen Jüngsten durchdringend an. «Hast du gewusst, dass dein Onkel in diesem Raum gestorben ist? – Nein», gab er sich nach einer Weile selbst Antwort, «wie hättest du das wissen sollen?» Und dann, mehr zu sich selbst: «Ich war schon immer davon überzeugt, dass er in dir weiterlebt.»
Jakob schwieg betroffen. Sah der Vater in ihm nur den verstorbenen Onkel?
«Geh jetzt zu Hannes», sagte der Vater schliesslich. «Ich möchte diese Nacht hier verbringen. Allein.»
3
Während Hannes und Jakob am Kopfende des Sarges standen, hielt sich Karl etwas im Hintergrund. Aus halb geschlossenen Augen betrachtete er den Verstorbenen. Er hatte schon viele Leichen gesehen und auch einige seziert. Den Glauben der Mutter, deren Seelen würden weiterleben, teilte er nicht.
Was bleibt vom Menschen, fragte er sich. Herz, Hirn, Lunge, Milz und anderes mehr, kurz: Innereien, ausserdem Muskeln, Nervenstränge, Adern, ein Haufen Knochen und alles zusammengehalten von einem Sack aus Haut.
Aber nichts funktioniert mehr. Was seine Persönlichkeit ausgemacht hat, ist nicht mehr da. Die Augen, die sich mit Licht füllten, das Gehör, in welches Musik drang, die Nase, die Gerüche wahrnahm, die Zunge, die Speisen und Getränke schmeckte. Keine Gesten, keine Mimik, nichts. Und das tote Fleisch beginnt, sich verwesend aufzulösen.
Folge 62
Was bleibt, sind Spuren: ein Brief, ein Foto, ein Aktenstück im Kontor. Aber auch das wird verblassen. Gewiss, solange jemand an ihn denkt, ist der Verstorbene noch da. Wenn es hochkommt, hinterlässt er etwas, das die Erinnerung an ihn überdauert: ein Haus, das er gebaut, oder einen Baum, den er gepflanzt hat. Vielleicht lebt er in seinen Kindern und Kindeskindern fort, bis sich sein Erbgut so sehr mit dem anderer vermischt hat, dass auch davon kaum noch etwas übrig bleibt. Ohnehin sind die Geschichten, die man über ihn erzählt, spannender als der Mensch selbst. Sie zeugen von seinem Besten und seinem Schlechtesten: von seinen Möglichkeiten.
Noch immer betrachtete Karl die Leiche des Mannes, der ihn an Sohnes statt angenommen hatte. Um in den Besitz des Gutshofs Eben-Ezer zu kommen? Dies wohl auch. Aber er zweifelte nicht daran, dass Simon Diepoldswiler die illegitime Tochter des adeligen Baltendeutschen Vitus von Fenzlau auf seine verschlossene Art geliebt hatte. Karls Verhältnis zum Mann seiner Mutter war stets kompliziert gewesen. In seiner Kindheit hatte er sich vergeblich nach dessen Liebe gesehnt. Später hatte er sich von ihm abgewandt. In den letzten Jahren hatte Karl Zugang zu ihm gefunden. Bis zu einem gewissen Grad wenigstens. Sie hatten gelernt, sich gegenseitig zu respektieren. Aber erst kurz vor dessen Tod hatte er verstanden, was den Mann, den er Vater nannte, sein Leben lang angetrieben hatte.
Das war unmittelbar nach dem Erntedankfest gewesen. Die Mutter hatte ihn gebeten, sie nach Eben-Ezer zu begleiten. Der Vater habe nach ihm verlangt. Und so war Karl mit seinen Angehörigen auf den Gutshof gefahren.
Als er noch am selben Abend das Schlafzimmer seiner Eltern betrat und sich ans Bett des Kranken setzte, fiel ihm auf, dass an der gegenüberliegenden Wand ein Bild hing, das er nicht kannte: ein Selbstporträt von Simons verstorbenem Bruder.
Jakob trägt eine blaue, halbleinene Bluse voller Farbkleckse. In den Händen hält er Pinsel und Palette. Seine hellen Augen schauen über den Betrachter hinweg. In seinem schmalen, bleichen Gesicht, das jenem von Karls jüngerem Bruder gleicht, ist keine Regung zu erkennen. Lauscht er den Geigentönen, mit denen ihm der fiedelnde Tod, der über seine rechte Schulter blickt, zum Tanz aufspielt?
«Es stand lange Zeit in einem Schrank im Estrich», sagte Simon, der dem Blick seines Adoptivsohns gefolgt war. «Ich mochte es nicht sehen, es bedrückte mich. Aber jetzt, wo es ans Sterben geht …» Er verstummte.
«Der Tod macht mir keine Angst», behauptete er, «aber mich quält der Gedanke an Eben-Ezer.» Und als Karl ihn fragend anschaute, erklärte er: «Der Baron», er hatte seinen Schwiegervater nie anders genannt, «hat den Hof anno 1839 von Gottlob Breunig gekauft und ihn dreiunddreissig Jahre später Sophie als Brautgabe mit in die Ehe gegeben. Wir waren drei Generationen von Kolonisten, die aus einem Stück Steppenland einen Gutsbetrieb gemacht haben, um den man mich in der alten Heimat beneiden würde. Ich habe immer gehofft, nach meinem Tod würden ihn Hannes und später Elias bewirtschaften. Aber jetzt haben die Hungerleider in Russland den Zaren gezwungen abzudanken, und auch bei uns im Kaukasus scheint alles drunter und drüber zu gehen. Wenn die rote Brut in Grusinien ans Ruder käme, würde sie uns zum Teufel jagen. Sag mir, dass das nie geschehen wird!»
Hungerleider und rote Brut. Karl wusste, dass sein Vater diese Menschen verachtete. Für ihn waren es gescheiterte, kleinbäuerliche Existenzen, die zu schwach waren, sich gegen ihr Schicksal aufzulehnen, und deshalb in Fabriken malochen mussten. Die Vorstellung, dass dieses Pack die Macht übernehmen könnte, war ihm ein Gräuel.
«Sag mir, dass das nie geschehen wird!», wiederholte Simon beschwörend.
Karl war überrascht. War das der Grund, weshalb der Alte mit ihm sprechen wollte? Traute er ihm mehr politischen Sachverstand zu als Hannes und Jakob, seinen eigenen Söhnen? Suchte der Alte ausgerechnet von ihm, dem Kuckuckskind, Trost auf dem Sterbebett? Was wusste Karl schon über die Pläne Lenins und der Bolschewiki?
Im vergangenen Sommer hatte er sich mit Merab Metreveli darüber unterhalten. Sein ehemaliger Schulkamerad sass als Vertreter der georgischen Menschewiki in der Duma in Petrograd und machte Urlaub in Georgien. Sie trafen sich in Tiflis, in demselben Café am Jermolow-Eriwanski-Platz, wo sie vor zehn Jahren Zeugen des Überfalls auf den Geldtransport des Zaren geworden waren.
«Als der Zar im Februar zurücktreten musste», hatte Merab berichtet, «setzte die Duma, wie du weisst, eine provisorische Regierung ein. Sie bestand aus Bürgerlichen sowie aus Menschewiki und Sozialrevolutionären. Einzig die Bolschewiki hielten sich fern. Alexander Kerenskij, diese aufgeblasene Null, wurde Regierungschef.»
Merab ereiferte sich. Der Mann habe sich masslos überschätzt, schimpfte er. «Er residierte im Winterpalast, schlief im Bett von Zar Alexander III. und stellte eine Büste Bonapartes auf seinen Schreibtisch. Er entblödete sich nicht einmal, sich in napoleonischer Geste fotografieren zu lassen, in einer Phantasieuniform samt Stiefeln, die rechte Hand zwischen zwei geöffneten Westenknöpfen auf den Bauch gedrückt.»
Folge 63
Nichts habe er begriffen, der blöde Hund, nichts! Nicht, dass das Volk kriegsmüde war, nachdem inzwischen beinahe zwei Millionen Soldaten und anderthalb Millionen Zivilisten ihr Leben verloren hatten. Nicht, dass die Industriearbeiter und ihre Familien hungerten und zunehmend erbittert waren über die adeligen Schmarotzer, die sich auf ihre Kosten die Wänste vollschlugen. «Im Gegenteil: Kerenskij spielte den Bolschewiki in die Hände, als er darauf bestand, den Krieg weiterzuführen. Und dann kam Lemberg.» Metreveli starrte ins Leere.
Karl kannte die Geschichte. Er winkte dem Kellner, bestellte eine Flasche armenischen Cognac und schenkte dem Freund und sich ein Glas ein.
Am 18. Juni 1917 hatte Kerenskij in der Ukraine, unweit der Stadt Lemberg, die Armee die Deutschen angreifen lassen. Man hatte ihm versichert, es sei mit nicht mehr als sechstausend russischen Toten zu rechnen. Nach drei Tagen blieben vierhunderttausend auf dem Schlachtfeld. Ebenso viele waren desertiert, hatten sich aus dem Staub gemacht. Aber Kerenskij wollte den Krieg. Weil er sich als grosser Feldherr sah? Aus Nibelungentreue den Verbündeten gegenüber?
Er liess sogar, unterstützt von den Menschewiki und den Sozialrevolutionären, die seit der Februarrevolution abgeschaffte Todesstrafe wieder einführen und ordnete die Verlegung der zweihundertfünfzigtausend Mann der Petrograder Garnison an die Front an. Damit trieb er die Soldaten, einfache Bauernburschen, die nicht für Russland sterben wollten, in die Meuterei und schliesslich in die Arme der Roten.
«Weshalb willst du meine Frage nicht beantworten?» Simons Stimme klang erregt. Er richtete sich im Bett auf.
«Ob die Bolschewiki in Georgien die Herrschaft übernehmen werden? Wie soll ich das wissen? Ich bin kein Prophet.» Karl zuckte mit den Schultern. «Damit es so weit kommt, müssten sie sich zuerst in Russland an die Macht putschen. Und selbst wenn ihnen das gelingt – ob sie sich anschliessend an der Macht halten könnten, ob sie fähig wären, ein Riesenreich zu regieren, und ob sie auch die kaukasischen Völker ihrem Imperium einverleiben möchten, das steht in den Sternen.»
«Ist es möglich, dass Zar Nikolaus zurückkehrt?» Noch immer sass Simon halb aufgerichtet in seinem Bett. Er schaute seinen Adoptivsohn flehend an.
Karl wunderte sich nicht über die verzweifelte Hoffnung des Alten. Wie viele Schweizer und Deutsche, die sich in den vergangenen hundert Jahren im Zarenreich niedergelassen hatten, waren auch die Diepolswilers reich geworden. Dank ihrem Fleiss, gewiss, aber auch dank glücklicher Umstände, dank der vom Zaren gewährten Privilegien und dank der russischen Armee, die sie vor den Übergriffen der Tataren und Türken geschützt hatte. Die Kolonisten hatten zu günstigen Bedingungen Land kaufen oder pachten können, und die Einheimischen mussten sich ihnen, wenn sie überleben wollten, als Tagelöhner, Hirten, Knechte und Mägde verdingen.
Simons Emmentaler Vorfahren waren Grossbauern gewesen, und wie für jene schien dem Alten der eigene Grund und Boden bedeutsamer zu sein als seine individuelle Existenz. Solange der Hof der Familie gehörte, würde er, genau gleich wie seine Ahnen, nach dem Tod irgendwie weiterleben.
Karl schaute den Mann, der an ihm Vaterstelle vertreten hatte, lange schweigend an. Er mochte ihn nicht belügen. «Nein», sagte er, «ich glaube nicht, dass er zurückkehrt.»
Simon liess sich in die Kissen zurückfallen. Er schloss die Augen und lag da: ein alter Mann ohne Zukunft und ohne Hoffnung. Weder für sich noch für jene, die ihn überleben würden.
Jetzt, in der Hauskapelle von Eben-Ezer, vor der aufgebahrten Leiche, fragte sich Karl, was sein Adoptivvater wohl gesagt haben mochte, als er im Februar vom Sturz des Zaren gehört hatte. Vermutlich hatte er geschwiegen, als ihm jemand, wahrscheinlich Hannes, erzählte, Nikolaj II. habe vor Fabrikarbeitern, Frauen und Soldaten kapitulieren müssen. Karl stellte sich vor, wie der Alte den Kopf gehoben hatte, wie sich seine Augen zu Schlitzen verengt und seine Kieferknochen zu mahlen begonnen hatten. So war er immer gewesen. Zugesperrt, darauf bedacht zu verbergen, was in ihm vorging. Er malte sich aus, wie der Alte, was er gehört hatte, in Gedanken drehte und wendete, wie er zu ergründen versuchte, was diese Ereignisse für ihn und Hannes, der einmal Eben-Ezer erben würde, bedeuteten. Das brauchte ihn inzwischen nicht mehr zu kümmern.
Karl schaute zu seiner Mutter, die im Lehnstuhl sass und Totenwache hielt. Sie hatte die Augen geschlossen. War sie eingeschlafen? Gab sie sich Bildern aus der Vergangenheit hin?
Als ob Sophie den Blick ihres Sohnes gespürt hätte, öffnete sie die Lider. «Woran denkst du?», fragte sie.
Der Tod sei das Ende, und wenn man das Leben vom Ende her denke, so erscheine alles sinnlos, war ihm durch den Kopf gegangen. Diese Überlegung konnte er ihr aber nicht zumuten. Deshalb zitierte er eine Stelle aus dem Buch Prediger: «Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das alles ist Windhauch.»
Auch wenn er Mutters Religion ablehnte und nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubte, war Karl bibelfest. Dafür hatte sie während seiner Kindheit und Jugend mit ihren täglichen Lesungen aus der Schrift gesorgt.
Sophie lächelte kaum merklich. Es war ein altes Spiel zwischen ihr und ihrem Ältesten. Er zitierte einen Bibelvers und sie die Fortsetzung. Sie kannte die Stelle. «Welchen Vorteil hat der Mensch von all seinem Besitz, für den er sich anstrengt unter der Sonne?», fuhr sie fort.
Folge 64
Sie betrachteten beide den Toten. Simon Diepoldswiler trug seinen schwarzen Anzug, denselben, den er im vergangenen Frühjahr getragen hatte, als er Karl in seiner Praxis aufsuchte. Er lag da, mit über der Brust gefalteten Händen. Aus seinen Gesichtszügen war nicht abzulesen, ob er schwer gestorben war, voller Angst vor einer Zukunft, die nicht mehr die seine war, oder mit dem Leben versöhnt.
Du bist rechtzeitig gegangen, dachte Karl. Das Schicksal von Eben-Ezer ist jetzt untrennbar mit jenem Georgiens verknüpft, und du musst nicht mehr erleben, ob dein Lebenswerk bestehen bleiben oder, was wahrscheinlicher ist, untergehen wird.
4
Kurz darauf war Sophie wieder allein mit dem Toten. Ich bin schon vor meiner Geburt hier gewesen, fiel ihr ein. Das war zwischen Weihnachten und Neujahr 1854/55 gewesen. Mayranoush hatte ihr davon erzählt:
Als Karl und Käthi Schüpbach, das Verwalterehepaar auf Eben-Ezer, entdeckte, dass ihre siebzehnjährige Tochter im vierten Monat schwanger war, verstiessen sie Thilde und wiesen sie aus dem Haus. Pater Mikheil, der sich damals um das Seelenheil der Leute im Dorf kümmerte, brachte die Unglückliche notdürftig in der Hauskapelle unter. Sophie malte sich aus, wie die junge Thilde vor dem monumentalen Bild des Gekreuzigten stand und Christus um Hilfe anflehte. In ihrer Vorstellung verschmolz sie mit Maria Magdalena, die auf dem Gemälde mit erhobenen Armen zu Füssen des sterbenden Erlösers kniete. Auch sie selber war mit siebzehn geschwängert worden. Ich habe mich schwängern lassen, korrigierte sie sich, denn sie hatte sich ohne Sinn und Verstand in den schönen Leutnant Schota Awalischwili verliebt. Sie wäre der öffentlichen Schande preisgegeben gewesen, wenn nicht Simon sie zur Frau genommen hätte.
Marie betrat die Kapelle und riss Sophie aus ihren Erinnerungen. «Ich bringe dir frisches Wasser, Mutter.» Sie stellte einen Krug neben den Lehnsessel.
Sie ist noch immer schön, dachte Sophie. Ob sie wohl ihre Haare färbt? Ihr gefiel Maries volles, dunkles Haar. Mehr noch bewunderte sie ihren Mut, es wie die kaukasischen Weiber offen zu tragen, sich zu schminken und zu parfümieren, ihre Freude an Schmuck und ihre Unbekümmertheit. Im frommen Katharinenfeld tuschelte man hinter Maries Rücken, aber sie ignorierte die Lästermäuler ebenso wie die Blicke der Männer. Sie wollte nur Jakob gefallen, ihrem Mann, den sie seit ihrer Kindheit liebte.
Sie ist ganz anders als ihre Schwester, stellte Sophie zum wiederholten Male fest. Martha unterschied sich nicht von den Kolonistenfrauen. Wie jene kämmte sie ihre Haare straff aus dem Gesicht und band sie im Nacken zu einem strengen Knoten. Wie jene trug sie stets dunkle Kleider und nur an Feiertagen eine weisse, hochgeschlossene Bluse. Wie jene war sie gottesfürchtig und sich ihres Glaubens sicher bis zur Selbstgerechtigkeit. Wie jene mied sie den Pfad der Sünde. Und wie jene missbilligte sie Maries Art.
Die Schwester sei ein flatterhaftes, arbeitsscheues Ding, hatte sie einmal zur Schwiegermutter gesagt. Das war nach einem Konzert gewesen. Marie war in ihrem schulterfreien, roten Kleid auf der Bühne des Pavillons im Lustgarten gestanden und hatte den Solopart von Brahms’ Violinkonzert in D-Dur gespielt. Gefallsüchtig und schamlos sei sie. Marthas Lippen waren zu einem dünnen Strich geworden, wie immer, wenn sie sich ereiferte. «Der Herr wird sie für ihre Lasterhaftigkeit bestrafen.»
Martha weiss immer, was Gott will, hatte Sophie gedacht, kein Wunder, denn sein Wille stimmt stets mit ihrem überein. Sie nahm es ihr noch heute übel, dass sie, kaum war Mayranoush aus dem Haus, Ekaterina und Tamara, die beiden Mägde, entlassen hatte. «Wir brauchen sie nicht», hatte sie gesagt. «Wenn wir einmal Hilfe benötigen, können wir Frauen aus dem Dorf als Tagelöhnerinnen dingen. Das kostet weniger.»
Marie war neben dem Lehnstuhl der Schwiegermutter stehen geblieben. Sie streichelte deren Arm. Sophie empfand die zärtliche Geste als tröstlich. «Bevor du kamst», sagte sie, «habe ich ans Lied vom wilden Knochenmann denken müssen. Ich habe es gespielt, als Simon um meine Hand angehalten hat. Er hat es geliebt.»
«Soll ich es singen? Für dich? Für ihn?»
«Das wäre schön.»
Marie stellte sich neben den Sarg. Sie summte die Mollmelodie der sakralen Eingangskadenz. Dann sang sie:
Vorüber! Ach, vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh, Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Ihre ausdrucksvolle Stimme verzauberte Sophie. Marie wurde zur jungen Frau, der sich aus dem Hintergrund der Tod nähert. Ihre Angst wurde spürbar. Sophie glaubte wahrzunehmen, wie das Herz des Mädchens schlug. Es war, als sinke es vor dem wilden Knochenmann in die Knie, flehe ihn an, es zu verschonen, nenne ihn «Lieber», um ihn milde zu stimmen. Der schnelle Rhythmus der Melodie akzentuierte die Gehetztheit und die Angst des Mädchens vor dem ungerufenen Besucher. Die Pause zwischen der ersten und zweiten Strophe schien sich unendlich in die Länge zu ziehen. Es war, als sei der Knochenmann erstarrt. Dann fuhr Marie fort. Oder war es der Tod, der antwortete?
Folge 65
Im Rhythmus einer Pavane, die das Totenreich anklingen liess, sang er mit sonorer, tonloser Stimme zunächst, dann melodiös, rudimentär nur und dunkel, aber er sang, brachte zum Ausdruck, dass ihn das zarte Wesen, das ihn anfleht, rührt, Gefühle in ihm weckt:
Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund und komme nicht zu strafen.
Sei guten Muts! Ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen.
Sophie schloss die Augen. Sie war überwältigt vom Reichtum in Maries Stimme, von ihrer Fähigkeit, die Emotionen, die in Text und Melodie zum Ausdruck kommen, farbig zu gestalten. Ihr war, als höre sie das ruhige, sanfte Nachspiel des Klaviers, das auf das Vorspiel Bezug nimmt, allerdings verkürzt und diesmal in Dur.
Sophie spürte, wie sich Marie zu ihr beugte und ihren Scheitel küsste, nahm wahr, wie die Schwiegertochter leise die Kapelle verliess. Aber sie war in Gedanken wieder ganz bei Simon, hoffte, dass das Lied bis zu ihm ins Land ohne Wiederkehr vorgedrungen war. Doch vielleicht ist er noch da, dachte sie. Simon war ein guter Mann gewesen. Sie wusste, dass er sie geliebt hatte – auch wenn er, genau gleich wie ihr Grossvater und ihr Vater, unfähig gewesen war, seine Gefühle zu zeigen. Sophie seufzte. Vielleicht sind alle Männer so, dachte sie.
Sie trat an den Sarg und betrachtete im Kerzenlicht des silbernen Leuchters den Toten: Sein stahlgraues Haar trat an der Stirne zurück. Die schmale Nase sprang kühn aus dem kalkweissen Gesicht. Seine Lippen blieben unter dem Schnurrbart verborgen. In den letzten Jahren hatte er ihn sich zu beiden Seiten der Mundwinkel abwärts wachsen lassen, was ihm ein strenges Aussehen gab.
Sophie ertappte sich bei der Frage, was dieser Tote, der einst mit ihr Kinder gezeugt und grossgezogen hatte, wohl gewesen sei. Nein, kein vornehmer Gutsherr wie ihr Vater, der Baron. Das hätte er nie sein wollen. Bauer, Viehzüchter und Käser – das war Simons Bestimmung gewesen. Er hatte sein Leben lang hart gearbeitet, täglich vom Sonnenaufgang bis zum Eindunkeln.
Obwohl er reich gewesen war, hatte er sich keinen Luxus gegönnt, war der Ansicht gewesen, das stehe einem wie ihm nicht zu. Durch seine Träume, das hatte er ihr einmal verraten, waren Stiere gezogen, prachtvolle Tiere mit breiter Brust und muskulösem Rücken, die schweren Leiber aneinandergedrängt, die mächtigen Köpfe mit den weit ausholenden Hörnern in den Nacken geworfen.
