FortsetzungsromanLesen Sie die neuste Folge von «Die Baronin im Tresor»
Betty Lambert empfing am Thunersee Stars wie Greta Garbo. Die Romanbiografie von Franziska Streun erzählt das Leben dieser Grande Dame.

Folge 18
Wie in adligen Kreisen üblich, das war Betty längst klargeworden, endete für die Rothschild-Töchter die Existenz im Stammbaum mit ihrer Heirat – was die Zeitungen verdeutlichten: Nach Willis Tod schrieben die Journalisten, dass Baron Willi kinderlos gestorben und der Name Rothschild damit aus Frankfurt verschwunden sei. Dabei war Willis Witwe Mathilde eine geborene Rothschild, und ihre beiden Töchter lebten 1901 ebenfalls noch: die damals 48-jährige Adelheid, kurz Ada gerufen, in Paris und die 44-jährige Minka in Frankfurt.
Betty beobachtete an ihrem Geburtstagstisch Max, der es sichtlich genoss, von sich zu erzählen. Sie wusste über ihn, dass das eigentliche Vermögen seiner Familie massgeblich durch die Heirat mit Minka zu ihm gekommen war und dass er, wie die meisten in der Dynastie, ein grosszügiger Mäzen und Kunstsammler war. Er war zudem der einzige Jude, der in der Zeit von Kaiser Wilhelm II. in den preussischen Adelsstand erhoben worden war. Max erzählte Vater und Mutter, wie er zu seinem Namenszusatz gekommen war: «Kurz nach Willis Tod starb 1903 meine Frau Minka.» Gemeinsam mit den Rothschilds sei be- schlossen worden, seinen Namen mit den zehn magischen Buch- staben zu ergänzen. Daher hiessen er und seine Kinder von Goldschmidt-Rothschild. «So», schloss Max, «blieb wenigstens der Name Rothschild in der Ursprungsstadt Frankfurt erhalten.» Sie fühlte sich steif und erdrückt inmitten der klirrenden Gläser und des Stimmendurcheinanders. Die Vorstellung einer arrangierten Ehe, die ihr nach Mutters Worten vom Vorabend ständig im Kopf herumschwirrte, verunsicherte sie.
Wie die Pariser, Wiener und Londoner zählten die Frankfurter Rothschilds zu den mit Abstand reichsten jüdischen Familien in ihrem Land. Möglicherweise, überlegte Betty, waren sie die überhaupt reichste Familie im gesamten deutschen Kaiserreich. Sie wusste, dass gerade Frankfurt den Rothschilds und ihren Stiftungen die Existenz zahlreicher Institutionen verdankte: Museen, Universitäten, Institute, Kranken-, Kur- und Waisenhäuser, Altersheime, Schwimmbäder, Bibliotheken, Forschungsprojekte, wissenschaftlicher Unterricht, ein Siechenhaus sowie die Mütter- und die Kriegsfürsorge. Da bei den Rothschilds jedoch so etwas wie das heilige Gebot der Diskretion galt, erwähnten sie ihr Mäzenatentum kaum je in der Öffentlichkeit. Langsam wurde sie am Tisch ungeduldig. Wie früher fand sie die über mehrere Länder verteilte weitverzweigte Verwandtschaft recht unüberschaubar. «Wussten Sie», wollte Mutter von Max wissen, «dass die Schweiz stets zu den gerne frequentierten Destinationen der Rothschilds gehörte?» Betty hörte aufmerksam zu, denn die Schweiz gefiel ihr sehr.
Sie kannte Genf, St. Moritz und Gstaad.
«Mein Grossvater James hatte in der Schweiz Geld in den Eisenbahnbau investiert – und es wegen des Bankgründers Escher verloren», nannte Mutter ein Beispiel. Und Max’ Schwiegermutter Mathilde weilte bis ins hohe Alter gerne in St. Moritz.
«In Pregny am Genfersee», ergänzte Mutter, «hatte Adolph Carl, Willis Vater, einen Park mit einer griechischen Villa gekauft und an deren Stelle ein Schloss erbauen lassen.»
Max nickte. «Stimmt. Adolfs Frau Julie, Mathildes Schwester, war mit Sissi befreundet – und sah sie bei sich in Pregny als eine der letzten Personen lebend, bevor der Attentäter die Kaiserin tötete.»
Betty entging nicht, dass Rudolf wiederholt ihren Blick suchte und sie anlächelte. Ihr war unwohl. Manchmal nickte sie höflich, quittierte eine Aussage oder Frage mit «Oui». Eine nie enden wollende Reihe an Butlern in weissen Handschuhen brachte gefüllte Teller an die reich geschmückte Tafel. Mutter war zur Hochform aufgelaufen, Vater mit Max in politische Debatten vertieft, ebenso ihre Cousins und Coucousins. Mit jeder Stunde verstärkte sich ihr unbehagliches Gefühl. Beim Gedanken an Frankfurt empfand sie eine tiefe Abneigung.