5
Drei Tage nach seinem Tod, am Sonntag, dem 28. Oktober 1917, wurde Simon Diepoldswiler bestattet. Hannes, seine zwei ältesten Söhne und Jakob hatten den Sarg hinauf zum Hügel über dem Weiher getragen, wo der Tote nach seinem Willen zur letzten Ruhe gebettet werden sollte.
Es war kühler Herbsttag. Die Pappeln trugen bereits ihr gelbes Laub. Der Wind riss einzelne Blätter von den Bäumen und trug sie durch die klare Luft davon.
Das Jahr neigt sich seinem Ende entgegen, dachte Sophie. Zu Michaeli haben die Hirten das Vieh von den Almen getrieben. Die Speicher sind gefüllt, das Heu ist eingebracht. Wir sind für den Winter gerüstet. Wie immer um diese Zeit. Sie kämpfte gegen ihre Tränen. «Aber nichts ist mehr wie immer», flüsterte sie. Ihre Freundin Lotte, auf die sie sich stützte, legte den Arm um ihre Schultern.
Alle standen um das Grab: Angehörige, Freunde, Pächter, Tauner, Handwerker, Hirten, Milchweiber, Knechte und Mägde. Zuvor hatten die Dorfleute gemeinsam mit ihrem Priester, Pater Nikoloz, in einer langen Kolonne vor der Hauskapelle gewartet, um Abschied vom Gutsherrn zu nehmen. Einer nach dem andern war eingelassen worden. Angesichts des Toten hatten sie sich nach der Art der orthodoxen Christen bekreuzigt.
Cornelius Fresendorff trat neben den Sarg, den Hannes und seine Söhne am Rand der für Simon bestimmten Grube abgestellt hatten. «Simon Diepoldswiler hat mich gebeten, an seinem Grab ein paar Worte zu sprechen», sagte er.
Das war im vergangenen Frühjahr gewesen. Als sein ehemaliger Dienstherr in seine Studierstube trat, sass Cornelius am Schreibtisch. Simon blieb auf der Türschwelle stehen. Er drehte seinen Hut in den Händen. Verlegen? Sein Rücken war gebeugt, als trüge er eine schwere Last. «Ich möchte mit dir reden», sagte er.
«Lass mich noch drei Aufsätze korrigieren, dann habe ich Zeit für dich.» Fresendorff war nicht nur Vorsteher der Dorfschule, sondern unterrichtete auch die beiden Abschlussklassen. Während er mit seinem Rotstift da und dort ein Komma einfügte, hier ein überflüssiges H durchstrich, eine Randbemerkung hinkritzelte und sich ärgerte, wenn einer eine gar zu grosse Eselei zu Papier gebracht hatte, schaute er manchmal verstohlen zu seinem Gast. Er hatte ihn aufgefordert, im Besuchersessel Platz zu nehmen. Simon sah schlecht aus. Sein Gesicht war grau – grau und eingefallen. Überhaupt hatte er an Gewicht verloren. Der Sonntagsanzug, den er immer trug, wenn er nach Katharinenfeld kam, war ihm zu weit. Er starrte aus dem offenen Fenster. Draussen prunkten die Obstbäume mit ihren weissen und rosa Blüten. Der Wald an den Hängen des Georglesbergs schimmerte grüngolden in der Abendsonne. Die Luft war lau. Aber Cornelius glaubte kaum, dass Simon das Fest, das der Frühling feierte, überhaupt wahrnahm. Er legte den Rotstift neben den Stapel der korrigierten Schulhefte. «Du hast Kummer», stellte er fest.
Folge 66
«Ich komme von Karl.» Simon wandte sich nicht um, sprach zum Fenster hinaus. «Er sagt, dass ich nicht mehr lange zu leben habe.» Er schwieg. Fresendorff rührte sich nicht. Wartete. Endlich fuhr Simon fort: «Ich bin hier, um dich zu fragen, ob du an meiner Beerdigung ein paar Worte sprechen könntest. Du weisst, dass ich die Frömmler von Katharinenfeld nicht mag – und am wenigsten ihren Pastor.» Erst jetzt schaute er Cornelius an. «Willst du mir diesen Freundschaftsdienst tun?»
Freundschaftsdienst. Cornelius hätte nie geglaubt, dass Simon zu freundschaftlichen Gefühlen fähig war. Weder ihm noch irgendjemand anderem gegenüber. Er war ein verschlossener Mensch, einer der verbarg, was in ihm vorging. Gewiss, er hatte sich um ihn gekümmert, als er, noch grün hinter den Ohren, aus dem kurländischen Libau nach Grusinien gekommen war. Er hatte ihm das Reiten beigebracht und ihn gelehrt, mit einer Waffe umzugehen. Es war Simon gewesen, der ihm, dem Hauslehrer seiner Kinder, ohne viel zu sagen, die Augen für die Schönheit dieses weiten, wilden Landes geöffnet hatte. Sie waren gemeinsam durch die Steppe geritten und hatten manchmal draussen unter freiem Himmel bei den Hirten genächtigt.
Noch heute forderte ihn Simon im Herbst auf, mit ihm und Lewan Gabaschwili im Forst von Eben-Ezer zu jagen. Dann lebten die drei Männer für ein paar Tage in der Hütte am Pinesauri. Am Abend sassen sie ums Feuer. Die Gespräche beschränkten sich aufs Notwendigste. Meistens schwieg man, hing seinen Gedanken nach. Er und Simon waren sich nie nähergekommen. Da hatte es immer eine Schranke gegeben. Oder täuschte er sich?
Fresendorff verzichtete darauf, sich nach Simons Krankheit zu erkundigen. Er spürte, dass dies unerwünscht war. «Was stellst du dir denn vor, was ich an deinem Grab sagen soll?», fragte er stattdessen.
«Was man halt so sagt über einen, der verstorben ist – seinen Lebenslauf.»
«Da musst du mir schon helfen.» Cornelius dachte daran, dass Karl einmal bemerkt hatte, niemand auf Eben-Ezer, nicht einmal die Mutter, wisse etwas über die Kindheit des Alten. Er habe sich stets geweigert, von der Zeit zu erzählen, bevor er das Käserhandwerk erlernt habe.
«Was möchtest du hören?» Simon schaute ihn forschend an.
«Alles. Von Anfang an.»
«Von Anfang an?» Simon schwieg, dachte lange nach. Dann rückte er seinen Stuhl so, dass Cornelius, der am Schreibtisch sass, nicht mehr als einen kleinen Teil seiner linken Gesichtshälfte sehen konnte. «Ich stamme aus einer wohlhabenden Emmentaler Bauernfamilie», begann er. «Unser Hof, der sich am Rand von Langnau befand, war seit Generationen in unserem Besitz. Ich als Jüngster sollte ihn nach bernischem Recht einmal erben.» Simon war kein geübter Erzähler. Immer wieder stockte er, suchte nach Worten, nach Formulierungen. Manchmal schwieg er minutenlang, schaute reglos aus dem Fenster.
Fresendorff hörte zu, ohne Simon zu unterbrechen. Er verstand, dass sein Besucher ihn nicht anschauen mochte, denn er erzählte seine Geschichte, die Geschichte eines Kindes, das mehr hatte tragen müssen, als einem Kind zuzumuten war: Tod, Betrug, Ausbeutung, Lieblosigkeit, Brutalität. Machte Simon ihn zu seinem Beichtvater? Forderte er Absolution dafür, dass er geworden war, was er war?
«Es gibt Wunden, die ein Leben lang nicht vernarben», sagte Simon schliesslich. «Es hat keinen Sinn, vor andern in ihnen zu wühlen. Auch nicht vor seinen Nächsten. Vor ihnen schon gar nicht. Ich habe das alles nur ertragen, weil ich mir vorstellte, mein Herz sei aus Stein.» Die Pause, die diesen Sätzen folgte, war für Cornelius schier unerträglich.
Simon bewegte sich nicht, starrte zum Fenster hinaus, sprach endlich weiter. Seine Stimme blieb monoton. Er hielt sich an die Fakten, vermied Schuldzuweisungen, sprach nicht darüber, was er empfunden hatte. Lediglich sein Schweigen nach gewissen Sätzen verriet, wie schwer es ihm fiel, sein Leben zu schildern.
Nach zwei Stunden stemmte er sich aus dem Besuchersessel und wandte sich Cornelius zu. «Das ist alles», sagte er. Einen Moment blieb er unschlüssig stehen. Dann fügte er ein «Danke, dass du zugehört hast» hinzu.
«Möchtest du nicht bleiben?» Auch Fresendorff war aufgestanden. «Wir könnten zusammen etwas essen und trinken.»
Simon schüttelte den Kopf. «Ich will jetzt allein sein.»
«Ja, er hat mich gebeten, an seinem Grab zu sprechen.» Der kleine, etwas korpulente Mann hatte seine Brille abgenommen und putzte umständlich die Gläser. Jetzt setzte er sie wieder auf und betrachtete die Trauernden, die sich auf der Krete versammelt hatten und ihn erwartungsvoll anschauten.
Dann begann Cornelius Fresendorff von Simon Diepoldswiler zu erzählen, von Simon, der elfjährig zur Vollwaise geworden und von seinen Verwandten um sein Erbe betrogen worden war. «Sie haben ihn auf dem Verdingmarkt von Langnau als Kindersklaven verkauft», erzählte er. «Er musste sich von rohen Händen abtasten lassen, die seine Muskelkraft prüfen wollten. Schliesslich erhielt jener Bauer den Zuschlag, der von der Gemeinde das geringste Pflegegeld verlangte.»
Fresendorffs Stimme zitterte vor Empörung, als er berichtete, wie der Junge auf einem einsamen Hof im Gohlgraben weit über seine Kräfte arbeiten musste, wie er Hunger litt, wie er gedemütigt und verhöhnt wurde.
Folge 67
Sophie weinte. Die Vorstellung vom Elend des Kindes, das später ihr Mann wurde, erschütterte sie. Sie stellte sich vor, wie ihn das, was ihm in seiner Jugend angetan worden war, ein Leben lang begleitet hatte. Warum hatte er ihr alles verschwiegen? Warum hatte er nicht Trost bei ihr gesucht? Aber hätte er sich trösten lassen? Lotte, die neben ihr stand, zog sie an sich.
Fresendorff sprach weiter. In seinem weichen, baltisch gefärbten Deutsch berichtete er von Simons Geschwistern: von Esther, die vom eigenen Vetter geschändet und in den Tod getrieben worden war, und von Jakob, den Simon an der Kura hatte begraben müssen.
Ruth, die älteste Enkelin des Verstorbenen, stand neben Pater Nikoloz und übersetzte ihm flüsternd die Leichenrede. Der Priester hatte sie darum gebeten. Er würde den Leuten aus dem Dorf später vom Leben des Gutsherrn erzählen.
Inzwischen sprach Cornelius davon, wie Simon zum Besitzer von Eben-Ezer geworden war, das seine Frau ihm als Brautgabe in die Ehe gebracht, und wie er den Viehbestand des Gutshofs im Laufe seines Lebens verdoppelt hatte. «Ihm waren nach allem Leid mehr als fünf gute Jahrzehnte beschieden. Seine Arbeit war gesegnet, wie auch seine Ehe. Er liebte seine Frau und seine drei prächtigen Söhne», schloss er die Rede.
Zwei, nicht drei Söhne, dachte Karl. Hannes hat er geliebt. Er war Blut von seinem Blut. Auf Jakob war er stolz. Mich hat er in Kauf genommen. Überrascht registrierte er, dass er, seiner vierundvierzig Jahre zum Trotz, noch immer damit haderte, dass er nie die Liebe eines Vaters erfahren hatte.
Später, nachdem man das Vaterunser gesprochen hatte, liessen Hannes, Elias, Josua und Gideon den Sarg in die Grube hinunter. Sophie, die sich weinend an Lottes Arm klammerte, warf als Erste eine Handvoll Erde auf den Deckel.
Wie es Brauch war, hatte Hannes, der jetzt Herr auf Eben-Ezer war, ein Leichenmahl richten lassen. Als die Trauergäste vom Begräbnis zurückkamen, standen vor dem Herrenhaus lange Tafeln, auf denen die Mägde Käse, Gemüse und saure Sahne aufgetischt hatten.
Auch für Khorovats war gesorgt: grosse Schüsseln, gefüllt mit Würfeln aus mariniertem Lammfleisch. Sie brauchten nur noch zusammen mit Tomaten, Zwiebeln, Paprika und Auberginen auf Spiesse gesteckt und über dem Feuer, das in einem offenen Ofen brannte, gebraten zu werden. Zudem gab es stapelweise frisch gebackenes Fladenbrot und kachetischen Wein, den man aus riesigen Tonkrügen schöpfte.
Wie immer bei solchen Anlässen sprach man beim Essen in gedämpftem Ton, tauschte Erinnerungen über den Toten aus, erzählte sich Anekdoten. Aber allmählich lockerte sich die Stimmung, zumal sich die Witwe zurückgezogen hatte. Der Wein tat seine Wirkung. Man sprach lauter, lachte, doch mit einem Mal wurde es still, denn aus dem offenen Fenster im ersten Stock des Herrenhauses war Musik zu hören. Mit Geige und Klavier spielten Marie und Jakob eine sehnsuchtsvolle Melodie in Moll.
Cornelius Fresendorff schaute Karl fragend an. Aber der schüttelte den Kopf. Er kannte das Stück auch nicht. «Es muss neu sein», flüsterte er. «Vielleicht hat er es für Vater komponiert.»
Er schloss die Augen, liess die Töne auf sich einwirken. In seinem Kopf entstanden Bilder aus seiner Kindheit auf Eben-Ezer: die Natur, die aus dem Winterschlaf erwacht, die Steppe, die grünt. Nur an den Schattenhängen der Hügel halten sich noch einzelne Schneeflecken. Karl sah die Einheimischen, einfache Leute, wie sie im Frühjahr hinter ihrem Priester herziehen, der das Vieh segnet, das nach der langen Gefangenschaft im dunklen Stall wieder auf die Weide darf. Er sah den Geistlichen, der die Äcker segnet, damit man mit der Aussaat beginnen kann.
Karl lächelte. Er stellte sich vor, wie man anschliessend in der kleinen Basilika für ein gutes Jahr beten wird, bevor man ums Feuer sitzt, über dem der Ochse, den Simon gespendet hat, am Spiess gedreht wird. Nach dem Essen werden die Leute tanzen. Und tatsächlich wechselte jetzt die Tonart. Karl erkannte das Motiv des dritten der fünf Kaukasischen Tänze in E-Dur, die Jakob vor einem Jahr komponiert und in Katharinenfeld aufgeführt hatte. Marie imitierte mit ihrer Violine den Klang von Dawit Achwledianis Salamuri, den ihr Mann auf dem Piano mit den rhythmischen Akkorden der Panduris von Dmitri und Giorgi untermalte und manchmal auch ein wenig parodierte.
Die Zuhörer klatschten im Takt der Musik in die Hände, hörten aber bald damit auf, denn die Melodien erzählten jetzt von den Hirten, die mit dem Vieh auf die Almen ziehen.
Anschliessend schilderten Violine und Klavier die Arbeit der Frauen in den Gemüsegärten, die Getreide- und Obsternte und wie das Vieh, auf dessen Fleisch man angewiesen ist, geschlachtet wird.
Und endlich, wie zu Beginn wieder in Moll, erzählten Geige und Klavier vom Herbst, vom Regen, von den fallenden Blättern und schliesslich vom ersten Schnee.
Die Instrumente wurden leiser, das Stück verklang. Es war, als würde es seine Zuhörer mit einem melancholischen Lächeln verlassen.
Karl verstand: Jakob hatte ein Stück komponiert, in dem er vom Leben auf Eben-Ezer erzählt, von den Leuten aus dem Dorf, von den Hirten und den Tieren, vom weiten Himmel über der Steppe, vom Gebirge am Horizont.
Folge 68
Was er nicht wusste: Jakob war die Grundmelodie schon in seiner Schulzeit in Katharinenfeld eingefallen. Nachts, wenn er im Bett lag, hatte er oft Heimweh nach Zuhause. Und Heimweh nach der Steppe nannte er damals seine Komposition. Er hatte sie im Laufe der Jahre immer wieder überarbeitet und war entschlossen, aus ihr einen Satz für seine grosse Sinfonie zu machen.
Die Bolschewiki
Man mag es Zufall nennen oder Ironie des Schicksals, dass mein Adoptivvater an jenem Tag starb, an dem in Russland die Bolschewiki die Macht übernommen haben. Der Staatsstreich vom 25. Oktober 1917 markierte das Ende jener Epoche, in der Simon Diepoldswiler, der bettelarm nach Georgien ausgewandert war, seinen Traum verwirklichen konnte. Er war Besitzer eines Gutsbetriebs geworden, grösser und ertragreicher als jeder Bauernhof in seiner Emmentaler Heimat. Er hat sich wohl nie Gedanken darüber gemacht, dass er seinen Reichtum einem zutiefst ungerechten Gesellschaftssystem verdankte. Zu seiner Zeit führte im Zarenreich eine kleine Schicht von Adeligen, Gutsbesitzern und reichen Grossbürgern auf Kosten der weitgehend rechtlosen Bauern und Arbeiter ein Leben in Saus und Braus.
Und zu schlechter Letzt trieb man die elenden Kreaturen 1914 in einen Krieg, in dem sie zu Hunderttausenden elend krepierten. Es ist unbegreiflich, dass die vom Volk gewählte Regierung unter Kerenskij nach dem Sturz von Nikolaj II. zuliess, dass die eigenen Landsleute weiterhin abgeschlachtet wurden.
Die Bolschewiki, die sich von der Regierung fernhielten, waren die Einzigen, denen die Menschen noch vertrauten. Lenin versprach, den Krieg zu beenden und ein Arbeiter- und Bauernparadies einzurichten. Als die Kommunisten am 25. Oktober zum Putsch aufriefen, folgten ihnen rund dreissigtausend Arbeiter, die sich in den Petrograder Rüstungsfabriken, in denen sie zu Hungerlöhnen malochten, bewaffnet hatten. Auch die Soldaten, die in der Peter-und-Paul-Festung stationiert waren, schlossen sich den Aufständischen an. Leo Trotzki und seine Proletentruppe überschritten die Newa-Brücken und besetzten die strategisch wichtigsten Punkte der Stadt. Kerenskijs Soldaten, ein paar wenige Offiziere und Kadetten sowie ein Frauenbataillon, hatten ihrem Furor nichts entgegenzusetzen.
Wie sich die Zeiten geändert haben. Ich erinnere mich an den Sankt Petersburger Blutsonntag von 1905. Damals drängten sich Männer, Frauen und Kinder auf dem Platz vor dem Winterpalast, um Väterchen Zar eine Bittschrift zu überreichen. Nur eine Bittschrift. Aber Nikolajs Truppen schossen in die unbewaffnete Menge. Diesmal wurde die Staatsmacht in die Flucht geschlagen: von zornigen Arbeitern und meuternden Soldaten.
Kerenskij, dieser Held, requirierte in der amerikanischen Botschaft ein Auto und floh unter dem Schutz des Sternenbanners. Seine Minister liess er zurück. Unterdessen verweigerten die Matrosen der Aurora ihren Offizieren den Gehorsam, setzten ihren Kreuzer unter Dampf und manövrierten ihn bis zur Nikolaj-Brücke. Die Besatzung der Peter-und-Paul-Festung nahm den Winterpalast unter Beschuss. Die zweihundert Soldatinnen des Frauenbataillons und die paar Einheiten von Offiziersschülern ergriffen die Flucht. Die Bolschewiki stürmten das Schloss und verhafteten die Minister, die noch dort waren.
Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte ein nahezu unblutiger Staatsstreich die Verhältnisse in Petrograd grundlegend verändert. Sechs Tage später eroberten die Bolschewiki den Kreml und machten Moskau zur Hauptstadt. In den meisten übrigen Städten des Landes verlief der Machtwechsel weitgehend friedlich. Lenin war der neue Herrscher Russlands.
Kurz nach der Revolution ist in einer Tifliser Zeitung ein halbseitiges Porträt von Lenin, dem roten Zaren, erschienen. Ich habe es lange betrachtet. Der Mann mit seinem Charakterkopf ist zweifellos ein Machtmensch. Aus Wladimir Iljitsch Uljanows Gesichtszügen sprechen gleichermassen Intelligenz, Grausamkeit und der unbedingte Wille zur Macht.
Ganz gewiss ist er charismatisch, ein Rattenfänger, einer, der mit der Leidenschaft seiner Rede die Massen bewegen kann. Wie mancher Fürst, Politiker, General, Bankier oder Fabrikherr ist Uljanow unfähig, Empathie zu empfinden. Wie jene sieht er in seinen Mitmenschen lediglich Instrumente, deren er sich bedient. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn – und wird liquidiert. Gnadenlos.
Mit ihm stirbt die Hoffnung auf eine Demokratie in Russland. In Anlehnung an Marx behauptete er, die Diktatur des Proletariats errichten zu wollen. Aber das ist Unsinn. Tatsächlich ist es die Diktatur einer kleinen Partei, genauer: die Diktatur eines einzigen Mannes und seines engsten Zirkels.
Nein, ich bedaure nicht, dass die Romanows nach vierhundertjähriger Herrschaft von der Bühne abtreten müssen. Aber ich befürchte, dass das, was auf die Monarchie folgt, nicht wesentlich besser ist.
Seit der bolschewistischen Machtübernahme ist in Katharinenfeld von nichts anderem mehr die Rede. In der Kirche beschwört Pastor Hahn den Zorn des Himmels auf das Reich des Bösen und fleht den Herrgott an, unsere (er meint: die deutschen) Waffen zu segnen, damit der Antichrist besiegt werde. Ich weiss das von Jakob, der als Organist gezwungen ist, sich seine Predigten anzuhören.
Folge 69
Im Dorf geht die Angst um. Was geschieht, wenn die Roten die Revolution nach Grusinien tragen? Ist den georgischen, armenischen und tatarischen Mitbürgern unseres Dorfes noch zu trauen? Sind sie möglicherweise versteckte Bolschewiki, die darauf spekulieren, dass ihnen alles, was vier Generationen frommer Schwaben aufgebaut haben, in den Schoss fällt?
Ich kann mich den Gerüchten, die im Umlauf sind, nicht entziehen. Meine Patienten, aber auch Rosina Dieterle und ihre Nichte, die junge Justina Mack, die seit zwei Jahren bei mir als Arztgehilfin arbeitet, versorgen mich täglich mit den neuesten Nachrichten, die sie in Kötzles Mühle, in Fiechters Apotheke, in Biedlingmeiers Weinkellerei, beim Krämer, beim Bäcker, beim Metzger und weiss Gott sonst noch wo aufschnappen.