Auf einmal erhob sich ihre Mutter, stellte sich in den Tür- rahmen und winkte Betty und Rudolf zu sich. Sie beendete die Tischrunde und gab das Fumoir und den Salon für den Tee frei. Zu dritt stiegen sie nun in den Lift, weil Mutter ihm mit Betty zusammen die Galerie zeigen wollte.
Verkrampft betrachtete sie von der Seite diesen Mann, der nur knapp grösser als sie war. Ein Schnurrbart zierte sein quadratisches Gesicht, die Ohrläppchen waren angewachsen und seine Finger kurz. Er trug einen Seitenscheitel, die Haare waren mit Gel nach hinten gekämmt. Mutter befragte ihn über seine Malkünste.
Rudolf stand im Lift gezwungenermassen nahe neben ihr, so dass sie sein herbes Parfüm riechen konnte. Es mischte sich mit dem rauchigen Zigarettengeschmack, der von seiner Haut und seinem Anzug ausging.
Während der Fahrt hörte Mutter auf, mit Rudolf zu sprechen, drehte sich unvermittelt zu ihr hin und sagte emotionslos, als ob sie die Unveränderlichkeit der bevorstehenden Geschehnisse in diesem begrenzten Raum verdeutlichen wollte: «Jetzt können Sie sich umarmen.» Bevor Betty reagieren konnte, kam Rudolf der Aufforderung nach und drückte Betty an sich, bis sich ihre Wangen berührten. Es ging blitzschnell. Sie war blockiert, diesem Überfall ausgeliefert und wusste augenblicklich: Mit ihm wurde sie verheiratet.
Dabei hatte sie bis zur letzten Minute doch noch gehofft, dass Mutter wenigstens sie als ihre zweite Tochter von dieser Tradition ausnehmen würde. In diesem Moment, der sich wie eine erstarrte Ewigkeit anfühlte, hätte sie ihre Mutter für ihre Ge- meinheit, sie an diesem unausweichlichen Ort zu überrumpeln, erwürgen können.
Fortsetzung folgt
Bisher erschienen:
Folge 1
Martha tritt aus dem Haus und schaut sich stirnrunzelnd um. Der Rauch in der kühl-feuchten Herbstluft irritiert sie. Da entdeckt sie ihren Hans im Garten neben der Villa der Madame. Er wirft Dinge in ein Feuer, eilt unentwegt zur Loggia hin und mit Dokumenten und Gegenständen in den Händen wieder zurück zu den lodernden Flammen.
Sie rennt zu ihrem Mann und streckt dazu die Arme in die Luft. «Hans, Haaaans! Was machst du nur?», schreit sie und kann ihm gerade noch ein paar Fotos und Postkarten entreissen. Aufgeregt wedelt sie mit einem Bild vor seinem Gesicht herum. «Siehst du das? Die Baronin in jüngeren Jahren und der Baron mit der kleinen Ynes.»
Mit aufgerissenen Augen betrachtet sie die anderen Fotos: das Herrschaftsgebäude, der Ehrenhof, Kinder im Garten, das Bassin, der Park, der Kanal, in dem früher noch viele verschiedene Fische, Schlangen und Fischotter schwammen. Sie streckt ein paar ausgewählte Aufnahmen mit Personen zu ihm hin. «Da sind wichtige Leute zu sehen. Greta Garbo, hier, oder Grace Kelly – und da, Marc Chagall.» Sie nimmt weitere Abzüge von der Beige an sich und zeigt auf weitere Gäste der Baronin. «Sieh her, das ist einer dieser amerikanischen Offiziere während des Krieges. Und das ist der hochgewachsene Musiker, der oft hier war. Und hier sitzen Diplomaten von überallher in ihrer Loggia.»
Martha kann es kaum fassen. Solch wertvolle Fotos will ihr Mann vernichten. Erinnerungen an die Baronin, für die sie bereits vor dem Krieg als Bedienstete tätig war. «Hans, hast du den Verstand verloren? Wieso verbrennst du all diese Sachen?» Im letzten Augenblick rettet sie ein in gelbes Leder gebundenes dickes Gästebuch vor den Flammen. Sie reisst es hoch und hält es vor ihre Brust.
Er fährt sich durch die Haare und runzelt die Stirn.