In Russland würden mit Maschinengewehren bewaffnete Arbeitertrupps durch die Dörfer ziehen und alles beschlagnahmen, was sie für «Überschüsse» der Bauern hielten. Diese hätten keinen Anreiz mehr, ihre Äcker zu bestellen, behauptet Rosina. Die Lebensmittelversorgung breche zusammen. Überall mache sich der Hunger breit. Die Fabriken seien der Aufsicht von Arbeiterräten unterstellt worden, deren Inkompetenz die Produktion zum Erliegen bringe, hat Justina gehört. Und Mate Peradse, dem ich ein Hühnerauge entfernen musste, wusste zu berichten, dass bereits wieder das Blut von Unschuldigen fliesse. In den ersten Monaten der bolschewistischen Herrschaft seien zehntausende tatsächliche und vermeintliche Gegner des neuen Regimes, aber auch Opfer von Denunziationen, gefoltert und hingerichtet worden.
Die beiden Frauen sind entsetzt. Sie stimmen mit Pastor Hahn überein: Lenin sei der Fürst der Finsternis, das zu Fleisch gewordene Böse.
Auch Cornelius Fresendorff hält mich auf dem Laufenden. «Als Erstes haben die Bolschewiki die Zeitungen der Opposition verboten», berichtete er, «dann enteigneten sie per Dekret sämtlichen Grossgrundbesitz – entschädigungslos, versteht sich. Gleichzeitig verstaatlichten sie die Banken. Am 7. Dezember gründeten sie die Tscheka, ihre Geheimpolizei. Sie soll Russland von allem ‹Ungeziefer› säubern, das heisst, von allen Regimegegnern. Jedem, der Lenin oder der Tscheka missfällt, droht die Exekution. Und das Beste ist», fuhr er empört fort, «die ersten Beamten der Geheimpolizei wurden unter den verkommenen Subjekten der Ochrana rekrutiert. Denen ist es egal, ob sie für den Zaren oder Lenin Menschen foltern und ermorden dürfen.»
Ende März war ich in Tiflis, wo ich Besorgungen zu erledigen hatte. Ich nahm die Gelegenheit wahr, mich mit meinem alten Schulfreund, Merab Metreveli, zu treffen. Er war bis zum Putsch als georgischer Abgeordneter Mitglied der Duma gewesen.
Wie immer sassen wir im Café am Jermolow-Eriwanski-Platz. Merab schaute aus dem Fenster. «Erinnerst du dich an den Überfall auf den Geldtransport der Russen vor elf Jahren?»
Ohne meine Antwort abzuwarten, sprach er weiter: «Unser Landsmann, der ehemalige Priesterschüler und Räuberhauptmann, Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili, ist inzwischen ein hohes Tier in der neuen Regierung. Der Bandit nennt sich jetzt nicht mehr Koba, sondern Stalin.»
«Ganz Katharinenfeld spricht davon», sagte ich und erzählte ihm von den Gerüchten, die in unserem Dorf kursieren. «Stimmen sie?», wollte ich wissen.
Er lachte freudlos. «Deine Schwaben übertreiben nicht. Im Arbeiter- und Bauernparadies ist die Wirtschaft zusammengebrochen. Die Menschen verhungern. Es sind Zehntausende, und es werden täglich mehr. Kritik am Regime wird im Blut ertränkt», fuhr er fort. Er wisse das von einem Freund, der in Petrograd lebe und mit dem er korrespondiere.
Ein Versprechen immerhin hatte Lenin eingelöst: Gleich nach ihrem Staatsstreich nahmen die Bolschewiki Verhandlungen mit Deutschland auf, dessen Armeen tief in russischem Gebiet standen. Am 3. März 1918 unterschrieben sie in Brest-Litowsk ein Friedensabkommen mit dem Kaiserreich. Der Preis war hoch. Sie mussten auf Polen, die Ukraine, das Baltikum und Finnland verzichten.
«Es blieb ihnen nichts anderes übrig, sie haben ernsthafte Probleme im Innern», meinte Merab schulterzuckend, als ich ihn darauf ansprach. «Michail Alexejew, der frühere Stabschef des Zaren, baut mit Hilfe erfahrener Offiziere eine Freiwilligenarmee auf. Auch Kosakenverbände kämpfen gegen Trotzkis Rote Garden.»
Das ist die Konterrevolution, ging mir durch den Kopf. Die Führer der Weissen, wie man die Aufständischen nennt, haben unter den Romanows zur herrschenden Klasse gehört. Sie wollen die alte Ordnung wiederherstellen. Nicht mehr und nicht weniger. Zum Hunger und zur wirtschaftlichen Misere kommt nun noch der Bürgerkrieg.
«In Transkaukasien musste der Vizekönig zurücktreten», warf ich ein. Nikolaj Nikolajewitsch Romanow sass inzwischen auf seinen Gütern auf der Krim, wo er von den Roten unter Hausarrest gestellt worden war und darauf hoffen mochte, von den Weissen befreit zu werden.
Folge 70
70 «Es konnte uns nichts Besseres passieren», behauptete Merab. «Der Kaukasus wird von ein paar wenigen russischen Beamten verwaltet, die von nirgendwo Direktiven erhalten und nicht wissen, auf welche Seite sie sich schlagen sollen. In dieses Machtvakuum werden wir vorstossen. Wir planen eine Transkaukasische Föderation, eine unabhängige Republik, in der Georgier, Armenier und Tataren, Christen und Muslime in Frieden und Gerechtigkeit miteinander leben können.»
Wir! Das sind die Menschewiki, zu denen Merab gehört. Ich schaute ihn fassungslos an. Frieden und Gerechtigkeit. Weiss er denn nicht, dass die einzige Konstante in der Geschichte der Kaukasusvölker ihr gegenseitiger Hass ist, der sich immer wieder in blutigen Massakern entlädt?
Als ich nach Hause fuhr, war ich überzeugt, dass uns unruhige Zeiten bevorstehen. Aufgehetzt von ihren türkischen Vettern ziehen im Grenzgebiet zum Osmanischen Reich plündernde Tatarenbanden durchs Land. Wie schon 1905 und 1906 brennen Gutshöfe.
Ich mache mir Sorgen um meine Familie auf Eben-Ezer, um die Grafs in Karabulakhi und um Anna von Kutzschenbach, die seit der Verhaftung ihres Schwagers und ihrer Schwägerin allein auf Mamutlie lebt. Ihr Gut ist umgeben von Tatarendörfern. Werden die Behörden der Transkaukasischen Föderation, wenn sie denn zustande kommt, stark genug sein, die Siedler zu schützen?
Hannes
1
Am Vormittag des 30. Aprils 1918 stand Hannes Diepoldswiler am Fenster seines Kontors und schaute Martha nach, die den Hof überquerte. Sie trug eine Schüssel unter dem Arm und ging hinüber zum Pflanzplätz, der, abgetrennt durch eine Hecke, hinter dem kleinen Park lag. Beim Frühstück hatte sie erwähnt, sie wolle heute den ersten Blumenkohl, etwas Feldsalat und Radieschen ernten.
Als sie zurückkehrte, stellte sich Hannes hinter den Vorhang. Seine Frau brauchte nicht zu wissen, dass er sie beobachtete. Wie sein verstorbener Vater dachte er kaum über seine Gefühle nach.
Dass er nicht mehr viel für sie empfand, das allerdings wusste er. Im Laufe der Jahre war Martha immer freudloser geworden. Sie erfüllte ihre Aufgaben so, wie sie glaubte, es dem Herrgott gegenüber, den sie bei jeder Gelegenheit im Mund führte, schuldig zu sein. Aber der Vorrat an Gemeinsamkeiten zwischen seiner Frau und ihm war seit langem erschöpft. Sie schliefen nicht mehr miteinander. Nach der Geburt von Jonas hatte Martha ihrem Mann beschieden, nach sieben Kindern glaube sie, ihre eheliche Pflicht mehr als erfüllt zu haben. Die eheliche Pflicht, hatte sie Hannes erklärt, gebot ihr, Kinder zu empfangen und zu gebären. Dass dafür die Vereinigung zwischen Mann und Weib unerlässlich sei, lasse sich nicht vermeiden.
Vor dem Geschlechtsakt hatte sie jeweils das Licht gelöscht und in der Dunkelheit der Kammer das Hemd hochgezogen. Sie versteifte sich und wartete, bis Hannes seine Fleischeslust befriedigt hatte. Dann wandte sie ihm den Rücken zu und flehte halblaut den Herrgott an, ihrem Mann seine Triebhaftigkeit zu verzeihen und ihm den rechten Weg zu weisen.
Sie hatte darauf bestanden, ihre Betten auseinanderzuschieben. Seither lebten beide in ihrer eigenen Welt. Ihre Gespräche beschränkten sich auf die Dinge des Alltags.
Ohne dass sie es mitbekamen, hatte Hannes einmal gehört, wie sich seine Brüder über Martha unterhielten. Sie sei ein bigottes und wahrscheinlich frigides Frauenzimmer, hatte Karl bemerkt. Jakob hatte kurz aufgelacht.
Hannes, der die Begriffe nicht kannte, suchte nach ihrer Bedeutung im Lexikon, das Mutter von ihrem Vater geerbt hatte. Übertriebener Glaubenseifer, las er unter Bigotterie, ferner: engherzige Frömmigkeit und Scheinheiligkeit. Zu Frigidität fand er Stichworte wie: Gefühlskälte, Unfähigkeit zu körperlicher Leidenschaft, u. U. Ekel vor Körperlichkeit. Karl hatte recht. Genau so war sie.
Hannes war ein sinnlicher Mensch. Was ihm Martha verwehrte, holte er sich, wenn er in Tiflis zu tun hatte, bei jenen Frauen, deren Liebe zu kaufen war. Sein Grossvater, Vitus von Fenzlau, hatte es so gehalten, ebenso sein Vater, jedenfalls bis zu seiner Hochzeit.
Und auch Karl suchte, wenn er in der Hauptstadt war, ab und zu ein Bordell auf. Hannes wusste nichts davon. Es gehörte sich nicht, darüber zu sprechen. Aber selbst wenn er es gewusst hätte – es wäre ihm gleichgültig gewesen.
Hannes nahm, was das Leben an einfachen Freuden zu bieten hatte mit allen Sinnen in sich auf. Auch wenn er längst die Betriebsführung des Gutshofs übernommen hatte, war er im Herzen ein Bauer geblieben. Genau gleich wie sein Vater. Er mochte die Arbeit im Stall, den Geruch von warmen Tierleibern und Heu.
Manchmal erschien er am frühen Morgen auf dem Melkplatz. Es machte ihm Spass, mit den Mägden zu schäkern und gemeinsam mit ihnen den Kühen die Milch aus den prallen Eutern zu ziehen. Manchmal ging er hinüber in die Käserei, wo Giorgi und Dmitri, die beiden Söhne des alten Dawit Achwlediani, arbeiteten. Er zog die Joppe aus, krempelte die Ärmel hoch und rührte mit der Käseharfe im Kessel, bis sich die festen Teile von der Sirte trennten. Immer war er bei der Heuernte mit dabei. In der langen Reihe der Schnitter schwang er mit nacktem, schweissnassem Oberkörper die Sense.
Folge 71
Er entschied, welchen Stier man zur Kuh führte, und empfand eine tiefe Befriedigung, wenn das gewaltige Tier aufritt und mit seinem Samen neues Leben spendete. Es machte ihm nichts aus, eigenhändig ein Rind zu schlachten, und er schenkte den Dorfleuten einen fetten Ochsen, wenn sie ein Fest feierten. Dann pflegte er dabeizusitzen und zuzuschauen, wie sie zur Musik von Schnabelflöte und Tschonguri ausgelassen tanzten.
Er klatschte mit den Händen den Takt zu den wilden Liedern, und es zuckte ihn in allen Gliedern mitzutun, doch mit seinem versteiften, linken Bein, das er beim Gehen in einem Halbkreis nachziehen musste, war das nicht möglich. Das waren die Momente, in denen er Grigol Ratischwili verfluchte, der ihn schon als Kind zum Krüppel gemacht hatte.
Hannes öffnete das Fenster und setzte eine Zigarre in Brand. Aus der Schulstube, drüben im Langhaus, wo Nikolaus Kellermann seine drei Jüngsten, Sara, Magdalena und Jonas, unterrichtete, hörte er Gesang:
Ich selbsten kan und mag nicht ruhn,
Des grossen Gottes grosses thun
Erweckt mir alle Sinnen,
Ich singe mit, wenn alles singt,
Und lasse, was dem Höchsten klingt,
Aus meinem hertzen rinnen.
tönten der Tenor des Hauslehrers und die Sopranstimmen der Kinder. Geh aus, mein hertz, und suche freud war eines der Lieblingslieder von Martha. Sie kannte alle fünfzehn Strophen auswendig und hatte es früher oft mit den Kindern gesungen. Nun wurde es von Kellermann wieder aufgenommen. Vater hatte den Kerl, den er für einen argen Frömmler hielt, nicht gemocht. Und jetzt würde er als Schwiegersohn wohl bald zur Familie gehören.
Hannes bildete mit den Lippen ein O und liess Rauchringe in die laue Frühlingsluft aufsteigen. Während er ihnen nachschaute, bis sie sich auflösten, dachte er ans Osterfest, das vier Wochen zurücklag. Lotte Erchinger, Karl, Jakob und Marie waren am Karfreitag eingetroffen, um die Feiertage mit der Familie auf Eben-Ezer zu verbringen.
Am Karsamstag hatte Hannes von der Veranda aus seiner Mutter und Marie zugeschaut, die im Park zwischen den Rabatten und Blumeninseln hin und her gingen, um Tulpen, Narzissen, Krokusse und Primeln für ein Bouquet auszuwählen, mit dem sie die Hauskapelle schmücken wollten, wo am Ostersonntag Nikolaus Kellermann die Andacht leiten würde.
Sophie hatte sich bei ihrer Schwiegertochter untergehakt und unterhielt sich angeregt mit ihr. Es war offensichtlich: Sie mochte Marie mehr als Martha, der sie bis heute nicht verzieh, dass Mayranoush seinerzeit ihretwegen von Eben-Ezer fortgegangen war.
Karl hatte einmal gesagt, neben den frommen Katharinenfelderinnen, die ihn in ihren dunklen Kleidern und strengen Frisuren an triste Krähen erinnerten, komme ihm Marie vor wie ein farbenprächtiger Paradiesvogel. Hannes hatte an seine Frau denken müssen, die behauptete, ihre Schwester sei hoffärtig.
Ein Paradiesvogel. Ihm gefiel die Schwägerin. Alles an ihr gefiel ihm: ihre dunklen Locken, die sie offen trug, ihre schlanke, mädchenhafte Gestalt, ihre Fröhlichkeit und Offenheit, ihre Art, sich zu bewegen, ihr Geigenspiel.
Am Ostersonntag hatten Marie und Jakob auf Wunsch von Mutter und Tante Lotte nach dem Mittagessen ein paar Stücke vorgetragen. Während sie spielte, hatte Hannes seinen Blick nicht von ihr lösen können. Sehr zum Missfallen seiner Frau. Er ignorierte Marthas strafenden Blick. Marie trug ein dekolletiertes, blaues Kleid. Sie stand da, versunken in ihr Spiel, und schien mit geschlossenen Augen den Tönen nachzulauschen, die sie ihrem Instrument entlockte. Zum Schluss legte sie die Geige weg und flüsterte ihrem Mann etwas ins Ohr. Dann stellte sie sich neben das Klavier. Jakob schlug eine Reihe von perlenden Akkorden an, und sie begann zu singen:
Nuit d’étoiles,
Sous tes voiles,
Sous ta brise et tes parfums,
Triste lyre
Qui soupire,
Je rêve aux amours défunts,
Je rêve aux amours défunts.
Es folgten noch weitere Strophen. Hannes verstand kein Wort. Er konnte nicht Französisch. Aber die Melodie, mehr noch der ausdrucksvolle Sopran der Schwägerin, die ihren Gesang mit sparsam fliessenden Bewegungen ihrer Arme gestaltete, verzauberten ihn und lösten ein wehmütiges Gefühl in ihm aus.
Als der letzte Takt verklungen war, fragte er Marie, wie das Lied heisse.
«Nuit d’étoiles – Sternennacht», antwortete sie. Claude Debussy habe es geschrieben.
Hannes hörte den Namen zum ersten Mal. «Wie kann man nur so schöne Musik komponieren», staunte er.
«Debussy war damals achtzehn und als Liedbegleiter in der Gesangsklasse von Madame Moreau-Sainti angestellt», erklärte Jakob. «Vielleicht inspirierten ihn die hübschen Stimmen der jungen Sängerinnen zu seiner Komposition.» Augenzwinkernd fügte er hinzu: «Möglicherweise nicht allein die Stimmen.»
Hannes bat die beiden, das Lied nochmals vorzutragen. Und während er zuhörte, wurde die Wehmut, die er gespürt hatte, zu einem Bild. Er erinnerte sich, wie er, bis kurz vor dessen Tod, mit seinem Vater in die Steppe hinausgeritten war und wie sie in warmen Sommernächten unter einem unendlichen Sternenhimmel mit den Hirten am Feuer gesessen und schweigend in die Flammen gestarrt hatten. Er vermisste den Vater. Er hatte sich ihm stets näher gefühlt als der Mutter oder seinen Brüdern.
Folge 72
Noch immer stand Hannes rauchend am Fenster seines Kontors und dachte an jenen Ostersonntag. Bald nach dem kleinen Konzert hatten sich Elias, Josua und Gideon, seine drei Söhne, verabschiedet. Sie hatten noch im Stall und der Käserei zu tun. Die Frauen sassen mit Nikolaus Kellermann auf der Veranda und tranken Tee. Die Brüder waren im Salon zurückgeblieben. Drei Männer im besten Alter. Alle in ihren schwarzen Sonntagsanzügen. Sonst hatten sie kaum Gemeinsamkeiten, fand Hannes. Er selbst war untersetzt und breitschultrig, ein Bauer, stark wie ein Ochse. Seine Haut war von der Sonne gegerbt.
Er betrachtete seine Brüder: den rothaarigen Jakob und den dunklen Karl. Die beiden wären wohl nicht wie er und seine Söhne imstande, bei jedem Wetter vom Sonnenaufgang bis in die Dämmerung körperlich hart zu arbeiten. Der Vater hatte stets behauptet, der Jüngste gleiche seinem Onkel, dem Maler. Er habe dasselbe weiche, rote Haar, dieselbe schlanke Gestalt, dieselben Künstlerhände. Vom grossgewachsenen Karl mit seinen scharf geschnittenen Gesichtszügen sagte die Mutter, er sei das Abbild ihres verstorbenen Vaters, Vitus von Fenzlau. Wenn Hannes ihn mit der Fotografie des Alten verglich, erkannte er gewisse Ähnlichkeiten, aber da war noch etwas, das er nicht einzuordnen wusste. Heimlich fand er, Karl, der ihm immer etwas fremd geblieben war, sei kein echter Diepoldswiler. Wie immer, wenn Hannes allein mit seinen Brüdern war, fühlte er sich befangen. Um sein Unbehagen zu verbergen, bat er Jakob, der noch immer auf dem Klavierstuhl sass, etwas von Chopin zu spielen.
«Weshalb Chopin?», fragte der Jüngere überrascht. Es war bereits der zweite Musikwunsch, den Hannes heute äusserte, ausgerechnet er, der kaum etwas von Musik verstand und nur sagen konnte, ob ihm ein Stück gefiel oder nicht. Auch Karl, der rauchend in einem bequemen Fauteuil sass, hob erstaunt die Brauen.
«Mutter sagte kürzlich, sie kenne niemanden, der so gut Chopin spiele wie du.» Der Satz war ihm im Gedächtnis geblieben, obwohl er kein Stück dieses Komponisten mit Namen kannte.
«Dann zu Ehren von Mutter Chopin», sagte Jakob. Er drehte sich zum Instrument, verschränkte die Finger ineinander, knetete sie kurz und begann zu spielen. Hannes, der schräg hinter ihm stand, schaute gebannt zu, wie der Bruder mit der linken Hand tiefe, dunkle Oktaven anschlug, während die Finger der rechten mit unbegreiflicher Leichtigkeit die Tasten hinauf und hinunter flogen und ein farbig-funkelndes Feuerwerk an Tönen entfachten. Jakob schien mit seinem ganzen Körper zu spielen. Während seine Augen auf die Tastatur gerichtet waren, folgte sein Oberkörper der rechten Hand, sein Kopf unterstrich mit ruckartigen Bewegungen die hämmernden, tiefen Töne.
Es war nur ein kurzes Stück, das bereits nach etwa zwei Minuten zu Ende war. Hannes atmete tief durch. «Das war schön», sagte er ungeschickt und legte dem jüngeren Bruder die Hand auf die Schulter.
«Es war die Etüde in C-Dur, Opus 10, Nummer 1.» Jakob lächelte. «Chopin hat sie als Technikübung geschrieben. Ich musste sie an der Abschlussprüfung am Konservatorium in Sankt Petersburg vortragen.»
Darauf wusste Hannes nichts zu antworten.
«Als ich sie das erste Mal von dir hörte», liess sich an seiner Stelle Karl vernehmen, «erinnerte sie mich an Bach.»
«Das ist nicht erstaunlich», meinte Jakob, «Chopin verehrte Bach.»
Hannes stand stumm daneben. Da war es wieder, dieses Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Seine Brüder lebten in einer Welt, zu der er keinen Zugang hatte. Vor Jahren hatte er sich darüber mit dem Vater unterhalten. «Von den drei Söhnen eurer Mutter», sagte Simon, «ist Jakob der Begabteste, Karl der Klügste, aber du bist von meinem Fleisch. Hinter uns steht eine lange Reihe von selbstbewussten, freien Bauern, die in uns weiterleben. Einer unserer Vorfahren, er hiess Gottlieb Diepoldswiler, hat im Bauernkrieg von 1653 gegen die Gnädigen Herren von Bern gekämpft. Wir sind wie er, und auch wir werden kämpfen, wenn uns jemand beherrschen oder unseren Besitz streitig machen will.» Er stelle sich vor, fuhr Simon fort, dass in jeder neuen Generation einer der Diepoldswilers bestimmt sei, Vieh zu züchten und das Feld zu bebauen. «Solange es Bauern wie uns gibt, braucht niemand zu hungern. Dank uns können Künstler wie Jakob und kluge Köpfe wie Karl ihren Geschäften nachgehen, ohne sich Sorgen ums tägliche Brot machen zu müssen.»
An dieses Gespräch musste Hannes denken. Die Söhne eurer Mutter hatte Vater damals gesagt. Weshalb nicht unsere Söhne? Er selbst war ein Diepoldswiler, daran bestand kein Zweifel. Das galt auch für Jakob, von dem Vater behauptete, er sei seinem verstorbenen Bruder wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber Karl? Natürlich wusste Hannes, dass sein älterer Bruder bereits fünf Monate nach der Hochzeit der Eltern zur Welt gekommen war. Er war noch ein junger Bursche gewesen, als er es entdeckte. Damals nahm er an, Vater und Mutter hätten sich bereits vor der Hochzeit miteinander verlustiert. Er hatte lachen müssen, als er sich vorstellte, dass Vater in jungen Jahren, stössig wie ein Stier, nicht hatte warten können. Aber vielleicht war alles ganz anders gewesen. Vielleicht war Karl nicht von Simon Diepoldswiler, sondern von einem anderen gezeugt worden. Möglicherweise von einem Einheimischen. Das würde den dunklen Teint und die fast schwarzen Haare des Bruders erklären. Die Einzigen, die ihm darüber hätten Auskunft geben können, waren Mutter und Karl. Aber die würden gewiss schweigen. Genau gleich wie der Vater geschwiegen hatte. War es überhaupt wichtig, das alles zu wissen?
Folge 73
Hannes hatte seine Zigarre fertig geraucht und setzte sich endlich an den Schreibtisch, um zu tun, was an diesem 30. April getan werden musste. Vor ihm lag ein Stapel Belege, die über die Tätigkeiten des vergangenen Monats auf dem Gutshof Auskunft gaben. Er nahm einen nach dem andern in die Hand, studierte ihn, tunkte den Federhalter ins Tintenfass und hielt die Einnahmen und Ausgaben auf den entsprechenden Kontoblättern fest, bevor er sie ins Hauptbuch übertrug. Unter die beiden Zahlenreihen zog er mit dem Lineal sorgfältig einen Strich, addierte sie, unterstrich die Summen doppelt und verglich sie mit jenen des Vormonats und Vorjahres. So hatte er es von seinem Vater gelernt, und so würde er es, wenn es an der Zeit war, Elias beibringen, der seit bald drei Jahren auf dem Hof die Aufgaben des Obersenns ausübte.
Hannes war zufrieden. Der Verlust, den er im Januar hatte verbuchen müssen, war endlich ausgeglichen. Damals waren Dmitri Achwlediani und Josua, sein Zweitältester, auf der Rückkehr vom Käsehändler in Tiflis hinter Kamarlo in einen Hinterhalt geraten und von tatarischen Räubern ausgeplündert worden. Sie hatten ihnen nicht nur das Geld, den Erlös einer ganzen Monatsproduktion, sondern auch den Schlitten und die vier Pferde weggenommen.
Die beiden mussten zu Fuss und mit leeren Händen nach Eben-Ezer zurückkehren. Seither liess Hannes den Käse nur noch mit einer Begleiteskorte von sechs bewaffneten Hirten nach Tiflis bringen. Er war zornig gewesen. Er war es immer noch. Seit in Russland die Roten an der Macht waren, sorgten die Behörden in Grusinien kaum mehr für Ordnung.
Der Überfall auf Josua und Dmitri war nur einer von vielen. Für die Gutsbesitzer draussen in der Steppe war das Leben unsicher geworden.
Die Nachricht, dass der Sejm, das regionale Parlament, vor ein paar Tagen, am 22. April, eine Transkaukasische Demokratisch-Föderative Republik ausgerufen hatte, kam Hannes abstrus vor. Als ihm Karl an Ostern von den entsprechenden Plänen der Politiker in Tiflis erzählte, wollte er seinen Ohren nicht trauen. Er hatte nur den Kopf geschüttelt. «Tataren in der Regierung – das heisst, den Bock zum Gärtner zu machen», meinte er.
Tatsächlich drohte nach dem bolschewistischen Putsch auch in Grusinien die Anarchie auszubrechen. Der Hass zwischen Muslimen und Armeniern, geschürt von den Türken jenseits der Grenzen, entlud sich in furchtbaren Massakern, die auf beiden Seiten Hunderte von Toten forderten und Tausende zur Flucht aus ihrer angestammten Heimat zwangen.
«Die Tataren sind doch halbe Türken», fuhr er fort. «Die haben nur darauf gewartet, dass ihre Brüder endlich einmarschieren und sie nach Herzenslust brandschatzen und plündern können. Du weisst selbst, wie es den Kutzschenbachs auf Mamutlie ergangen ist.»
Osmanische Einheiten hatten unmittelbar nach dem Rückzug der Russen aus dem Kaukasus die Westgrenze Georgiens überschritten und die Provinz Adscharien samt der Hauptstadt Batumi besetzt. In der Folge machten marodierende Tataren die westlichen Provinzen unsicher. Anna von Kutzschenbach, die Mamutlie allein bewirtschaftete, hatte sich und ihre Söhne vor den muslimischen Bewohnern des benachbarten Dorfes Orosman in Sicherheit bringen müssen.
Kurz darauf war der Besitz der Kutzschenbachs von Tataren, mit denen man während Jahrzehnten in gutem Einvernehmen gelebt habe, geplündert worden. Die Türen zu den Speichern seien aufgebrochen, der Weizen mitgenommen und das Vieh in den Ställen weggetrieben worden. Annas Nachbar, Gottlieb Graf, der in Karabulakhi lebte, hatte Hannes von den Plünderungen erzählt. «Die Frauen aus Orosman haben in den Wohnhäusern alles zusammengerafft, was nicht niet- und nagelfest war. Wenigstens haben sie die Häuser nicht angezündet», meinte er am Ende trocken.
Inzwischen war es elf Uhr geworden. Erekle Tumanischwili, der auf dem Gutshof den Dienst des Karrers versah, klopfte ans Fenster. Er stand mit Heimdall, dem schwarzem Kabardinerhengst, draussen auf dem Hof. Hannes pflegte jeden Tag vor dem Mittagessen noch eine Stunde auszureiten. Wenn er im Sattel sass, konnte er seine Behinderung vergessen. Er legte seine Unterlagen und Kontoblätter in einem Ordner ab und schloss das Hauptbuch. Dann ging er hinaus und stieg aufs Pferd.
Hannes ritt zum Weiher am Fuss der Krete, auf der sich das Grab seines Vaters befand. Im dunklen Wasser spiegelten sich die Wolken. Sie zogen weiter über die Steppe und das Gebirge und warfen grosse Schatten auf die noch schneebedeckten Hänge. Er nahm den Hut ab und liess sich vom warmen Frühlingswind das Haar zerzausen.
Hier, an diesem mit Schilf bestandenen Ufer des Gewässers, waren lange vor seiner Geburt vier Dutzend Tataren in die Hölle geschickt worden. Sie hatten Eben-Ezer überfallen und den Sohn des damaligen Besitzers samt dessen Familie erschlagen. Sie hatten das Gut geplündert und waren dabei, die gefangenen Dorfleute wegzuführen, um sie auf türkischen Sklavenmärkten zu verkaufen, als Vitus von Fenzlau über sie herfiel. Er diente damals in der Armee und hatte sich zufällig mit einer Kosakeneskadron in der Nähe aufgehalten. Ein Hirte, dem es gelungen war zu fliehen, hatte ihn um Hilfe gebeten. Auf seinen Befehl machten die Soldaten die Räuber bis auf den letzten Mann nieder. Ihre Leichen waren am Ufer des Weihers verbrannt worden.
Folge 74
Als ihm die Mutter diese Geschichte erzählte, hatte Hannes eine tiefe Befriedigung empfunden. Wie alle Viehzüchter und Käser aus der Gegend traute auch er den Tataren nicht. Für ihn waren sie Diebe und Brandstifter, Plünderer und schlimmstenfalls Mordbuben, die man sich am besten vom Leib hielt. Das Schicksal Mamutlies stand ihm warnend vor Augen.
Er lenkte sein Pferd hinauf auf die Krete. Beim Grab seines Vaters sass er ab. Er kam oft hierher. Von hier aus hatte man einen weiten Blick auf Eben-Ezer. Die Krone der Blutbuche, die zu Gottlob Breunigs Zeiten gepflanzt worden war, überragte längst den Giebel des Herrenhauses. Der Hof, das Dorf, die Käserei, die Ställe und das ganze Weideland waren sein Erbe. «Es ist dir anvertraut», hatte ihm der Vater kurz vor seinem Tod gesagt. «Du musst es für deinen Ältesten und jene, die auf ihn folgen werden, bewahren und mehren.» Hannes hatte es ihm in die Hand versprechen müssen.
«Und wenn die Tataren kommen, werde ich nicht fliehen, sondern das, was wir erarbeitet haben, verteidigen», hatte er seinem Vater versichert.
2
Auf Eben-Ezer, wo man die Geschehnisse im Land mit Sorge verfolgte, war man bisher vom Schlimmsten verschont geblieben. Sophie schien es manchmal, als halte der Herrgott seine Hand schützend über sie, bis Mitte Mai 1918 zum ersten Mal auch in ihrer Nachbarschaft ein Gutshof brannte. Es war jener von Knjaz Grigol Ratischwili, dem fürstlichen Schurken, der vor vier Jahrzehnten Simon, Wassilij und Lewan Gabaschwili überfallen und dabei den siebenjährigen Hannes schwer verwundet hatte. Er lebte auf dem Hof seines verstorbenen Vaters, dessen Adelstitel er jetzt trug.
Wie immer war Sophie an jenem Abend gegen neun Uhr ans Fenster ihres Schlafzimmers getreten, um die schweren Vorhänge zu ziehen, als sie am Horizont einen rötlichen Schein wahrnahm, der den nächtlichen Himmel erhellte. Sie lief die Treppe hinunter ins Kontor, wo Hannes noch arbeitete. «Ich glaube, bei Kariani brennt es», sagte sie.
Er begleitete die Mutter ins erste Stockwerk, starrte Richtung Süden, schnupperte und bestätigte: «Du hast recht, es brennt. Ob sie dem Dreckskerl endlich den Hof angezündet haben?» Hannes hatte sich schon lange gewundert, weshalb die Pächter Grigols den chaotischen Zustand, in dem sich das Land befand, nicht nutzten, um sich an ihrem Gutsherrn zu rächen.
Ratischwili war inzwischen weit über fünfzig und, seit Vater sein Knie zertrümmert hatte, ein verbitterter Krüppel. Er war unfähig, sich auf einem Pferd zu halten, und konnte sich nur mit Hilfe von zwei Krücken bewegen. Dennoch verhielt er sich wie ein Gutsbesitzer in den Zeiten der Leibeigenschaft und verbreitete Angst und Schrecken.
Knjaz Grigol war ein Tyrann, der seine Pächter weit über Gebühr mit Frondienst und hohen Abgaben quälte. Wer mit seinen Zahlungen im Verzug war, wurde gnadenlos davongejagt und seinem Schicksal überlassen.
«Sollten wir nicht Leute schicken, um zu helfen?», fragte Sophie.
«Diesem Lumpenhund, dem ich zu danken habe, dass ich ein Leben lang hinken muss?» Hannes schaute seine Mutter an, als sei sie nicht bei Trost. «Er soll selbst sehen, wie er zurechtkommt!» Sein Gesicht nahm jenen Ausdruck an, mit dem er sich jede weitere Diskussion verbat.
Anderntags ritten Hannes und Elias nach Kariani. Sie sassen schweigend auf ihren Pferden und schauten auf die rauchenden Trümmer von Ratischwilis Haus. Ein ansässiger Kleinbauer, der sich zu ihnen gesellte, wusste zu berichten, eine Tatarenbande habe den Gutshof bis auf die Grundmauern abbrennen lassen. Zuvor hätten sie geplündert, was zu plündern war.
«Und Ratischwili?», wollte Hannes wissen.
Der sei tot. Der Georgier fuhr sich grinsend mit der Handkante über die Kehle. In Kariani habe sich keine Hand gerührt, um dem Knjaz zu helfen, als ihn die Ungläubigen abschlachteten. Man sei froh, dass der Leuteschinder nicht mehr da sei. «Wir werden sein Land und das Vieh, das die Räuber nicht weggetrieben haben, unter uns aufteilen.»
«Dürft ihr das?», wunderte sich Hannes.
«Wer will uns daran hindern?» Der Bauer lachte. «Die Roten in Moskau? Die Regierung in Tiflis? Die wollen ja selbst eine Bodenreform!»
«Weisst du mehr über die Tataren? Wie viele waren es? Woher kamen sie?», wechselte Elias das Thema.
Es handle sich um sieben Brüder, Ungläubige, die irgendwo im Dschawachetischen Gebirge hausten, wo ihr Vater eine grosse Schafherde besitze. Sie bestehe wohl zum grössten Teil aus gestohlenen Tieren. Der Älteste seiner Söhne, Orkhan, sei ein gefürchteter Räuber. «Wir werden wohl früher oder später auch mit ihrem Besuch rechnen müssen», sagte Hannes zu seinem Sohn.
«Sollen wir Wachen aufstellen?»
«Nein, wir haben ja unsere Hunde.»
Die Hunde: Ulmer Doggen, ein Rüde und sechs Weibchen, deren gemeinsamer Vorfahre Attila war, der Lieblingshund des Barons. Nach Wassilijs Tod hatte sich Simon und später Hannes um die Tiere gekümmert. Er liebte, fütterte und striegelte sie, nahm sie mit, wenn sich draussen in der Steppe Viehdiebe herumtrieben, und ging mit ihnen auf Sauhatz.
Die Doggen, schwarz und weiss gefleckte Bestien mit einer Risthöhe von mehr als siebzig Zentimetern, waren tagsüber in einem Zwinger untergebracht. Nachts liess er sie frei im Park des Herrenhauses herumstreifen. Sie würden jeden Eindringling zerfleischen.
Folge 75
Als Hannes am frühen Morgen des 17. Mai aus dem Haus trat, lagen die Tiere verendend auf dem Platz vor der Veranda. Sie zitterten, würgten und erbrachen Blut. Blutig war auch ihr Kot. Ihm schien, die Hunde schauten ihn aus grossen Augen hilfeheischend an. Er wendete sich abrupt um und ging ins Haus. Kurz darauf kam er mit seinem Revolver zurück. Eine nach der anderen erschoss er die Doggen.
Als Sophie, Martha, die Kinder und Niklaus Kellermann, aufgeschreckt durch die Schüsse, ins Freie traten, stand Hannes zwischen den sieben Kadavern. Er liess die Schultern hängen, bewegte sich nicht, starrte ins Leere. In der Rechten hielt er die Waffe. «Sie sind vergiftet worden», sagte er tonlos. Dann verengten sich seine Augen zu zwei schmalen Schlitzen. «Orkhan und seine sechs Brüder werden uns heute Nacht überfallen. Du», wandte er sich an Elias, «sorgst dafür, dass Giorgi und Dmitri hierherkommen, sobald sie ihre Arbeit in der Käserei beendet haben. Auch Erekle will ich dabeihaben und vor allem Samvel Gevorgian. Er hat mit den Muslimen noch eine Rechnung offen.» Hannes lächelte böse. «Richte ihm aus, dass er Gelegenheit haben wird, uns zu helfen, ein paar von ihnen in die Hölle zu schicken. Josua», fuhr er fort und schaute seinen Zweitältesten an, «du reitest zur Hütte am Pinesauri und bringst Lewan Gabaschwili mit. Der Wildhüter ist ein hervorragender Schütze. Beeil dich! Und du», er legte dem sechzehnjährigen Gideon die Hand auf die Schultern, «hilfst mir, die Waffen vorzubereiten.»
«Und was soll ich tun?», erkundigte sich Kellermann.
Hannes musterte den künftigen Schwiegersohn. «Selig sind die Sanftmütigen.» Der Spott in seiner Stimme war unüberhörbar. «Du wolltest nie den Umgang mit Waffen erlernen und bist uns keine Hilfe, wenn wir unseren Hof verteidigen. Du wirst mit den Frauen, den Mädchen und dem kleinen Jonas nach Karabulakhi fahren und die Nacht bei Gottlieb und Käthi Graf verbringen. Dort seid ihr in Sicherheit.»
«Ich bleibe hier», sagte Sophie.
«Ich auch.» Das war Martha.
Hannes sah seine Frau und seine Mutter an. Er wusste, dass sie ihren Willen durchsetzen würden. Er hob die Schultern. Gottergeben. «Aber du wirst gehorchen», fuhr er Ruth an, die den Mund öffnete, um sich ebenfalls seiner Anweisung zu widersetzen. «Du wirst deinen Zukünftigen begleiten und dich um deine kleinen Geschwister kümmern.»
Jener 17. Mai war der längste Tag in Sophies Leben. Die Zeit schien stillzustehen. Ihr war, als presse ihr eine riesige Faust das Herz zusammen, als Gideon, der für sie noch ein halbes Kind war, seinem Vater half, acht Repetiergewehre aus der Waffenkammer ins Esszimmer zu tragen. Hannes hatte sie in Tiflis gekauft, als die Unruhen im Land ausgebrochen waren.
Sie schaute zu, wie die beiden den Lauf jeder Büchse gründlich entfetteten, den Druckpunkt am Abzug kontrollierten, das Magazin mit fünfzehn Patronen luden und für jeden der Männer einen Patronengurt mit zusätzlicher Munition füllten. Sophie konnte sich nicht länger zurückhalten. «Ich lasse nicht zu, dass Gideon kämpft. Er ist noch zu jung, um zu töten.»
Hannes hob die Brauen. «Aber er ist alt genug, getötet zu werden.»
Sophie verliess schweigend den Raum. Sie ging hinüber in die Hauskapelle. Vor dem Bild des Gekreuzigten fiel sie auf die Knie. Sie betete das Vaterunser. Bei den Worten Dein Wille geschehe blieb sie hängen. Sie wiederholte sie, zweimal, dreimal, dann immer wieder, gebetsmühlenartig, in nicht enden wollender Monotonie. Ihre Augen waren fest geschlossen, die gefalteten Hände verkrampft.
Mitten im Gebet tauchten vor ihr Bilder von jenem Tatarenüberfall vor einundvierzig Jahren auf, bei dem ihr Vater sein Leben verloren hatte. Simon hatte damals zwei oder drei der Mörder erschossen.
Sie erinnerte sich an das Gesicht ihres Mannes: Entschlossen war es gewesen, und ja, sie hatte in ihm eine wilde, böse Freude entdeckt. Die Freude zu töten? Und heute sollte Hannes töten und ihre Enkel, Elias, Jonas und Gideon ebenfalls.
«Was ist mit dir, Mutter?»
Ohne dass Sophie sie bemerkt hatte, stand Martha unter der Tür der Kapelle.
Sophie stand auf. «Ich bin verzagt», sagte sie. «Nimmt denn das Töten in diesem Land kein Ende?»
Martha kam näher. Sie schaute ihre Schwiegermutter streng an. «Der Herr hat unsere Vorfahren hierhergeführt und ihnen dieses Land gegeben», sagte sie hart. «Wir haben es urbar gemacht und bebaut. Und jetzt kommen die Ungläubigen und wollen es uns nehmen.» Ihre Stimme wurde schrill: «Aber wir werden uns zu wehren wissen. Der Herr ist mit uns.»
Der Herr ist mit uns! Hatte Gott den Siedlern aus der Schweiz und Württemberg dieses Land tatsächlich geschenkt? Gehörte es nicht den andern, den Georgiern, Armeniern – und auch den Tataren? Sophie fragte sich das nicht zum ersten Mal.
«Komm jetzt», sagte Martha. «Das Mittagessen ist bereit, und Hannes hat die beiden Achwledianis, Erekle und Samvel Gevorgian eingeladen.»
Am späten Nachmittag trafen Josua und Lewan Gabaschwili auf Eben-Ezer ein. Martha tischte den beiden einen Imbiss auf. «Wir haben Orkhan und seine sechs Brüder gesehen», berichtete Josua. «Sie rasteten ungefähr anderthalb Werst westlich von uns. In einer, spätestens zwei Stunden dürften sie da sein.»
Lewan, der in den langen Jahren, die er im Wald verbracht hatte, schweigsam geworden war, nickte.
Folge 76
Sophie war zum Weinen zumute, als sie zuhörte, wie Hannes seinen Schlachtplan entwarf. Er ging davon aus, dass die Tataren alte russische Armeegewehre besassen, die nach jedem Schuss nachgeladen werden mussten. «Wir sind den Kanaillen an Feuerkraft überlegen», sagte er, «und ich will, dass keiner von uns zu Schaden kommt. Wir stellen uns hinter der Mauer auf Kisten. So haben wir eine Brustwehr. Wenn die Banditen sich unserem Anwesen nähern, müssen wir sie überraschen und schnell erledigen. Zielt auf den Körper, der ist weniger zu verfehlen als der Kopf. Notfalls nehmt ihr die Pferde aufs Korn und gebt dem Reiter den Rest, wenn er auf dem Boden liegt. Und schiesst, bis eure Magazine leer sind. Ihr dürft sie nicht zu nahe an euch heranlassen. Jeder der Schweinekerle ist mit einem Kindschal ausgerüstet – und ihr könnt mir glauben, sie beherrschen den Messerkampf besser als wir.»
«Es ist an der Zeit, dass wir unsere Posten beziehen», sagte Hannes eine halbe Stunde später. Er rechne damit, fuhr er fort, dass die Bande das Haus von Süden her angreifen werde. «Diesen Teil der Mauer werde ich mit Giorgi und Dmitri verteidigen. Erekle und Josua werden an der Westseite stehen, Lewan sichert die Mauer Richtung Norden, und Elias und Samvel halten beim Tor Wache. Gideon bleibt bei mir. Seine Aufgabe ist es, zwischen den Mauerabschnitten die Verbindung aufrechtzuhalten.»
Hannes, stellte Sophie überrascht fest, schien sichtlich aufzuleben. Freute er sich auf den bevorstehenden Kampf? Die Männer und seine Söhne akzeptierten ohne Widerrede seinen Anspruch, die Verteidigung des Hauses zu leiten. Er gab jedem von ihnen ein Gewehr. Einen Moment zögerte er. Dann wandte er sich an Sophie: «Du und Martha, ihr bleibt am besten hier im Esszimmer. Aber zieht die Vorhänge, und haltet euch von den Fenstern fern.»
Während er an der Südseite der Umfassungsmauer auf seiner Kiste stand, zu beiden Seiten flankiert von Giorgi und Dmitri, beobachtete Hannes den Lauf der Sonne, die sich den Gipfeln und Kämmen des Gebirges näherte. Wie jeden Abend flogen Scharen von Krähen über den Gutshof zu ihren Nestern bei den Pappeln am Weiher. Die Männer hatten ihre Gewehre auf die Mauer gelegt. Ihre Hände steckten in den Jackentaschen. Für einen Maiabend war es aussergewöhnlich kühl.