«Madame will es so. Sie hat Wucher damit beauftragt, mir diese Aufgabe zuzuteilen.» Dass er kürzlich schon einmal Liebesbriefe, ein altes Gästebuch, Akten, Holzrahmen und Fotos, die er im Estrich der Baronin gefunden hatte, verbrennen musste, verschweigt er seiner Frau.
«Dieses Gästebuch musst du unbedingt zurück auf den Tisch im Vestibül legen!»
Martha und Hans stehen nebeneinander am Feuer und beobachten die Flammen, die knackend und zischend die persönlichen Objekte der Baronin in Asche verwandeln.
Der Abschied steht bevor.
Montag, 17. Oktober 1960
Starr gefroren liegt ihr Körper im schwarzen Nichts. In einem Stahltresor, der sie zu ersticken droht. Sie sieht nichts, sie ist eingesperrt. Geschützt und isoliert zugleich. Sie möchte fliehen, doch ihre Beine sind steif. Sie will sprechen, doch ihre Lippen sind hart. Sie hört ihr Herz hämmern. Fremde Stimmen dringen aus der Ferne zu ihr herein. Sie hört Scharniere, die quietschen. Die Schranktür wird geöffnet und gibt den dahinterliegenden Tresor frei. Endlich kommt jemand, um sie zu befreien. Keine Einsamkeit mehr in ihrem eigenen Gefängnis, in welchem ihre Gefühle für die Menschen unerreichbar sind. Erleichtert atmet sie auf.
Doch der Tresor bleibt verriegelt. Und sie gefangen in ihrem eigenen Panzer.
Betty schnappt nach Luft. Wieder dieser Albtraum. Nur zögerlich weicht das beklemmende Gefühl von ihr. Scrumpi, einer in einer Reihe von Welsh Corgi Pembrokes, ist vom Kissen am Boden aufgesprungen und kratzt mit seiner Vorderpfote am Ärmel ihres seidenen Nachthemds. Langsam beruhigt sie sich und streicht ihrem Hund über das hellbraun-weisse Fell. «C’est bon, tranquille. Va te coucher.»
Sie hört die Tritte von Scrumpis Pfoten auf dem Parkett und versucht, sich im dämmerigen Licht des anbrechenden Morgens zurechtzufinden.
Wieder dieser Traum. Sie hasst ihn. Eingesperrt im Korsett ihrer Disziplin, einem Panzer gleich, der sie gefangen hält wie in einem Tresor. Sie denkt an den dreiteiligen Koloss aus Stahl, den sie in der früheren Bettnische im heutigen Fumoir im Erdgeschoss einbauen und mit Schranktüren tarnen liess. 1923 war das; sie war gerade hochschwanger mit Ynes. Dort lagen nebst ihrem Schmuck die Briefumschläge mit den Löhnen für die Bediensteten, Bargeld für Rechnungen, Wertsachen – und während des Zweiten Weltkrieges zudem Lebensmittel vom Schwarzmarkt. In Zeiten der Judenverfolgung hätte sie sich oder Freunde auf der Flucht darin vor der Polizei versteckt. Daher nennt Betty ihn auch ‹Personentresor›.
Sie friert im Bett, zieht die Decke unters Kinn und starrt auf den weinrot-samtigen Baldachin über ihr. Wieso träumt sie diese immer gleiche Szene? Warum die Kälte? Die Mauern? Die Starre?
Während das Licht der aufgehenden Sonne zunehmend durch die Ritzen der Fensterläden in den Raum dringt, greift sie nach dem weissen Zündholzbriefchen neben dem Telefon auf dem Nachttisch. Ihr Name ist in Gold in den Karton eingraviert. Betty. Sie starrt auf diese fünf Buchstaben, als ob sie in ihnen die Geschichte ihres Lebens Revue passieren sähe. Der feuchte Herbstnebel hängt noch vor den Fensterscheiben. Ungeduld steigt in ihr hoch. Wo bleibt Joseph? Der Butler sollte einfeuern. Worauf wartet Edvige? Die Zofe müsste die Kleider richten und das Bad einlassen.
Folge 2
Sie schiebt die linke Hand zur kalten Bettseite hinüber und berührt ihre ‹Hermes›. Die Schreibmaschine ist ihre treue Begleiterin und ihr Draht zur weitverzweigten Welt ihres Bekanntenkreises und ihrer Verwandten. Der angefangene Brief an ihre Freundin Clarice ist eingespannt. Auf dem Papier ist rechts oben ‹BELLERIVE. GWATT près THOUNE (Canton de Berne). Téléph: 188› schwarz aufgedruckt.