Inzwischen war die Dämmerung angebrochen. Am westlichen Horizont verfärbte sich der Himmel purpurrot. Aus den Bächen, die durch die Steppe dem Pinesauri zustrebten, stiegen Nebelschleier und krochen über das Grasland. Hannes hoffte, dass sie sich nicht so verdichten würden, dass die Angreifer in ihrem Schutz bis zur Mauer vordringen konnten. Seine Sorge war unnötig. In der Ferne entdeckte er die sieben Brüder. Sie ritten in einer weit auseinandergezogenen Linie auf Eben-Ezer zu. Es war, als schwämmen sie auf ihren Pferden durch die Bodennebel.
Die Achwledianis und Hannes entsicherten ihre Gewehre. «Lauf zu den andern», befahl er Gideon, der hinter ihm stand, «und sag ihnen, dass sie da sind!»
Während sich der Junge davonmachte, beobachtete Hannes, wie die Tataren rund dreihundert Meter vor der Mauer ihre Pferde zügelten und Fackeln anzündeten, die sie wohl über die Mauer aufs Haus werfen wollten. War ihnen nicht bewusst, dass die Leute von Eben-Ezer nach der Vergiftung der Hunde mit einem Angriff rechneten und sie erwarteten? Die hellen Flammen würden ihre Sicht behindern und gleichzeitig den Verteidigern das Zielen erleichtern.
Die Mordgesellen teilten sich auf. Zwei ritten langsam nach links, Richtung Eingangstor, zwei zur Westmauer, wo Erekle und Josua standen. «Ich nehme den in der Mitte, ihr feuert auf die beiden Schurken links und rechts von ihm», zischte Hannes. «Aber schiesst erst, wenn ich es tue!» Giorgi und Dmitri nickten.
Die Angreifer hatten sich bis auf hundertfünfzig Meter genähert. Der Mann in der Mitte, offenbar Orkhan, ihr Anführer, schrie ein Kommando, worauf die Tataren ihre Pferde zum Galopp antrieben und von drei Seiten auf die Mauer zustürmten. Hannes wartete noch ein paar Sekunden, dann riss er das Gewehr hoch und schoss. Fast gleichzeitig feuerten Giorgi und Dmitri.
Orkhan und der Reiter, den Giorgi aufs Korn genommen hatte, fielen von ihren Pferden. Der dritte riss sein Tier herum und versuchte zu fliehen. Hannes, der mit einer raschen Bewegung des Verschlusses nachgeladen hatte, schoss ihm in den Rücken. Fast gleichzeitig wurde auch bei der Ost- und Westmauer gefeuert. Jemand schrie laut auf.
Nach einer Weile kehrte Gideon zurück. «Josua ist verwundet», berichtete er. «Er sei in die Schulter getroffen, sagt Erekle. Er selbst hat nur einen Tataren getötet, dem zweiten hat er das Pferd unter dem Hintern weggeschossen. Weil er sich um Josua kümmerte, ist es dem Räuber gelungen, zu Fuss nach Norden zu fliehen.»
«Und was ist beim Tor los?», wollte sein Vater wissen.
«Dort liegen zwei Tataren.»
«Hol deine Mutter, sie soll sich um Josua kümmern.» Hannes stieg von seiner Kiste und ging zum Tor, das inzwischen geöffnet war.
Sein Ältester stand vor den blutverschmierten Leichen der beiden Muselmanen. «Wir haben sie lediglich verwundet. Als sie am Boden lagen, ist er», Elias wies mit dem Kopf auf Samvel, der sich mit verschlossenem Gesicht etwas abseits hielt, «von der Mauer gesprungen und hat den beiden die Kehle aufgeschlitzt – mit ihren eigenen Kindschals.» Auf Elias’ Gesicht mischten sich gleichermassen Faszination und Entsetzen.
Folge 77
Hannes schwieg. Was sollte er sagen? Er kannte die Geschichte des Armeniers und verstand seinen Hass auf die Türken und die Tataren. Er ging weiter. Zwei von jenen, die ihn und die Achwlediani-Brüder angegriffen hatten, lagen tot im Gras. Der dritte, Orkhan, lebte noch. Er presste stöhnend die Hände gegen den Bauch. Blut quoll zwischen den Fingern hervor. Er krümmte sich vor Schmerzen. Manchmal bewegte er den Kopf. Aus schwarzen Augen starrte er Hannes an. Hasserfüllt? Verzweifelt? «Durst», lallte er auf Russisch und: «Wasser.»
«Du hättest uns alle getötet», fuhr ihn Hannes an, «auch die Frauen und die Kinder.» Ein kalter Zorn erfüllte ihn. «Deine Brüder sind schon in der Hölle. Und dorthin schicken wir dich auch.»
Einen Moment lang überlegte er, ob er Samvel rufen sollte. Dann besann er sich anders. Er hob sein Gewehr und schoss dem Raubmörder zwischen die Augen. Nachdem er sich versichert hatte, dass auch an der Westmauer ein Toter lag, ging er ins Haus.
Josua lag im selben Bett, in dem Hannes gelegen hatte, als er von Grigol Ratischwili angeschossen worden war. Er strich seinem Sohn über den Kopf. Sophie hatte die Wunde ausgewaschen, und Martha war ins Dorf gelaufen zu Rozanna, die auf Eben-Ezer gerufen wurde, wenn jemand krank oder verletzt war. Wenn nötig, würde morgen früh Elias nach Katharinenfeld reiten und Karl holen. Der wusste am besten, was zu tun war.
Hannes trat ans Fenster und öffnete es. Draussen schleppten Lewan und Samvel einen Gefangenen, dem die Arme auf dem Rücken verschnürt waren, wie einen Sack hinter sich her. Es war jener Tatar, der an der Westmauer geflohen war. Der Wildhüter hatte ihm ins Bein geschossen. «Was soll mit ihm geschehen, Patron?», fragte der Georgier.
«Ich komme zu euch.» Hannes verliess die Krankenstube und trat ins Freie.
Der Gefangene war jung, kaum älter als Gideon. Er war noch bartlos, lediglich über der Oberlippe spross dünner Flaum. Die Papacha aus braunem Lammfell sass schief auf seinem Kopf. Seine Pluderhosen waren auf der Höhe des linken Oberschenkels, wo ihn Lewans Kugel getroffen hatte, voller Blut.
Sein Blick wanderte zwischen den drei Männern hin und her und blieb schliesslich auf Samvel haften, der ihn finster anstarrte. Erkannte er in ihm den Armenier, einen Todfeind?
«Was sollen wir mit ihm tun?», fragte Hannes.
Lewan hob die Schultern. «Er ist besiegt», meinte er dann.
«Ein Tatar ist erst besiegt, wenn er tot ist», widersprach Samvel.
«Sie hätten niemanden von uns verschont.» Hannes zögerte. «Er gehört dir», meinte er dann.
Samvel löste den Kindschal aus dem Gürtel des Jungen. Er schlug ihm die Lammfellmütze vom Kopf und riss ihn an den Haaren, so dass er ihm, wie ein Schaf, das geschlachtet wird, die Kehle darbot.
«Voch!» – Nein, schrie Sophie. Sie war auf die Treppe der Veranda getreten und hatte die Szene beobachtet. «Lass ihn leben!» Sie sprach armenisch – ihre heimliche Muttersprache, die Sprache Mayranoushs.
«Weshalb?» Samvel liess sein Opfer nicht los. «Er ist ein Türke.»
«Er ist ein Tatar, ein Aseri», widersprach Sophie.
«Das kommt auf dasselbe heraus. Er spricht Türkisch, er fühlt türkisch, er ist ein Räuber, er ist ein Mörder. Ich töte ihn für meinen Vater, für meine Mutter, für meine Schwestern. Er und seinesgleichen haben weit über eine Million Armenier umgebracht.»
«Es macht sie nicht wieder lebendig, wenn du einen wehrlosen Gefangenen abschlachtest wie ein Stück Vieh. Wie soll dieses Land je zum Frieden finden, wenn das Töten kein Ende nimmt? Ich bitte dich um sein Leben – um deinetwillen, um deiner Seele willen!»
Der Armenier schaute Hannes an. «Weshalb willst du, dass man ihn verschont, Mutter?», fragte er. «Stell dir vor, es wäre Gideon.»
Hannes zögerte. «Tu ihr den Gefallen!», sagte er endlich zu Samvel. Dann wandte er sich zu seiner Mutter: «Wenn wir das später nur nicht bereuen müssen!»
Der Armenier liess den Kopf des Tataren los und warf den Kindschal auf den Boden. Er drehte sich um und ging davon.
«Samvel!», rief Sophie. Aber er schaute nicht mehr zurück.
«Wie heisst du?», herrschte Hannes den Burschen an. «Elkhan», stammelte der Junge.
«Du kannst ihr für dein Leben danken, Elkhan.» Hannes zeigte auf Sophie. «Lewan bringt dir dein Pferd. Du Hundsfott wirst jetzt zurück in dein Dorf reiten. Und wag es nie mehr, hörst du, nie mehr, jemanden zu überfallen!» Seine Stimme bebte vor verhaltenem Zorn. «Ich werde sonst mit meinen Leuten ins Gebirge in dein Drecknest kommen und es zerstören, so dass später niemand mehr weiss, dass dort einmal Menschen gelebt haben.»
Am nächsten Tag, es war Samstag vor Pfingsten, bestand Sophie darauf, dass man sich zur Morgenandacht vor dem Haus bei der Stele, einem mannshohen, schlanken Stein, versammelte. Vor zwei Generationen hatte Gottlob Breunig, der damalige Besitzer von Eben-Ezer, den Hinweis 1. Samuel, Kap. 7, Vers 12 in den Granit meisseln lassen. Das Gras, die Blätter der Sträucher und Bäume glitzerten vom Tau, in dem sich das Licht der Morgensonne brach. Josua, der fiebernd im Bett lag, fehlte. Ebenso Niklaus Kellermann, Ruth und die drei Kleinen, die noch nicht aus Karabulakhi zurückgekehrt waren.
Folge 78
Sophie öffnete die Bibel und las für Hannes, Martha, Elias und Gideon, wie die Philister wider Israel stritten und wie der Herr mit seinem Donner die Heiden erschreckte, so dass sie vor den Hebräern flohen und von ihnen bei Beth-Kar geschlagen wurden.
Endlich schloss sie die Bibel und machte eine Pause. Sie schaute Martha und die drei Männer an. Dann wies sie auf die Stele und zitierte den zwölften Vers auswendig: Da nahm Samuel einen Stein und setzte ihn zwischen Mizpa und Sen und hiess ihn Eben-Ezer und sprach: Bis hierher hat uns der Herr geholfen.
«Bis hierher», wiederholte sie. «Wir wollen beten, dass er uns auch weiterhin beisteht.»
Sakartvelo
Gerade einmal einen Monat hat sie überlebt, die Transkaukasische Republik. Seit tatarische Banden, ermuntert von den Osmanen, marodierend durch die westlichen Provinzen von Georgien ziehen und sich Armenier und Muslime gegenseitig abschlachten, müssen selbst gutgläubige Politiker wie mein Freund Merab Metreveli einsehen: Die Kaukasusvölker sind unfähig für ein friedliches Zusammenleben.
Kein Mensch vermisst dieses kurzlebige Staatsgebilde. Einzig die zahlreichen deutschen Kolonisten, die vom russischen Vizekönig Nikolaj Nikolajewitsch Romanow in Geiselhaft genommen worden waren, hatten Grund zur Freude. Für sie öffneten sich die Gefängnistore.
Was sie durchmachen mussten, habe ich erfahren, als mich Erna Eppinger kurz nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in meiner Praxis aufgesucht hat.
Erna ist mit einem Weinbauern verheiratet. Die temperamentvolle Mittdreissigerin war im Oktober 1916 mit einem russischen Hauptmann aneinandergeraten, der ihre beiden Pferde für die Armee requirierte. Sie hatte ihn unflätig beschimpft und ihre Genugtuung darüber zum Ausdruck gebracht, dass Kaiser Wilhelms Soldaten dem Zaren an der Ostfront die Hosen strammzogen. Ihre Worte. Zu Ernas Pech verstand der Offizier Deutsch. Sie wurde verhaftet und zu einer Kerkerstrafe verurteilt.
Sie habe sich im Loch die Krätze zugezogen, klagte sie. Tatsächlich wies sie sämtliche Symptome der Krankheit auf. Ich entdeckte die typischen Pusteln auf der Haut zwischen ihren Fingern und Zehen und erkannte durch meine Lupe die rötlichbraunen Milbengänge. Während ich ihr eine Salbe verschrieb, erkundigte ich mich nach den Umständen ihrer Haft.
Die Russen hätten sie zusammen mit der Gutsherrin von Bogas-Kessan, Jenny von Kutzschenbach, und vier weiteren Frauen in eine enge Zelle gesteckt, erzählte sie. Sie, Erna, sei die Einzige gewesen, die man verurteilt habe. «Die anderen hockten nur im Loch, weil sie Schwaben waren. Das Gefängnis war voll mit Landsleuten, deren einziges Verbrechen es war, Deutsche zu sein – als hätten wir Kolonisten den Russen den Krieg erklärt.»
Ein Hustenanfall unterbrach ihren Bericht. «Das Essen war grässlich», fuhr sie schliesslich fort. «Wässrige Suppe, in der manchmal ein Kohlblatt schwamm, eine Kartoffel oder ein zähes Stücklein Fleisch, dazu einen Kanten Brot. Am schlimmsten war, dass wir alle die Ruhr hatten und unsere Notdurft voreinander in denselben Kübel verrichten mussten. Sie können sich nicht vorstellen, Herr Doktor, wie peinlich das war und wie es gestunken hat! Und dann haben sie aus lauter Schikane noch einen geisteskranken Mann zu uns gesperrt. Wenn der den Rappel hatte, wollte er sich auf uns stürzen.» Erneut musste sie husten.
«Wie habt ihr euch gegen ihn gewehrt?», erkundigte ich mich.
«Jenny hat ihm den Marsch geblasen. Sie ist eben eine echte Preussin und war die Einzige, bei der er spurte. Wenn sie ihn anherrschte, wurde er ganz manierlich. Überhaupt war sie es, die unser elendes Häuflein regierte. Bewahren Sie die Contenance, meine Damen, pflegte sie zu sagen, wenn wir jammerten. Sie hatte mit niemandem Mitleid, weder mit uns noch mit sich selbst. Stattdessen erklärte sie: Wir lassen uns doch von diesen Barbaren nicht unterkriegen. Ja, ja, die Contenance» – das Wort schien Erna zu gefallen –, «die war ihr wichtig. Während der ganzen Zeit, die ich dort verbrachte, hat sie die Haltung nie verloren. Ich weiss nicht, was wir ohne sie gemacht hätten.»
Zum dritten Mal wurde sie von einem Hustenanfall geschüttelt. Als sie sich erholt hatte, fuhr sie fort: «Sie hat sogar erreicht, dass uns die Wärterinnen Wolle und Stricknadeln gaben, und so haben wir um die Wette gestrickt. Mein Hermann ist jetzt bis an sein seliges Ende mit Socken versorgt.»
Als sie wieder hustete, sagte ich ihr, dass mir weniger die Krätze Sorgen mache als ihre Lunge. «Das wird schon wieder besser», wiegelte sie ab. «Im Loch haben wir alle gehustet.»
Aber dann bestätigte sie, was ich vermutete: Sie war oft müde, klagte über nächtliche Schweissausbrüche und hatte immer wieder leichtes Fieber. Ich griff zum Stethoskop.
Erna war beunruhigt. «Ist es etwas Ernsthaftes?», wollte sie wissen.
«Um das zu beantworten, müsste ich ein Schirmbild Ihrer Lunge haben». Ich besass keinen Röntgenapparat, aber ich war mir sicher, dass sie sich mit Tuberkulose infiziert hatte.
Das ist kein Wunder. Schlechte Ernährung, mangelnde Hygiene, wenig Luft und Licht – die Verhältnisse in den Gefängnissen sind katastrophal.
Mit ihrer Verurteilung werden die Leute nicht nur eingesperrt, sie laufen auch Gefahr, zu erkranken und schlimmstenfalls zu sterben. Noch immer ist Schwindsucht die häufigste Todesursache.
Folge 79
Einen Tag nach meinem Gespräch mit Erna erschienen Alex von Kutzschenbach und seine Frau in meiner Praxis. Sie mache sich Sorgen um ihren Mann, sagte Jenny. Ich kannte die vitale und energische Frau nur vom Sehen. Sie befürchte, der Aufenthalt im Gefängnis habe seinen Lebenswillen gebrochen, erklärte sie. Ob ich etwas für ihn tun könne.
Sie selbst schien die Haft kaum verändert zu haben. Natürlich hatte sie an Gewicht verloren, und ihre Haut war blass. Aber sie hielt sich sehr gerade und wahrte, wie Erna Eppinger sagen würde, die Contenance. Nach der Entlassung aus der Geiselhaft seien sie für zwei Tage in der Villa ihrer Schwägerin Anna in Krzanissi, einem Vorort von Tiflis, gewesen. Dort hätten sie erfahren, dass Mamutlie überfallen und ausgeplündert worden sei. Anna habe ihnen dringend davon abgeraten, nach Bogas-Kessan zurückzukehren. Die Situation sei zu unsicher.
Da die Schwägerin und Alex’ Schwester Asta mit Annas Jungen und der hochbetagten Baronin von Kutzschenbach genug zu tun hätten, habe sie sich entschlossen, mit ihrem Mann nach Katharinenfeld zu fahren, um im Anwesen der Familie die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten.
Alex von Kutzschenbach, der schweigend dasass, sah schlecht aus. Er war von den langen Monaten im Gefängnis sichtlich gezeichnet. Ich untersuchte ihn gründlich und kam zum Schluss, dass ihm vor allem gesunde Ernährung und viel Bewegung an der frischen Luft fehlten. Mehr Sorge als sein körperlicher Zustand bereitete mir allerdings seine seelische Verfassung. Er war apathisch, wirkte ängstlich, sein Blick war unstet, die Hände zitterten. Er gab auf meine Fragen nur einsilbig Antwort und versank immer wieder in dumpfes Schweigen.
Da er der letzte Patient an diesem Tag war, lud ich ihn ein, mich auf meinem Abendspaziergang zu begleiten, und versprach seiner Frau, ihn anschliessend nach Hause zu bringen.
Wir folgten der Viehtriebstrasse. Alex von Kutzschenbach ging mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern neben mir her. Er richtete die Augen auf seine Füsse, als müsse er sich auf jeden seiner Schritte konzentrieren. Erst nach geraumer Zeit begann er zu sprechen: undeutlich, monoton, unterbrochen von langen Pausen.
Zuerst glaubte ich, er rede mit sich selbst. Dann realisierte ich, dass er in abgerissenen Sätzen von seiner Zeit im Gefängnis erzählte. Ich reimte mir zusammen, dass er, eingesperrt mit einem halben Dutzend Leidensgenossen, vor allem unter den beengenden Verhältnissen gelitten hatte, dem Leben im Dämmerlicht der Zelle, der Unmöglichkeit, sich sauber zu halten, der mangelhaften Ernährung und unter den periodischen Ausbrüchen von Gewalt.
Er war mehrmals erkrankt und musste ins Gefängnislazarett verlegt werden. «Dort war es besser», erklärte er. «Es gab Licht, und das Essen war etwas nahrhafter.» Er blieb stehen und zum ersten Mal huschte ein Lächeln über sein Gesicht. «Ich habe manchmal den Fiebermesser manipuliert, um die Temperatur zu erhöhen. So konnte ich den Aufenthalt im Krankenzimmer in die Länge ziehen. Aber irgendwann musste ich wieder zurück in die Zelle.»
Wir gingen weiter. Es hatte seit drei Wochen nicht mehr geregnet. Auf Disteln, Labkraut, Malven und all den anderen Frühblühern am Wegrand lag eine feine, graue Staubschicht. Wir verliessen die Strasse und stiegen zum Teufelssattel hinauf, einer Anhöhe über dem östlichen Dorfrand. Sie lag zwischen zwei Erhebungen.
Von Lotte Erchinger, die sich für Sagen und Brauchtum interessiert, weiss ich, dass es hier nicht geheuer sein soll. Man behauptet, da oben würden sich in Vollmondnächten die Hexen aus der Umgebung treffen. Jetzt allerdings lockten nur liebestrunkene Zikaden mit ihrem Gesang paarungswillige Weibchen. Am rechten Hügelhang graste eine Schar Ziegen. Der Hirte, ein Halbwüchsiger, sass im Schatten einer verkrüppelten Steineiche. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen und beobachtete drei Störche, die mit weit ausgebreiteten Flügeln hoch über der Maschawera kreisten.
Von Kutzschenbach blieb stehen und schaute über das Dorf hinweg nach Südwesten, wo sich die bewaldeten Hänge des Bortschali-Bezirks im blauen Abendhimmel verloren. Irgendwo dahinter lag Bogas-Kessan, sein Gutshof.
«Ob die Tataren unseren Besitz auch geplündert haben, wie Mamutlie?», fragte er. Er liess sich neben mir im Gras nieder. «Ich verstehe das nicht. Wir waren doch immer gut zu ihnen. Mein Vater wurde sogar für seine zivilisatorischen Leistungen geadelt. Weshalb tun sie uns das an?»
Weil sie eure Zivilisation nie gewollt haben, dachte ich. Aber ich schwieg. Jetzt war gewiss nicht der Zeitpunkt für ein Streitgespräch. Sein Vater hatte Land gekauft, das die Russen den Tataren weggenommen hatten. In den Anfangsjahren hat er gegen sie kämpfen müssen, um seinen Besitz, den sie nicht anerkannten, zu verteidigen. Dann baute er Mamutlie auf. In ihren Augen handelte es sich um einen Fürstensitz. Später kamen noch fünf weitere Gutshöfe dazu, alle auf ehemaligem Tatarenland.
Aus Deutschland und der Schweiz liess er Fachkräfte kommen. Die Einheimischen durften sich als Hilfsarbeiter verdingen, wenn sie sich anständig, das heisst untertänig, benahmen. Der Baron und später sein Ältester liessen sich von den Karapapach, den Schwarzmützlern, wie sich die westgrusinischen Tataren nennen, als Boeg-Aga ansprechen. Die Verhältnisse waren klar: Die Kutzschenbachs waren die Herren, sie die Knechte – und das im Land, in dem sie seit Generationen lebten. Für die Siedler waren sie Wilde, bar deutscher Tugenden wie Gehorsam, Treue, Fleiss und Pflichterfüllung.
Folge 80
Um brauchbare Menschen aus ihnen zu machen, davon waren sie überzeugt, musste man sie erziehen wie Kinder: streng, aber gerecht. Und jetzt, wo sie von den Osmanen, die in Transkaukasien einmarschiert sind, dazu ermuntert werden, zahlen sie ihren Herren die Demütigungen heim. Wen wundert das?
Diese Erklärung konnte ich Alex von Kutzschenbach in seiner jetzigen Verfassung nicht zumuten. Auch nicht, wenn ich ihm gesagt hätte, dass die Schweizer Viehzüchter und Käser, wie mein Vater oder Hannes, die in diesem Land reich wurden, keinen Deut besser sind. Oder die Leute in den Schwabendörfern, zu denen ich mich selber auch zähle. Wir alle leben seit drei oder vier Generationen in diesem Land, als seien wir Kolonialherren. Und nun wird uns wohl die Rechnung für unsere Überheblichkeit präsentiert.
«Aber es ist doch auch unsere Heimat», sagte Alex von Kutzschenbach, als habe er meine Gedanken erraten. Verzweifelt schaute er mich aus seinen tief liegenden, braunen Augen an.
Ich bin sicher, dass 1918 als Schicksalsjahr in die Geschichte unseres Landes eingehen wird. Nach dem Zusammenbruch der Transkaukasischen Republik erklärte Georgien am 26. Mai seine Unabhängigkeit. Armenien und das muslimische Aserbaidschan folgten wenige Tage später. Präsident unseres jungen Staates ist der sozialdemokratische Politiker Noe Zhordania, der in der Zarenzeit ins Exil nach Europa hatte flüchten müssen. Nach der Februarrevolution in Russland war er zurückgekehrt und hatte sich den Menschewiki angeschlossen.
Die Staatsgründung geschah in der verzweifelten Hoffnung, sich aus dem Chaos herauszuhalten, das nach der Revolution in Russland ausgebrochen war. Grusinien heisst jetzt Sakartvelos Demokratiuli Respublika oder einfach Sakartvelo, in Anlehnung an das alte, georgische Königreich gleichen Namens, das bis zum 15. Jahrhundert bestanden hatte. Amtssprache ist nicht mehr Russisch, sondern Georgisch. Es gibt auch eine neue Landesfahne: blutrot, die Farbe der regierenden Menschewiki, mit einem kurzen schwarz-weissen Balken in der oberen linken Ecke. Schwarz-weiss-rot – zu Ehren des deutschen Kaiserreichs, mit dem man sich, sehr zur Freude der deutschstämmigen Kolonisten, verbündet hat. Denn auf Verbündete ist man angewiesen. Man hofft auf Unterstützung im Kampf gegen die von türkischen Offizieren angeführten Tatarenbanden, die dem Lauf der Kura entlang Richtung Osten vorrücken. Ihr Ziel sind die Ölfelder im Kaspischen Meer vor Baku.
Am 8. Juni traf eine dreitausend Mann starke bayerische Kavalleriebrigade, verstärkt durch ein Infanterie-Regiment, in Poti ein. Kommandant der Truppe war General Friedrich Freiherr Kress von Kressenstein.
Dem Korps schlossen sich georgische Verbände und kaukasusdeutsche sowie deutsche und österreichische Soldaten an, die nach dem Frieden von Brest-Litowsk aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden waren. Sie hatten den Auftrag, den Vormarsch der Türken zu stoppen. Als Gegenleistung erhielt das Reich Privilegien beim Erdöltransfer vom Kaspischen Meer sowie beim Abbau von georgischem Mangan und Kupfer. General von Kressenstein richtete sein Hauptquartier in Tiflis ein.
Mitte Juni erschienen deutsche Soldaten in Katharinenfeld. Die Kolonisten, die sie als Retter in der Not empfingen, bewirteten ihre Landsleute auf dem grossen Platz vor der Kirche. Ich stand etwas abseits und sah zu, wie man bei Bier und Wein auf Brüderschaft trank. Später sang man gemeinsam vaterländische Lieder. Knapp drei Dutzend junge Männer aus dem Dorf baten darum, mit der Truppe gegen die Türken und Tataren kämpfen zu dürfen. Pastor Hahn hielt eine markige Ansprache, in der viel von Gott, Kaiser Wilhelm und der deutschen Heimat die Rede war – und davon, dass man die Ungläubigen aufs Haupt schlagen müsse, so wie weiland König David die Philister.
Paul Hahn, der Streiter Gottes, war in seinem Element. Er sprach von «Deutsch-Georgien». Nachdem die russischen Bolschewiki im März um Frieden gebettelt hätten, sei der Sieg des Reichs im grossen Völkerringen gewiss, behauptete er. «Ihr Männer vom Neckar und Rhein», wandte er sich an die strammen Schwaben, die bereits mit ihren geschulterten Jagdflinten in Reih und Glied dastanden, «dürft stolz sein, hier im Osten euren Beitrag zur Glorie unseres Vaterlandes zu leisten!»
Endlich beschwor er den Segen des Herrn auf «die heldenhaften Söhne Katharinenfelds», wie er sie nannte, – auf sie und ihre Waffen. Die Frauen steckten ihren Söhnen, Brüdern und Verlobten kleine Blumensträusse ans Revers, und die Blaskapelle stimmte Heil dir im Siegerkranz an. Die Leute sangen mit. Neben mir stand Grethe Vöhringer, die Mutter von Alfred, Michel und Gottfried, dem Trio Amigo. Jetzt, in diesen kriegerischen Zeiten, hatten sie Bass, Klarinette und Handharmonika mit dem Schiessgewehr vertauscht. Die Frau krallte sich an meinem Arm fest. «Glauben Sie mir, Herr Doktor», keuchte sie erregt, «meine Jungen werden die Heiden verdreschen.»
Ich löste mich von ihr. Unwillkürlich musste ich daran denken, dass ich Zeuge desselben Wahns war, der 1914 in Europa eine ganze Generation in den Grossen Krieg getrieben hatte. Jetzt, vier Jahre später, sind Millionen tot oder verkrüppelt. Aus voller Kehle sangen die jungen Männer:
Wir alle stehen dann
mutig für einen Mann,
kämpfen und bluten gern
für Thron und Reich!
Ich fragte mich, wie viele von ihnen versehrt an Leib und Seele zurückkehren würden.
Folge 81
Seit seiner Ankunft in Katharinenfeld hatte es sich Alex von Kutzschenbach zu seiner Gewohnheit gemacht, mich auf meinem Abendspaziergang zu begleiten. An diesem Tag erzählte er mir, sein Bruder Arnold, der drei Jahre in Polen und im Baltikum gegen die Russen gekämpft habe, sei wegen seiner kaukasischen Herkunft General von Kressenstein als Stabsoffizier zugeteilt worden.
Er habe einen Trupp Kavalleristen beauftragt, ihn und seine Frau nach Bogas-Kessan zu begleiten. Ihre Schwägerin Anna, die von Mamutlie hatte fliehen müssen, schliesse sich ihnen an. Mit der Hilfe der Soldaten würde man auf den beiden Gutsbetrieben die Ordnung wiederherstellen. Er freute sich, heimkehren zu dürfen.
Erstmals seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis erschien mir Alex von Kutzschenbach wieder zuversichtlich. Am nächsten Morgen stand ich auf dem Balkon meiner Wohnung und schaute zu, wie er und die beiden Frauen in einer offenen Kutsche, begleitet von ihrer Eskorte, Katharinenfeld verliessen.
Kurz nach diesen Ereignissen suchte mich Merab Metreveli in Katharinenfeld auf. Er fuhr in einem Automobil mit offenem Verdeck vor. Es handle sich um einen von der neuen Regierung requirierten Doppelphaeton, erklärte er mir später.
Als ich aus dem Fenster meiner Praxis schaute, weil ein paar Gassenjungen, die in der Kreuzgasse um den Wagen herumstanden, einen Heidenlärm veranstalteten, wusste ich nicht, wer der Herr war, der sich im Polster des Rücksitzes zurücklehnte. Erst als ihm der Chauffeur die Türe öffnete und er die Lederhaube sowie die riesige Windschutzbrille ablegte, erkannte ich meinen Besucher. Ich bat ihn in mein Wohnzimmer. Rosina Dieterle brachte uns Kaffee.
Merab kam ohne Umschweife zur Sache. Da die Türken jetzt Richtung Tiflis vorrückten und General von Kressenstein sie aufzuhalten versuche, habe er es für seine Pflicht gehalten, sich der Republik zur Verfügung zu stellen. Er habe den Auftrag erhalten, die Versorgung der verwundeten Soldaten zu organisieren. «Man bringt sie von der Front nach Tiflis ins Spital», erklärte er. «Dort erhalten sie Erste Hilfe und werden, wenn nötig, operiert. Sobald sie transportfähig sind, kommen sie in verschiedene kleinere Lazarette, wo sie sich auskurieren können. Auch die Schwaben von Helenendorf haben sich anerboten zu helfen.»
«Ach ja?», sagte ich, obwohl ich ahnte, worauf er hinauswollte.
Und tatsächlich: «Wir haben uns entschieden, eines dieser Lazarette in Katharinenfeld einzurichten. Und du wirst es leiten», fuhr er fort und schaute mich erwartungsvoll an. Als ich schwieg, behauptete er, ich sei das dem Vaterland schuldig!
«Dem Vaterland?»
Um seine Lippen spielte ein Lächeln. «Verzeih, ich vergass, dass du Schweizer bist. Sagen wir also, dass du es deiner Heimat schuldest, dem Land, in dem du geboren bist und in dem du lebst, gut lebst, notabene. Ihr Kolonisten hättet viel zu verlieren, wenn Sakartvelo kapitulieren müsste. Aus diesem Grund», fügte er hinzu, «haben sich auch Leute aus deinem Dorf General von Kressenstein angeschlossen. Du wirst uns nicht im Stich lassen, Karl!», sagte Merab.
Ich seufzte. «Du weisst, dass du auf mich zählen kannst.»
Christian Beck, unser Dorfschulze, bestimmte, das Notspital sei im Pavillon des Lustgartens einzurichten. «Ihr Bruder Jakob kann mit seinen Musikern auch in der Kirche spielen», meinte er. Ich richtete in einem Nebenraum mein Untersuchungszimmer ein. Die Besucherstühle stapelte man im Keller. An ihre Stelle kamen fünfzig Eisenbetten, die aus den Lagerbeständen der ehemaligen russischen Militärverwaltung stammten. Merab hatte sie bringen lassen. Die Katharinenfelder stellten Bettzeug zur Verfügung.
Meine Schwägerin Marie, die sich als Erste gemeldet hatte, als ich Helferinnen suchte, schrieb die Einsatzpläne für die vielen Frauen, die im Lazarett mitarbeiten wollten. Wer sich eignete, wurde als Pflegerin meiner Praxishilfe, der jungen Justina Mack, unterstellt. Die anderen sollten Rosina Dieterle unterstützen, die der Küche und der Wäscherei vorstand. Auch Männer hatten sich gemeldet. Sie würden als Krankenträger dienen.
Ich brachte den Freiwilligen das Nötigste so gut wie möglich bei. Vor allem schärfte ich ihnen ein, die Hygienevorschriften zu beachten, die Hände zu waschen, und zwar mit Seife, die Bettlaken fleissig zu wechseln, nur saubere Gazeverbände zu verwenden und selbstverständlich die medizinischen Instrumente, mit denen man arbeite, vor dem Gebrauch zu desinfizieren.
Bei Eduard Fiechter, unserem Dorfapotheker, bestellte ich grosse Mengen von Karbol. Ausserdem erstellte ich eine Liste mit jenen Medikamenten, die mir für unser Lazarett unerlässlich schienen - unter anderem Schmerz- und Schlafmittel. Fiechter versprach mir, was er nicht auf Lager habe, persönlich in Tiflis zu besorgen.
Das alles schreibt sich so leicht. Tatsache war, dass uns für die Eröffnung des Notspitals nur wenige Tage Zeit blieb. Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Türken nahmen keine Rücksicht auf unsere Vorbereitungen.
Ein Lazarett, in dem sich unsere tapferen Krieger auskurieren können. So hatte sich Merab Metreveli ausgedrückt, als handle es sich um eine Art Kuraufenthalt. Aber so war es natürlich nicht. Im Gegenteil: Was wir in den nächsten Wochen erlebten, kommt meiner Vorstellung von der Hölle ziemlich nahe.
Folge 82
Ich erinnere mich, wie schockiert unsere Helferinnen waren, als der erste Verwundetentransport eintraf. Zehn junge Männer lagen bleich und stöhnend auf der notdürftig mit Stroh gepolsterten Ladebrücke eines Lastwagens, auf dessen Seitentüren man ein rotes Kreuz gemalt hatte. Einige weinten.
Einem hatte man ein Bein amputiert, einem den rechten Arm. Der Kopf eines dritten war so bandagiert, dass nur noch das linke Auge zu sehen war. Gott sei Dank, denn als ich ihm später den Verband abnahm, starrte ich fassungslos in ein monströses Antlitz. Eine solche Wunde hatte ich noch nie gesehen. Eine Kugel hatte dem Unglücklichen den Unterkiefer zertrümmert und war von da durch die Zunge und das rechte Auge gefahren. Als er den Mund öffnete und unartikulierte Laute ausstiess, sah ich, dass nur noch drei Backenzähne im Oberkiefer übrig geblieben waren.
Justina Mack, die neben mir stand, stiess einen leisen Schrei aus, bedeckte den Mund mit beiden Händen und wandte sich entsetzt ab. Ich wies sie an, mir einen mit Karbol getränkten Verband zu bringen. Später erfuhr ich, dass der Mann Theodor Lehmann hiess, 1897 zur Welt gekommen war und aus Wolgast in Mecklenburg stammte. Er hatte an der Schlacht bei Tannenberg teilgenommen und war kurz darauf in russische Kriegsgefangenschaft geraten, aus der er erst im März 1918 entlassen worden war. Dann hatte man ihn an die Kaukasusfront geschickt.
Ich rechnete nach. Lehmann musste sich siebzehnjährig als Kriegsfreiwilliger gemeldet haben und hatte fast vier Jahre in einem russischen Lager dahinvegetiert, bevor ihm, nach gerade einmal drei Monaten in Freiheit, ein feindlicher Schütze das Gesicht zerstörte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ärztliche Kunst sein grässlich entstelltes Antlitz wiederherzustellen vermochte. Als ich seine Wunden vorsichtig reinigte und dann wieder verband, richtete Lehmann sein gesundes Auge unverwandt auf mich. Justina stand neben mir. «Schau mir gut zu», sagte ich zu ihr. «In Zukunft ist das deine Aufgabe.»
Dann gingen wir weiter. Von Bett zu Bett. Einen um den andern untersuchte ich, liess mir, soweit sie dazu in der Lage waren, ihre Schmerzen schildern. Es waren ausnahmslos junge Männer, nicht älter als meine Praxisgehilfin. Ihre Körper waren von Kugeln und durch Bajonettstiche malträtiert worden. Es gab auch Brandwunden, Brüche und üble Quetschungen. Viele würden, falls sie überlebten, Krüppel bleiben.
Justina weinte. «Weshalb tun Menschen einander so etwas an?», fragte sie immer wieder. Ich wusste keine Antwort.
Alle drei Tage kamen neue Verwundetentransporte aus Tiflis. Schon bald konnten wir die Versehrten nur noch aufnehmen, wenn wir jene, denen es etwas besser ging, bei Familien im Dorf unterbringen durften. Das bereitete keine Probleme. Angesichts des Schicksals der jungen Soldaten war die Hilfsbereitschaft gross.
Am Morgen und am Abend schaute ich mir die Kranken an und gab Justina die notwendigen Anweisungen für Verbandwechsel, Medikamentenabgabe und die weitere Pflege der Verwundeten.
Marie organisierte den Tagesablauf im Lazarett. Sie sorgte dafür, dass die Männer gewaschen wurden, dass man ihnen bei ihrer Notdurft behilflich war und dass man sich zu ihnen ans Bett setzte, mit ihnen plauderte, aus Büchern vorlas und für sie Briefe an ihre Lieben schrieb. Manchmal brachte sie ihre Geige mit. Sobald sie spielte, verstummten die Gespräche, und die Pflegerinnen unterbrachen ihre Tätigkeit. Mir war, als zaubere Marie mit ihren Melodien eine Ahnung von einer friedlicheren Welt an diesen Ort der Schmerzen und des Leids. Wochen später erzählte sie mir, die Zeit im Lazarett sei für sie ein einziger Albtraum gewesen. Die Bilder der versehrten jungen Männer hätten sie im Schlaf verfolgt und mitten in der Nacht hochschrecken lassen.
Wie ihr war es allen ergangen, die in unserem kleinen Lazarett mithalfen. Was wir leisten mussten, ging oft weit über unsere Kräfte hinaus. Ich selber kam in der dritten Woche an meine Grenzen, als man uns Michel, den mittleren der drei Vöhringer-Brüder brachte. Man hatte ihm in Tiflis den linken Fuss oberhalb des Knöchels amputieren müssen. Er lag bleich im Bett. Seine Wangen waren eingefallen, und er fieberte.
Seine Mutter sass weinend und hadernd neben ihm. Sie, die sicher gewesen war, dass ihre Söhne die Muselmanen verdreschen würden, verfluchte jetzt die Türken, die ihn verstümmelt hatten. Bei der Krankenvisite stellte ich fest, dass Michels Bein bis zum Knie geschwollen und rotbraun verfärbt war. Aus der nekrotisch befallenen Wunde sickerte ein schwärzliches, übelriechendes Sekret. Als ich sie leicht berührte, schrie er auf. Gasbrand! Man würde noch heute eine erneute Amputation vornehmen müssen, ungefähr in der Mitte des Oberschenkels. Man - das hiess, ich. Für einen Rücktransport nach Tiflis blieb keine Zeit. Er würde ihn nicht überleben. Merab hatte mir chirurgische Instrumente geschickt. Ich hoffe, du wirst sie nie brauchen, hatte er dazu geschrieben.
Ich bin ein einfacher Hausarzt. Das meiste, was ich über Kriegsverletzungen wusste, kam aus zweiter Hand. Lotte Erchinger, die Schwiegertochter meines Vorgängers, hatte mir nach dessen Tod seine Aufzeichnungen überlassen. Der alte Erchinger war im Badischen Revolutionskrieg von 1848/49 auf Seiten der Aufständischen Militärarzt gewesen.
Erst vor wenigen Tagen hatte ich wieder einmal in seinen Notizen geblättert und nachgelesen, wie er einem verwundeten Soldaten, Kaspar Beierlein aus Villingen, das Bein amputieren musste. Und jetzt stand ich selbst vor dieser schrecklichen Aufgabe.
Folge 83
Am Nachmittag brachten zwei Krankenträger Michel ins Untersuchungszimmer. Während er uns anflehte, ihn sterben zu lassen, schnallten wir ihn auf der Liege fest, die jetzt als Operationstisch dienen musste. Justina würde mir assistieren.
Ich trug über meinen Kleidern einen sauberen, weissen Schurz, der bis zum Hals reichte. Mithilfe eines Badetuchs, das ich als Gesichtszelt über seinen Mund und seine Nase legte, liess ich den Patienten Schwefeläther inhalieren. Diese Methode wurde in Europa schon seit mehr als einem halben Jahrhundert angewandt. Anders als der unglückliche Kaspar Beierlein, der die Amputation bei vollem Bewusstsein über sich hatte ergehen lassen müssen, würde Michel Vöhringer nichts spüren.
Nachdem ihm Justina zweieinhalb Handbreit über dem Knie eine Aderpresse angelegt hatte, trennte ich seine Haut rings um den Oberschenkel vom Fleisch und zog sie in die Höhe. Anschliessend durchschnitt ich die jetzt freigelegten Muskelstränge bis auf den Knochen. Dann liess ich mir von Justina, die mit zusammengepressten Lippen neben mir stand, die Säge geben. Ich arbeitete rasch. Der grässliche Ton, als das Metall in den Schaft des Oberschenkelknochens drang und das kranke Glied vom Körper trennte, erschien mir überlaut.
Endlich konnten wir die Wunde versorgen. Justina war totenbleich. Sie schwankte und hielt sich am Operationstisch fest. Ich bat die Krankenträger, die Michel ins Lazarett brachten, Marie zu holen.
Meine Schwägerin blieb auf der Schwelle zum Untersuchungszimmer stehen. Entsetzt starrte sie auf das amputierte, dunkel verfärbte, noch immer blutende Glied: ein halber Oberschenkel, ein Knie und ein Unterschenkel. Ich bedeckte es rasch mit einem Tuch. «Kümmere dich um Justina!», sagte ich. «Sie hat mehr gesehen, als gut für sie ist.» Ich hob das blutdurchtränkte Paket vom Tisch und verliess den Raum.
Auf der Nordseite des Lustgartens befand sich ein kleiner Schuppen. Der Gärtner bewahrte dort seine Werkzeuge auf. Ich bat ihn um einen Spaten. Dann ging ich durch die Tifliserstrasse und bog nach rechts in die Ziegeleistrasse ein. Wie durch einen Schleier nahm ich wahr, dass Passanten stehen blieben und mir verwundert nachschauten. Ich kümmerte mich nicht um sie, sondern marschierte - ja, ich glaube, marschieren ist das richtige Wort - zur Brücke.
Unmittelbar nachdem ich die Maschawera überquert hatte, verliess ich die Strasse und ging querfeldein den Hirschgärten entlang flussaufwärts. Bei einer Weide blieb ich stehen. Ich legte das Paket ab. Auf meinem Hemd waren grosse Blutflecken. Im Schutz der herabhängenden Äste grub ich hastig ein Loch. Als es mir tief genug erschien, legte ich das Paket hinein und bedeckte es mit Erde.
Als ich endlich fertig war, liess ich den Spaten fallen. Mein Gesicht, die Arme und der Rücken waren von kaltem Schweiss bedeckt. Ich zitterte am ganzen Leib. Aus meiner Kehle drang ein Laut, der nicht von mir zu stammen schien. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Das Mass des Erträglichen war überschritten. Ich warf mich auf den Boden über das Grab von Michel Vöhringers Bein. Meine Finger krallten sich in der Erde fest. Schluchzend stammelte ich zusammenhangslose Worte.
Natürlich weiss ich, dass ich von jenem Moment an, als ich mich zur Amputation entschloss, meine Emotionen ausgeschaltet hatte. Anders wäre es mir nicht möglich gewesen, diesen grauenvollen Eingriff vorzunehmen. Aber als alles vorbei war, übermannte mich die Verzweiflung. Die Verzweiflung über das Elend, dessen Zeuge ich in den letzten Wochen geworden war und das nur ein ganz kleiner Teil jenes Elends war, das die Mächtigen dieser Welt seit 1914 über Millionen von Menschen gebracht hatten.
Ich weinte um die jungen Männer, die, wie Michel Vöhringer, den Rest ihres Lebens als Krüppel fristen mussten. Gewiss, man würde sie als Helden feiern und ihnen irgendwelche Blechorden an die Brust heften. Später, wenn sie in ihren Heimatstädten am Strassenrand bettelten, würde man ihnen gnädig ein paar Groschen vor die Füsse werfen. Doch schon nach wenigen Jahren würde man den Blick von ihnen abwenden und weitergehen. Sie würden nicht mehr sein als die zu geschändetem Fleisch gewordene Erinnerung an ein Gemetzel, von dem man nichts mehr wissen wollte.
Stammelnd verfluchte ich die Monarchen, Politiker, Generäle und Unternehmer, welche die Völker erneut zu mörderischen Totentänzen verleiten würden und Generationen junger Männer auf dem Altar ihrer Gier und ihres Ehrgeizes opferten. Weshalb liessen sich die Völker immer wieder verführen? Weshalb?
Ich weiss nicht, wie lange mein Zusammenbruch dauerte. Irgendeinmal liess die Erschütterung nach und wich dem Gefühl einer dumpfen Leere. Ich stand auf und ging zurück ins Dorf. In meiner Wohnung wusch ich mich gründlich. Minutenlang liess ich das Wasser über mein Gesicht und meine Hände rinnen. Dann wechselte ich die Kleider.
Als ich um die Abendbrotzeit das Lazarett betrat, schaute mich Marie lange an. Wartete sie darauf, dass ich etwas sagen würde? Aber es gab nichts zu sagen.
An einem Montagabend gegen Ende Juli führte Rosina Dieterle Arnold von Kutzschenbach in mein Studierzimmer. Er sei auf dem Schulzenamt gewesen, wo er Christoph Beck informiert habe, dass die Türken von General Kress von Kressenstein aus Georgien vertrieben worden seien. Jetzt sei er hier, um mir einen Brief seines Bruders Alex zu übergeben, erklärte er.
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Ich bat ihn, Platz zu nehmen. Rosina brachte uns eine Flasche Weinbrand aus dem Keller. «Er kommt aus Biedlingmeiers Rebberg», sagte ich, als ich meinem Gast und mir einschenkte.
Arnold wärmte den niedrigen Cognacschwenker ein paar Minuten in der Hand, dann liess er die Flüssigkeit sachte kreisen und roch daran. Endlich prostete er mir zu. «Auf den Kaiser und unseren Sieg!»
Ich hob schweigend mein Glas, stellte es wieder ab und öffnete das Couvert. Arnold lehnte sich im Fauteuil zurück. Er trug seine Felduniform und Reitstiefel. Ein schmucker Offizier mit sorgfältig gestutztem Schnurrbart, das dunkelblonde Haar in der Mitte gescheitelt. Er hatte sich eine Zigarre angezündet, rauchte und beobachtete mich, während ich las:
Die Leute aus den umliegenden Dörfern hatten unsere Abwesenheit benutzt, um alles lebende und tote Inventar in ihren Besitz einzureihen, schrieb Alex von Kutzschenbach. Was er konnte, hat unser muslimischer Verwalter Meiti in sein Haus und seinen Stall gerettet. Jenny und ich ritten mit ein paar deutschen Soldaten von Hütte zu Hütte und verlangten unser Eigentum zurück. Vor unserer Verhaftung hatten wir auf Bogas-Kessan einen Viehbestand von fünfhundert Rindern. Aber wir konnten nur noch neunzig davon auftreiben, der Rest war geschlachtet und verspeist worden …
Ich hob den Kopf. «Das ist eine Tragödie.»
«Was Alex und Jenny passiert ist? Das ist nichts. Sie hätten Mamutlie sehen müssen.» Was Arnold mir von der Stätte seiner Kindheit berichtete, war erschreckend:
Wie auf Bogas-Kessan war auch auf dem Familienbesitz der Kutzschenbachs fast das gesamte Vieh, Kühe, Kälber, Zuchtstiere, Ochsen und alle Pferde des Gestüts gestohlen worden. Im Herrenhaus hatten die Bewohner des benachbarten Dorfes Orosman gehaust wie die Vandalen. Von der Wohnungseinrichtung war nichts übrig geblieben. Sie hatten Astas Klavier aus dem Musikzimmer im ersten Stock über die Veranda auf den Hof geworfen.
Vor nichts hatten sie haltgemacht. Weder Wandtäfelungen noch Kachelöfen waren verschont geblieben, Fenster und Fensterrahmen waren herausgebrochen worden. Überall gab es nur noch gähnende Löcher.
Die ebenerdigen Wohnräume waren voller Pferdemist. In einer Ecke hatten die Plünderer eine offene Feuerstelle eingerichtet. Im Park lagen gefällte Bäume, andere hatten sie entrindet.
Die Wasserleitungen, welche die Häuser und den Springbrunnen im Teich versorgten, waren herausgerissen, die Bienenhäuser in Brand gesteckt worden. Von den fünfhundert Bienenvölkern war keines mehr da.
«Ich habe im Krieg viel gesehen», sagte Arnold von Kutzschenbach, «aber noch nie eine derart sinnlose Zerstörung. Diese Niedertracht! Weshalb haben sie uns das angetan?» Es war dieselbe Frage, die vor ein paar Wochen auch sein Bruder gestellt hatte. Er erwartete keine Antwort.
«Einer meiner Offizierskameraden ritt mit einer Kavallerieeinheit von Dorf zu Dorf», fuhr Arnold fort. «Zunächst entwaffneten sie die Tataren. Das ging nicht immer glatt ab. Wenn einer der Kerle aus dem Hinterhalt auf sie schoss, stellten sie ihn nach einem kurzen Standgericht an die Wand. Am schlimmsten erging es den Leuten aus Orosman. Sie sprechen nicht nur türkisch, sie fühlen sich auch als Türken und haben auf eine osmanische Herrschaft gehofft. Nachdem sie drei seiner Männer verwundet hatten, liess der Hauptmann das Dorf niederbrennen und dem Erdboden gleichmachen.»
Unrecht gegen Unrecht, Gewalt gegen Gewalt, dachte ich. Wie soll dieses Land jemals zur Ruhe kommen, wenn sich diese unselige Spirale immer weiterdreht?
«Ich habe gehört, auch der Hof Ihres Bruders sei von einer Räuberbande überfallen worden, aber er soll mit seinen Leuten den Angriff erfolgreich abgewehrt und sechs Tataren erschossen haben.» Der junge von Kutzschenbach sah mich mit unverhohlener Genugtuung an.
«Ja, das trifft zu», bestätigte ich.
«Das ist die einzige Sprache, die dieses Pack versteht!»
Ich mochte nicht darüber reden. «Und wie geht es Ihrer Schwägerin Anna?», fragte ich deshalb.
«Sie ist eine willensstarke Frau und entschlossen, Mamutlie wiederaufzubauen.» Von Kutzschenbach schenkte sich nach. «Zunächst hat sie sich notdürftig im zerstörten Gemäuer eingerichtet. Ihr Sohn Gerhard, der als Dolmetscher im Dienst unserer Expedition stand, unterstützt sie. Er begleitete die Soldaten, die man zum Schutz seiner Mutter abkommandiert hat, in die Tatarendörfer, um das gestohlene Vieh zurückzuholen. Es war wenig genug. Gerade einmal fünfzig Milchkühe. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er auch entwendetes Mobiliar.» Der Offizier lachte. «Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik. Da die Erdbehausungen dieses Gesindels niedrig sind, hatten sie Tische und Stühle gestutzt, also deren Beine gekürzt, um sie den räumlichen Verhältnissen anzupassen.»
Wir tranken schweigend. Ich registrierte meine zwiespältigen Gefühle: Einerseits war ich erleichtert, dass wir vor einer türkischen Invasion verschont geblieben waren. Andererseits musste ich an Männer wie Michel Vöhringer und Theodor Lehmann denken, die einen entsetzlichen Preis für unsere Sicherheit bezahlen mussten.
«Was meinen Sie, wie viele Tote und Verwundete ich in den letzten Jahren gesehen habe?», meinte Arnold von Kutzschenbach trocken, als ich es erwähnte. «Und Sie glauben, es habe sich gelohnt?», konnte ich mich nicht enthalten zu fragen.
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Das Ganze sei wichtiger als der Einzelne, behauptete er. «Wenn wir siegreich aus dem Krieg hervorgehen, haben wir mit unseren Annexionen im Osten und Südosten die Hegemonialstellung Deutschlands in Europa für alle Zeiten gesichert.»
Ich schaute ihn erstaunt an. Wusste er nicht, dass die deutschen Linien an der Marne nach einer Gegenoffensive der an Soldaten und Material weit überlegenen Kräfte der Franzosen, Engländer und Amerikaner eingebrochen sind und dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis das Reich kapitulieren muss? Wollte er es nicht wissen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf?
Anderntags fand in unserer Kirche ein Gottesdienst statt. Als Eingangslied sang der Kirchenchor, von Jakob auf der Orgel begleitet, Nun danket alle Gott. Arnold von Kutzschenbach hatte als Ehrengast unter der Kanzel Platz genommen. Ich sass mit Marie, Michel Vöhringer und Theodor Lehmann, den beiden Kriegsversehrten, in der letzten Reihe. Der eine hatte sich auf seinen Krücken zur Kirche geschleppt, der andere trug einen frischen Verband, der sein Gesicht verdeckte. In seiner Predigt dankte Pastor Hahn Gott für den Sieg über die Heiden und behauptete, der Allmächtige werde Deutschland ebenso auf den Schlachtfeldern Europas über seine Feinde triumphieren lassen. Anschliessend schwadronierte er von einem grossdeutschen Reich, dessen Aussenposten im Osten Deutsch-Georgien sein werde. Als er zum Schluss die Katharinenfelder auch noch aufforderte, Kriegsanleihen für den Kaiser zu zeichnen, verliess ich das Gotteshaus. Die Gläubigen drehten die Köpfe und schauten mir nach: teils verwundert, teils empört.
Zwei Wochen später konnte ich die letzten Patienten aus unserem Notspital entlassen – die Schwaben und Georgier zu ihren Familien, die deutschen Soldaten in die Obhut ihrer Armee.
Kurz darauf liess sich Merab Metreveli ein zweites Mal in seiner Staatskarosse nach Katharinenfeld chauffieren. Wir sassen bei einem Glas Wein in meinem Wohnzimmer. Man habe jetzt zwar die Türken zurückgeschlagen, sagte er, aber nach wie vor sei das Land unruhig. «Die grösste Gefahr droht uns von innen. Revoltierende Bauern eignen sich Gutsbesitz, Staats- und Kirchenland an und verweigern die Zahlung von Pachtzinsen. Eine Bodenreform ist unumgänglich. In vielen Fabriken streiken die Arbeiter, aufgehetzt und unterstützt von den einheimischen Bolschewiki, die Georgien dem Sowjetstaat angliedern wollen. Auch hier müssen wir Antworten finden. Und die Südosseten wollen sich ihren Stammesgenossen auf der Nordseite des Kaukasus anschliessen.»
Ich prostete ihm zu «Auf eure Unabhängigkeit, und dass ihr sie erfolgreich verteidigt!»
«Ihr?» Er hob die Brauen. «Wir, Karl, wir. Wach auf! Du gehörst dazu, du ebenso wie die schwäbischen Kolonisten. Wir brauchen euch, und ihr braucht uns. Allein sind wir zu schwach. Georgien war stets ein Spielball fremder Mächte. Wir wurden von den Arabern unterjocht, von den Mongolen, Osmanen, Persern und Russen. Auf diesem Land liegt ein Fluch. Ob wir unsere Unabhängigkeit verteidigen können, weiss Gott allein.» Er schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er fort: «Aber deshalb bin ich nicht hierhergekommen. Ich habe den Auftrag, dir für deinen Einsatz den Dank der Nation auszusprechen», erklärte er lächelnd. Er stand auf und übergab mir einen im Rot der Landesfarbe gehaltenen Pass. In goldenen Buchstaben stand darauf: Sakartvelos Demokratiuli Respublika. Darunter war das Staatswappen eingeprägt: der heilige Georg mit eingelegter Lanze auf einem sich bäumenden Pferd. Über ihm in einem Halbkreis Sonne, Mond und fünf Sterne. Ich blätterte im Dokument. Es war von Präsident Zhordania persönlich unterzeichnet.
«Wie gesagt: Du bist jetzt einer von uns», erklärte Merab und umarmte mich. «Von heute an ist Sakartvelo dein Vaterland.»
Ich habe mich mit meiner nationalen Identität stets schwergetan, was daran liegen mag, dass in mir mütterlicherseits Emmentaler und livländisches und von meinem Erzeuger her georgisches Blut fliesst. Merab konnte nicht wissen, dass Sakartvelo im wahrsten Sinne des Wortes mein Vaterland ist. Aber macht mich das zu einem anderen Menschen, zu «einem von uns»? Meinen Zweifeln zum Trotz rührte mich die Geste, und ich bedankte mich.
Am 14. August 1918 diente der Pavillon im Lustgarten zum ersten Mal wieder seiner ursprünglichen Bestimmung. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt, als Jakob zum Gedenken an den Schreckenstag von Katharinenfeld seine Komposition Der Überfall dirigierte. Vor zweiundneunzig Jahren war eine Horde von Tataren und Persern über das Schwabendorf hergefallen. Fünfzehn Siedler verloren ihr Leben, hundertvierundneunzig Kinder, Frauen und Männer wurden gefangen genommen und auf türkischen Märkten als Sklaven verkauft. Lotte Erchinger besass einen Bericht von der Katastrophe. Die Aufzeichnungen stammten aus der Feder von Hanna Engist, die zur Zeit des Überfalls die Frau des Katharinenfelder Pfarrers war. Sie hatte die Erzählungen von Barbara Grathwohl aufgezeichnet. Die damals Siebzehnjährige war kurz nach ihrer Vermählung von den Muselmanen verschleppt und in Achalziche an einen Türken verkauft worden. Zwei Jahre später eroberten die Truppen des Zaren die Stadt. Ein russischer Offizier befreite sie und sorgte dafür, dass sie nach Katharinenfeld zu ihrem Mann zurückgeschickt wurde. Von Lotte Erchinger hatte Jakob erfahren, dass Barbaras Befreier unser Grossvater, Vitus von Fenzlau, gewesen war.
Folge 86
Mein Bruder hat diese Ereignisse zu einer Tondichtung verarbeitet. In seiner Komposition steigerte er das Morden und Sengen zu einem von Dissonanzen durchsetzten Crescendo furioso. Das Wüten der Heiden ging über in die Wehklage der Siedler um ihre Toten und ihre versklavten Angehörigen und endete mit den zarten Tönen, welche die Hoffnung auf den Wiederaufbau des Dorfes anklingen liess.
Als wir das Stück mit unserem Orchester probten, gestand mir Jakob, er plane, es in seiner Kaukasischen Sinfonie zu verwenden. Ich kannte die Obsession meines Bruders. Vor vier Jahren hatte er mir anvertraut, dass er davon träume, ein grosses Orchesterwerk zu schreiben. Er wolle darin die Schönheit Georgiens und die Sehnsucht der Menschen nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zum Klingen bringen, hatte er mir erklärt. Bei der Aufführung vom 14. August gehe es ihm lediglich darum, die Wirkung seiner Komposition auf das Publikum zu prüfen.
Er konnte zufrieden sein. Dank seiner Musik fühlten sich die Zuhörer an diesem Abend mit ihren Vorfahren eins. Nach den versöhnlichen Schlussklängen applaudierten sie begeistert.
Auf Maries Wunsch stand im zweiten Teil des Konzerts als letztes Stück Antonín Dvořáks Romanze in f-Moll auf dem Programm, und zwar die vom Komponisten bearbeitete Version für Violine und Klavierbegleitung. Jakob verliess das Dirigentenpult und setzte sich an den Flügel. Aber bevor er die ersten Takte spielen konnte, wandte sich meine Schwägerin ans Publikum. Sie habe etwas zu sagen, erklärte sie. Ich sah sie von meinem Platz im Orchester nur von hinten: eine schmale Gestalt im langen, schwarzen Kleid. Ich glaubte, ihre Nervosität zu spüren.
«Man hat in den letzten Tagen General von Kressensteins glorreichen Sieg über die Türken gefeiert, und man hat den lieben Gott gebeten, die Truppen des Kaisers auch auf den Schlachtfeldern Europas triumphieren zu lassen.» Maries Stimme zitterte. «Nachdem ich gemeinsam mit vielen Frauen in den letzten Wochen im Lazarett gearbeitet habe», fuhr sie fort, «wünschte ich mir, man würde, statt in der Kirche den Krieg zu feiern, um die Opfer des grossen Gemetzels trauern, um die Toten und die Verstümmelten, deren Leben für immer zerstört ist. Ich weiss, dass ich Mühe habe, auszudrücken, was ich empfinde», sagte sie, «und deshalb möchte ich an meiner Stelle Matthias Claudius sprechen lassen.»
«Das ist unerhört!», zischte Pastor Hahn, der in der vordersten Reihe sass. Aber als Marie die zweite Strophe des Kriegslieds vortrug, wurde es totenstill:
Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blass
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen
Und vor mir weinten, was?
Während sie sprach, sah ich sie vor mir: den einundzwanzigjährigen Theodor Lehmann mit seinem für immer zerstörten Antlitz, Michel Vöhringer, den fröhlichen Musikanten, der sein linkes Bein verloren hatte, und alle andern mit ihren Wunden und ihren gebrochenen Seelen. Ich fühlte, dass ich aufstehen musste, um ihnen meinen Respekt zu erweisen. Neben mir erhob sich Cornelius Fresendorff. Und auch die anderen Mitglieder des Orchesters folgten unserem Beispiel. Jakob trat neben seine Frau und legte ihr den Arm um die Schultern.
Nachdem sie geendet hatte, flüsterte Marie ihrem Mann etwas ins Ohr. Jakob nickte. Er nahm wieder am Flügel Platz und spielte die lange Einleitung zu Dvořáks Komposition. Dann setzte meine Schwägerin mit ihrer Violine ein. Ich habe sie noch nie so ausdrucksvoll spielen gehört wie an diesem Abend. In den sanften und doch so eindringlichen Tönen schien alles enthalten zu sein, was wir in den vergangenen Wochen im Lazarett erlebt hatten: das Elend und die Not der jungen Männer, ihre Verzweiflung und ihre Gebete; aber auch die Auflehnung der Helferinnen und Helfer gegen die Mutlosigkeit.
Eben-Ezer
Auch Sophie, Hannes, Martha und Elias waren an diesem 14. August nach Katharinenfeld gekommen, um dabei zu sein, wenn Jakob sein neuestes Werk dirigierte. Vor dem Konzert sassen sie mit Karl und Lotte bei Kaffee und Streuselkuchen im Garten hinter dem Haus am Äusseren alten Wingert. Marie und Jakob hatten sich in ihre Wohnung zurückgezogen, um sich auf ihren Auftritt vorzubereiten. Aus dem ersten Stock hörte man sie musizieren.
«Was soll nur aus dem Land werden, jetzt, wo sie den Kaiser umgebracht haben?», fragte Hannes.
Sie. Das waren die Bolschewiki, die im vergangenen April die Zarenfamilie von Tobolsk nach Jekaterinburg verlegt hatten. Die Romanows wurden dort von den Roten unter wenig komfortablen Bedingungen gefangen gehalten. Zunächst hiess es, Lenin wolle Nikolaj II. vor Gericht stellen. Als sich aber im Juli eine Weisse Armee Jekaterinburg näherte und die Stadt einzunehmen drohte, liess man die entsprechenden Pläne fallen. Der gestürzte Monarch durfte auf keinen Fall befreit werden.
Am 20. Juli erschien in der Presse eine offizielle Mitteilung, wonach der ehemalige Zar gemäss Verfügung des Uraler Sowjets hingerichtet worden sei. Man wusste nichts Genaues, aber es hiess, die Bolschewiki hätten nicht nur den Kaiser, sondern auch dessen Frau Alexandra, die vier Töchter Olga, Tatjana, Marija und Anastasia sowie Alexei, den Thronfolger, umgebracht.
Folge 87
Unter den schwäbischen Kolonisten in Katharinenfeld waren die wildesten Geschichten in Umlauf. Als die Schergen der Tscheka das Feuer auf sie eröffnet hätten, seien Nikolaj und dessen Frau sofort tot gewesen, aber der Zarewitsch und drei seiner Schwestern hätten sich schwer verletzt am Boden gewälzt, so dass man ihnen mit Bajonetten den Rest gegeben habe. Dann seien die Gesichter der Toten mit Schwefelsäure unkenntlich gemacht und die Leichen an einem geheimen Ort verscharrt worden.
Das waren Gerüchte. Man wusste nicht, was von ihnen zu halten war, zumal führende Kommunisten gegenüber deutschen Diplomaten behaupteten, die Familie des Zaren befände sich in Sicherheit. Früher oder später würde man die Wahrheit erfahren.
Feststehe, dass die Romanows nur noch Stoff für die Geschichtsbücher seien, meinte Karl. «Damit ist nicht nur für Russland, sondern auch für unser Land eine Epoche zu Ende.»
«Unser Land», sagte Hannes bitter. «Die Menschewiki in Tiflis wollen uns unseren Besitz wegnehmen.»
Tatsächlich plante die neue Regierung, mit einer Agrarreform knapp die Hälfte des Staats- und Kirchenlandes sowie des privaten Grossgrundbesitzes zu nationalem Eigentum zu erklären. Es sollte in einen Fonds überführt und an Kleinbauern verpachtet werden.
«Was soll ich tun?» Hannes schlug mit der Faust auf den Tisch. «Die Sozialisten stehlen die Hälfte unseres Bodens und lassen uns den gesamten Viehbestand. Jetzt fehlt das Gras, um alle Tiere zu füttern.»
«Mach aus dem Gutshof eine Kooperative», riet Karl. Er dachte an die schwäbischen Kolonisten, die seit sechzig Jahren in Alexandershilf am Fuss des Trialetischen Gebirges auf genossenschaftlicher Basis mit zweitausend Stück Vieh die grösste Milchwirtschaft in Niederkartlien betrieben – zum Wohl aller Beteiligten. «Die Leute aus dem Dorf sollen das Land vom Staat pachten» fuhr er fort. «Du verkaufst ihnen jene Tiere, die du nicht ernähren kannst. Dir bleibt immer noch die Hälfte der Steppenweide und des Viehbestands. Ihr produziert den Käse gemeinsam und verteilt den Gewinn anteilmässig.»
«Vater würde sich im Grab umdrehen, wenn er deinen Vorschlag hörte!», brauste Hannes auf. «Ich kann doch unser Erbe nicht einfach aufgeben.» Er schaute seine Mutter um Unterstützung heischend an.
«Du gibst es ja nicht auf. Auch in der alten Heimat gibt es zahlreiche Genossenschaften, zu denen sich Bauern zu ihrem eigenen Vorteil zusammengeschlossen haben. Das war schon zu Grossvater Schüpbachs Zeiten so, und auch Simon hat mir davon erzählt.» Sophie legte ihre Hand auf seinen Arm. «Wir sind teilweise enteignet worden. Und vielleicht ist es nur gerecht, wenn wir das Land mit den Leuten teilen, die es bebauten, schon lange bevor wir gekommen sind.»
Martha schaute die Schwiegermutter böse an. «Gerecht!», zischte sie. «Die Regierung bestiehlt uns!»
Karl runzelte die Stirn. «Sei froh, dass in Tiflis Sozialdemokraten an der Macht sind. Die Bolschewiki hätten euch alles genommen.»
Marthas Lippen wurden zu einem schmalen Strich.
«Weshalb schweigst du?», wandte sich Hannes an seinen Ältesten. «Schliesslich wirst du einmal den Hof erben.»
Der inzwischen vierundzwanzigjährige Elias war dem Gespräch aufmerksam gefolgt. «Ich finde, wir sollten Onkel Karls Vorschlag umsetzen», meinte er. «Ob gerecht oder nicht – wir können nichts gegen die Bodenreform unternehmen. Wie du sagst, reichen die Weiden, die uns bleiben, nicht aus, um tausend Kühe zu füttern. Seit keine russischen Soldaten mehr für Ordnung sorgen, werden die tatarischen Viehdiebe immer frecher. Ich glaube, dass unsere Hirten die Tiere energischer verteidigen, wenn jedes zweite ihnen gehört. Und schliesslich ist es mir lieber, wenn die Leute aus dem Dorf, die wir kennen, unser Land pachten, als wenn fremdes Pack kommt, das uns feindselig gesinnt ist.»
In diesem Jahr feierte man das Erntedankfest, das auf den 6. Oktober fiel, für einmal nicht in Katharinenfeld, sondern auf Eben-Ezer. Sophie begleitete Hannes und Elias zum kleinen Kirchlein am Rand der Steppe. Auf der Wiese vor dem Gottesacker versammelten sich die Dorfleute, um gemeinsam mit den Diepoldswilers die Landwirtschaftliche Kooperative Eben-Ezer zu gründen. Seit Ende des vorigen Monats besass jede Familie eine Parzelle auf jenem Land, das von der Regierung enteignet und an sie verpachtet worden war.
Pater Nikoloz, Dawit Achwlediani, der Dorfälteste, seine beiden Söhne und Samvel Gevorgian hatten die Leute in unzähligen Gesprächen von den Vorteilen einer Genossenschaft, an der sie alle beteiligt sein würden, überzeugen müssen. Sie waren zunächst auf Misstrauen gestossen. Einige meinten, es sei besser, selbstständig zu sein. Als aber bekannt wurde, dass Hannes Diepoldswiler bereit war, jeder Familie drei Kühe zum Preis von zweien zu verkaufen und jenen, die nicht sofort bezahlen konnten, einen Aufschub zu gewähren, waren die Stimmen verstummt, die davor gewarnt hatten, mit dem Gutsherrn gemeinsame Sache zu machen.
Es war Elias gewesen, der den Vater zu diesem grosszügigen Angebot überredet hatte. «Unser Landanteil ernährt fünfhundert Stück Vieh, vielleicht etwas mehr», hatte er ihm vorgerechnet. «Im Dorf leben hundertsechzig Familien. Alle können sich eine oder zwei Kühe leisten, kaum jemand drei. Was willst du mit jenen Tieren machen, die übrig bleiben? In der Gegend gibt es niemanden, der sie dir abkauft. Verschenk sie unseren Leuten. Sie werden dir dankbar sein.»
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88 Karl war gleicher Meinung wie sein Neffe. In diesen schwierigen Zeiten müsse man alles tun, um sich der Unterstützung der Einheimischen zu versichern, meinte er. Es werde sich auszahlen - spätestens beim nächsten Tatarenüberfall.
Pater Nikoloz, wie immer im langen, schwarzen Priesterrock und dem Kamilavkion auf dem Kopf, leitete die Versammlung. Die Männer scharten sich in einem Ring um den Popen. Die Frauen und Kinder beobachteten das Geschehen aus einer gewissen Distanz.
Seit der Abschaffung der Leibeigenschaft, 1866, hatten die Hirten und Melkerinnen vom Gutsherrn einen Lohn erhalten, aber die Leute aus dem Dorf mussten nach wie vor eine bestimmte Anzahl Tage im Jahr für ihn fronen und waren ihm die Pacht für ihre Äckerchen schuldig. Vitus von Fenzlau hatte sich noch mit «Exzellenz» ansprechen lassen. Für Simon war das nicht infrage gekommen. Aber auch wenn seither auf Eben-Ezer von niemandem mehr Unterwürfigkeit erwartet wurde, so blieb die Kluft zwischen dem Herrenhaus und dem Dorf bestehen. Bis heute. Und jetzt wurde der Gutshof, den Sophies Vater vor neunundsiebzig Jahren gekauft und auf dem später Simon seinen Traum als Grossbauer verwirklicht hatte, ein Genossenschaftsbetrieb.
Die Frauen und Kinder aus dem Dorf klatschten in die Hände, als die Männer den armenischen Zimmermann Samvel Gevorgian und den Käser Giorgi Achwlediani in den Vorstand der Landwirtschaftlichen Kooperative Eben-Ezer wählten. Die beiden anderen Sitze standen Hannes und Elias Diepoldswiler zu, die knapp mehr als die Hälfte der Anteilscheine besassen.
Nach der Versammlung verteilten sich die Menschen auf der Wiese zwischen dem Gotteshaus und dem Friedhof und assen marinierte Lammfleischwürfel, die man zusammen mit Paprikaschoten und Eierfrüchten auf Metallspiesse steckte und über dem offenen Feuer briet. Dazu gab es frisches, mit Sauerrahm und Kräutern belegtes Fladenbrot und Wein, den Hannes vom Winzer Biedlingmeier aus Katharinenfeld hatte liefern lassen.
Der alte Dawit machte den Tamada. Er hob den Becher und bedankte sich bei den Diepoldswilers für ihren Entscheid, den Gutshof in Zukunft gemeinsam mit den Dorfleuten zu bewirtschaften. Von heute an gebe es auf Eben-Ezer keine Herren und Knechte mehr, sondern nur noch Genossenschafter, sagte er. «Hoch lebe die Landwirtschaftliche Kooperative Eben-Ezer!», schloss er seine kurze Rede. Andere priesen in ihren Trinksprüchen den Frieden, die Dorfgemeinschaft, die Frauen und die Freundschaft. Zum Schluss sprach Hannes ein paar Worte. Er bedankte sich für das Vertrauen der Menschen. «Jetzt, wo das Land uns allen gehört», rief er, «werden wir es auch gemeinsam gegen jene verteidigen, die es uns streitig machen wollen: gegen die Bolschewiki, die Zwietracht säen, und gegen die Tataren, die unser Vieh stehlen!» Er hielt seine Rede auf Georgisch und anschliessend Armenisch.
Als man satt war und unter den Männern Flaschen mit Tschatscha kreisten, einem selbst gebrannten Traubentrester, trat eine fünfköpfige Musikgruppe auf. Die drei Männer trugen Kriegermäntel: rote Tschochas, auf deren Brust eine Reihe Patronentaschen aufgenäht war. Ihre Reiterhosen steckten in frisch gewichsten Stiefeln. Die Köpfe waren mit den traditionellen Papachas bedeckt. Auch die beiden Frauen in ihren bunten Röcken waren herausgeputzt. Sie trugen goldene Ohrringe, Halsketten und Armreifen, Schmuck, der in ihren Familien wohl seit Generationen von den Müttern an die Töchter weitergegeben worden war.
Mit einer Salamuri sowie je zwei Tschonguris und Tamburinen begleiteten sie zunächst die Dorfleute, die kaukasische Volkslieder sangen. Danach traten Dawit Achwledianis Enkelinnen, die Schwestern Lysan und Lika, und deren Base Ketavan in den Kreis. Sie trugen selbstgenähte Kleider in zarten Farben, die sie in stundenlanger Arbeit mit unzähligen Pailletten verziert hatten. Die kleinen Metallstücke glitzerten in der Sonne. Unter ihren aus Silberblech angefertigten Kronen fiel ihr schwarzes Haar bis zu den Hüften. Ihre geschminkten Lippen waren halb geöffnet. Lidschatten und Wimperntusche unterstrichen die dunklen, mandelförmigen Augen.
Zu einer Musik voller Sehnsucht schienen sie über die Wiese zu schweben, ihre Arme bewegten sich in anmutigen, ausdrucksvollen Gebärden. Die Mädchen strebten auseinander und kamen wieder zusammen, trennten sich erneut. Jede tanzte für sich, und doch waren sie eins, wie dies der Samaia verlangte, der Tanz, in dem das Leben der legendären Königin Tamar als Prinzessin, als weise Mutter und als mächtige Königin dargestellt wurde.
Sophie sass auf der Bank beim Glockenturm, der etwas abseits der unscheinbaren Basilika erbaut worden war, und schaute zu. Der Zauber, der von den drei Mädchen ausging, stimmte sie wehmütig. Sie dachte an ihre eigene Jugend. Auch sie hatte sich vor Dorffesten schön gemacht, hatte getanzt und bewundert sein wollen. Sie war Teil der Gemeinschaft gewesen. Seit Simons Tod war sie es nicht mehr. Sie hatte sich zurückgezogen, sich selbst ausgeschlossen.
Hannes, der mit Elias bei den Achwledianis am Feuer gesessen hatte, nahm neben seiner Mutter Platz. Er schien bedrückt.
«Sind Ketavan, Lika und Lysan nicht reizende Mädchen?», fragte Sophie. Er warf einen kurzen Blick hinüber, zu den drei Tänzerinnen. «Ja, gewiss», meinte er gleichgültig.
«Was macht dir Kummer?»
«Das alles.» Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die fröhlichen Menschen. «Ich weiss nicht, ob ich richtig gehandelt habe.»
Folge 89
«Hat das mit Martha zu tun?» Sophie wusste, dass ihre Schwiegertochter die heute gegründete Genossenschaft missbilligte. «Weshalb ist sie eigentlich nicht hier?»
Hannes atmete tief durch. «Sie sagte, sie wolle nicht dabei sein, wenn ich das, was Gott uns gegeben hat, verschachere.»
«Woher weiss sie, dass Gott das Land uns gegeben hat?», fragte Sophie sanft. «Hat er es nicht zuallererst für jene Menschen bestimmt, die seit Jahrhunderten hier leben?» Für sie war die Umwandlung des Diepoldswilerschen Besitzes in eine Kooperative kein Problem. Im Gegenteil: Sie hielt es für gerecht, dass die Leute, die das Vieh hüteten, das Heu einbrachten, den Käse herstellten und den Boden bearbeiteten, auch am Ertrag teilhaben sollten. «Du verschacherst das Land nicht», tröstete sie ihren Sohn. «Wir behalten jenen Teil, den man uns gelassen hat, und bewirtschaften alles gemeinsam mit den guten Leuten aus dem Dorf. Du solltest Martha sagen, dass sie dankbar sein kann, dass uns die Einheimischen, die über all die Jahre für uns arbeiten mussten, verzeihen.»
«Wir haben sie immer gut behandelt und anständig bezahlt», wandte Hannes ein.
«Ja, und deshalb sind sie auch bereit, weiterhin mit uns zusammenzuleben. Es hätte auch anders kommen können. An anderen Orten haben die Bauern Gutshöfe in Flammen aufgehen lassen und die Besitzer verjagt oder sogar umgebracht.»
Sie schwiegen. Die Sonne war fast ganz hinter dem Horizont verschwunden. Sie verwandelte die Wolken, die sich im Laufe des Tages über dem Gebirge gebildet hatten, in eine lodernde Feuerwand. Schwalben schossen kreuz und quer durch den Abendhimmel auf der Jagd nach Mücken, die in den letzten Sonnenstrahlen wie Goldstaub glitzerten.
«Ich werde jetzt nach Hause gehen.» Hannes erhob sich. Er schaute seine Mutter an. Untersetzt und breitschultrig stand er da. «Ich bin nicht wie meine klugen Brüder, der Komponist und der Arzt, denen unser Hof nie viel bedeutet hat», sagte er. «Ich bin nur ein Bauer, so wie Vater ein Bauer war. Wir beide haben uns bemüht, unser Erbe zu bewahren und zu mehren. Es mag richtig sein, es mit den Leuten zu teilen. Es bleibt ja gar nichts anderes übrig.» Seine Stimme klang resigniert. Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich zum Gehen.
Sophie sah ihm nach. Wie immer beschrieb Hannes’ linkes, verkrüppeltes Bein bei der Vorwärtsbewegung einen Halbkreis. Er war ein Vaterkind gewesen, Simon hatte ihn stets für sich beansprucht, bis zu seinem Tod. Er hatte ihn seinen «kleinen Stier» genannt und gesagt, er sei Fleisch von seinem Fleisch. War das der Grund, dass sie ihm weniger Liebe entgegengebracht hatte als den beiden andern, oder war es ihr unsinniger Stolz auf Karls und Jakobs Begabungen gewesen? Sie fühlte sich Hannes gegenüber schuldig.
Mitte Oktober stieg Sophie in der Morgendämmerung hinauf zur Krete, auf der Simon beerdigt worden war. Sie kam oft hierher. Wie üblich setzte sie sich auf die Bank bei seinem Grab. In der Steppe, wo die Hirten bei ihrem Vieh genächtigt hatten, glühte ein Feuer. Eben-Ezer erwachte. Von ihrem Standort aus sah Sophie wie Pater Nikoloz sein Haus verliess und zum Glockenturm ging, um zum Morgengebet zu läuten. Anschliessend würden die Leute aus dem Dorf ihr Tagewerk in Angriff nehmen.
Elias überquerte die Brücke. Er war unterwegs zum Melkplatz. Vor ein paar Tagen hatte sie beobachtet, wie sich ihr ältester Enkel und Margrit, ihr Patenkind, unter der Blutbuche vor dem Herrenhaus küssten. Die junge Frau hatte ihre Arme um den Hals ihres Liebsten geworfen und den Kopf in den Nacken gelegt. Sophie lächelte. Sie dachte daran, wie sie selbst, ein halbes Kind noch, sich in Simon verliebt hatte. Wie lange war das her - und wie rasch waren die Jahre verflogen! Margrit war die jüngste Tochter ihrer Nachbarn, Gottlieb und Käthi Graf. Seit ihrer Kindheit war sie oft auf Eben-Ezer zu Besuch. Sie und Elias verstanden sich gut. Vor siebzehn Jahren hatte Sophie das kleine Mädchen in den Armen gehalten, als es in der Kirche von Katharinenfeld von Pastor Hegele getauft worden war. Später hatte sie Margrit jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten ein wenig Silberbesteck geschenkt - für die spätere Ehe. Bald würde die junge Frau die Messer, Gabeln und Löffel nach Eben-Ezer mitnehmen. An Weihnachten war eine Doppelhochzeit geplant, denn auch Ruth und Niklaus Kellermann, der Hauslehrer, wollten sich das Ja-Wort geben.
Elias war wie sein Grossvater: gutaussehend, selbstbewusst, wortkarg und bereit durchzusetzen, was er für sein Recht hielt. Er war schlank und kräftig, hatte Simons hellblaue Augen und sein braun gewelltes Haar. Sophie wünschte, er würde sich denselben kecken Schnurrbart wachsen lassen, der ihr an ihrem Mann so gefallen hatte. Aber Elias überhörte ihre Andeutungen.
Mit ihm würde nach Karl Schüpbach, Simon und Hannes einer aus der vierten Generation von Schweizer Käsern Milchwirtschaft auf Eben-Ezer betreiben. Als Genossenschafter. Er hatte mit Giorgi Achwlediani und Samvel Gevorgian einen Plan ausgearbeitet, wie man im Herbst den Erlös aus dem Verkauf der Käseproduktion verteilen sollte. Vor ein paar Tagen hatte er darüber mit seinem Vater gesprochen. Sophie und Martha waren dabei gewesen.
Sein Grossvater habe ihm einmal erzählt, wie das in der alten Heimat gemacht worden sei, erklärte Elias. Man messe an zwei im Voraus bestimmten Tagen, wie viel Milch aus jeder Kuh gezogen werde. Dann verteile man den Gewinn nach dem prozentualen Anteil an die jeweiligen Besitzer. Vorher würden allerdings sämtliche laufenden Kosten abgezogen: zugekauftes Futter, neues Arbeitsgerät, Löhne für die Hirten, Melkerinnen und Käser und so weiter.
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«Und wie steht es mit den Gebäuden?», wollte Hannes wissen. «Immerhin haben wir den Bau und den Unterhalt der Käserei und der Viehställe bis heute bezahlt.»
Darüber habe man auch gesprochen, sagte Elias. «Wir haben den jetzigen Wert der Gebäulichkeiten geschätzt. Die Hälfte davon übernehmen die Genossenschafter aus dem Dorf. Der Betrag soll in fünf Jahresraten bezahlt werden. Nun hängt alles nur noch davon ab, ob du einverstanden bist.» Er schaute seinen Vater an. «Voraussetzung ist, dass du deine Bücher offenlegst.»
«Ja, das werde ich wohl müssen.» Hannes sah nicht glücklich aus. «Wer soll sie denn kontrollieren?»
«Wir haben gedacht, Pater Nikoloz könnte das tun. Wir vertrauen ihm. Er ist nicht Mitglied in der Kooperative, und er hat eine gute Schulbildung. Schliesslich war er auf dem Priesterseminar.» «Wir haben also in Zukunft nur noch den halben Ertrag», stellte Martha fest. «Wir tragen auch nur noch die Hälfte der Kosten», erklärte Elias.
«Wir sind nicht mehr Herr im eigenen Haus. Wir müssen uns von den Ungläubigen dreinreden und kontrollieren lassen. Aber Jehova spricht: Auf dass ihr nicht unter diese übrigen Völker kommt, die bei euch sind, Josua Kapitel 23, Vers 7.» Sie sass sehr gerade da, selbstgerecht, das ergrauende, zu einem Zopf geflochtene Haar wie eine Krone um den Kopf geschlungen. Über den Rand ihrer Brille, die sie seit einiger Zeit tragen musste, musterte sie ihren Ältesten.
«Wer sagt dir, dass die evangelische Kirche in Katharinenfeld allein selig machend ist?», fuhr Sophie die Schwiegertochter an. «Die Leute im Dorf sind keine Ungläubigen. Als unsere Vorfahren noch heidnische Götter verehrten, waren sie bereits Christen.» Sie wusste das vom verstorbenen Pater Mikheil, der ihr einmal erzählt hatte, dass die Armenier als erstes und die Georgier nach ihnen als zweites von allen Völkern das Christentum angenommen hatten.
«Ich mag nicht mehr mit dir darüber diskutieren, Mutter», schaltete sich jetzt Elias ein. Er sah ihr ins Gesicht. «Wir haben uns entschieden, den Hof in eine Genossenschaft umzuwandeln, und dabei bleibt es.»
Martha schwieg. Wie immer, wenn sie etwas missbilligte, presste sie die Lippen aufeinander. Sie erhob sich abrupt und verliess den Raum. Hannes kratzte sich am Kopf. «Du kannst den Leuten sagen, dass ich einverstanden bin», brummte er.
Kaukasische Sinfonie
Am Vormittag von Allerseelen, ein Jahr nach Simons Tod, waren die Diepoldswilers mit Karl, Jakob und Marie zu dessen Grab hinaufgestiegen. Nachdem Sophie einen Text aus der Bibel vorgelesen und ein Gebet gesprochen hatte, blieb man schweigend stehen. Aus dem grauen Himmel, der tief über der Steppe hing, fiel feiner Nieselregen. Von den Pappeln schaukelten gelbe Blätter müde zu Boden, als wollten sie den schwarz gekleideten Menschen, die unter ihren aufgespannten Regenschirmen ausharrten, die Vergänglichkeit in Erinnerung rufen.
Marie hatte ein kunstvoll geformtes Gebildebrot auf die Grabplatte gelegt. Ihre Mutter, die auf Brauchtum hielt, hatte es gebacken und ihr mitgegeben. Karls Blick fiel auf ein paar Krähen, die im Geäst der Bäume sassen und darauf warteten, dass sich die Menschen endlich entfernten, damit sie sich über das durchnässte Gebäck hermachen konnten. Im Laufe des Nachmittags hörte es auf zu regnen, und der Wind vertrieb das Gewölk. Karl und Jakob entschlossen sich, zur verfallenen Kapelle auf dem Hügel östlich des Dorfs zu spazieren. Ihr Grossvater, Vitus von Fenzlau, hatte seinerzeit verfügt, dort oben beerdigt zu werden. Die Brüder setzten sich auf einen Steinblock, der einst zur Seitenmauer des kleinen Gotteshauses gehört haben mochte.
«Wir sind eine seltsame Familie», sagte Jakob. «Weshalb haben unsere Verstorbenen keinen gemeinsamen Friedhof? Grossmutter Mathilde und unser tot geborenes Schwesterchen liegen da unten», er wies mit dem Kopf zur Trauerweide am Flüsschen, «Grossvater hier oben, die Grosseltern Schüpbach in Katharinenfeld und Vater auf der Krete über dem Weiher. Es ist, als gehörten sie nicht zusammen, als hätten sie keine gemeinsame Geschichte.» Karl verzichtete auf eine Antwort. «Hast du ihn geliebt?», fragte er stattdessen.
«Wen, Vater?» Jakob dachte nach. «Nein», sagte er schliesslich. «Als Kind habe ich es versucht. Aber er liess mich nicht an sich herankommen. Ich habe darunter gelitten, dass er nur Mutter und Hannes liebte. In mir sah er unseren Onkel. Für ihn war ich lediglich eine Art Wiedergänger seines Bruders. Aber letztlich hat er dessen Malerei so wenig verstanden wie meine Kompositionen.»
Sie schwiegen. Jakob betrachtete den schneebedeckten Didi Abuli, die höchste Erhebung am westlichen Horizont. «Ich werde morgen ins Gebirge reiten», erklärte er, «auf einen Gipfel, auf dem ich einen grossen Teil unseres Landes überblicken kann. Dort werde ich am letzten Satz meiner Kaukasischen Sinfonie arbeiten. Jetzt, wo Sakartvelo endlich seine Unabhängigkeit erlangt und gegen die Türken verteidigt hat, fühle ich mich dazu imstande.»
Karl sagte nichts. Die Vorstellung, in dieser Jahreszeit den weiten und nicht ungefährlichen Weg in die Berge auf sich zu nehmen, um ein Stück Musik zu komponieren, schien ihm abstrus. Aber er wusste, wenn der Bruder sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, so war er nicht mehr davon abzubringen.
Tatsächlich liess sich Jakob die Idee nicht ausreden. Weder von Marie noch von seiner Mutter, die sich beide um ihn ängstigten. Auch nicht von Hannes, der vor einem Wintereinbruch im Gebirge warnte. «Warte wenigstens bis zum nächsten Sommer!», sagte er.
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