Bettys Gedanken kreisen. Heute leitet sie den Abschied von ihrem ‹Gwatt› ein. So nennt sie ihren Sommersitz im Dörfchen mit dem Namen Gwatt am Rande der Stadt Thun. Vor 39 Jahren hat sie den südlichsten Berner Landsitz – die Campagne Bellerive – samt Park am Ufer des Thunersees ihrem Schwiegervater abgekauft. Jetzt, mit 66, sagt sie Adieu.
Der Gedanke an einen Verkauf ist ihr erstmals vor drei Jahren gekommen. Wegen des zunehmenden Verkehrs verbreiterten die Behörden die Strasse, die seit 1672 als Karrenweg und seit 1820 als Landstrasse den Park vom Herrensitz trennt. Zudem bauten sie zu beiden Seiten des breiten filigranen Eisentors in den Ehrenhof dem Gehsteig entlang eine Mauer. Vermehrt langweilt sie sich und vieles ist ihr zu anstrengend geworden. Für die Einladungen, die Campagne und die Reisen in den Wintermonaten beschäftigt Betty manchmal bis zu zwanzig Bedienstete.
Bereits Ferdinand, ihr Sohn, hat ihr ans Herz gelegt, sich von ihrem Kleinod zu trennen: «Lange kannst du das ‹Gwatt› und deinen Lebensstil kaum mehr finanzieren», hallen seine Worte nach. Die kalkulierenden Worte eines Banquiers. Alles ist teurer, und das Geldanlegen weniger ertragreich geworden. Er hat recht, denkt sie. Jetzt ist es so weit. Sie, Betty Esther Charlotte Laure Lambert, geschiedene von Bonstetten und geschiedene von Goldschmidt-Rothschild, schlägt heute, Montag, ein neues Kapitel in ihrem Leben auf. Um dem Stadtpräsidenten von Thun und dem Regierungsratspräsidenten des Kantons Bern ihre Bedingungen für ihre Campagne darzulegen, hat sie die beiden Amtsvertreter zu sich bestellt.
Im Frühjahr wird sie nach Genthod in die Nähe ihrer Tochter Ynes ziehen. Die Villa ‹La Manne› mit Blick auf den Genfersee ist dank einer Heizung ganzjährig bewohnbar und der perfekte Ort für ihren Lebensabend.
1894, eine kleine Prinzessin in Brüssel
Im weissen Spitzenkleid kniete Betty auf dem Boden inmitten der Spielsachen aus aller Welt: eine Automatendose mit vier Musikern, ein reich gefülltes Puppenhaus, Bälle, Plüschtiere und eine Miniaturkutsche aus Blech. Ihre dunklen Locken fielen ihr über die Schultern, eine weisse Schleife steckte über ihrer hohen Stirn. In einer Hand hielt Betty den ledernen Zügel eines geschnitzten Holzpferdes, dessen Mähne aus echtem Haar den Hals bedeckte. Vor ihr lagen Bilderbücher, neben ihr sass Fluffy, ihr kleiner Jagdhund.
«Bald ist es so weit, nur noch ein paar Mal schlafen, dann sind wir bei Ihren Cousinen in Paris», hörte sie ihre Gouvernante Rahel sagen, die stets bei ihr war, sie beobachtete und kontrollierte. «Baronesse, Sie sind bald bei Sybil, Antoinette und Marguerite.»
Betty nickte, wollte ein starkes Mädchen sein und hielt ihre Tränen zurück. «Niemand ist da, um mit mir zu spielen, liebes Pferdchen, lass uns ausreiten», flüsterte sie und zupfte am Zügel. Dann fragte sie ihre Gouvernante: «Oder kommt Claude bald wieder zurück, um mir vorzulesen?»
Rahel schüttelte den Kopf. «Der Lehrer unterrichtet noch Ihre ältere Schwester. Doch Baronesse Claude kommt bestimmt am Abend zu Ihnen.»
Betty hob die Puppe hoch, die auf ihrem Knie lag, drückte sie fest an sich und summte ihr ein Liedchen. Die mit Rüschen verzierte Haube lag am Boden. Betty hatte sie vom Kopf gelöst. Als sie draussen im Korridor Schritte hörte, hielt sie den Atem an. Dazu kraulte sie Fluffy den Kopf.
«Das ist Ihre Mutter», erklärte Rahel, als sie Bettys Unruhe bemerkte. «Freuen Sie sich. In Paris wird ein Fotograf euch vier Prinzessinnen ablichten.»
Rahel war eine der Dutzenden von Bediensteten, die als Gouvernante, Butler, Zofe, Chauffeur, Koch, Büglerin oder Wäscherin die ihnen zugeteilten Aufgaben erfüllten. Strenge Regeln wie am Hofe und wie für die Rothschild-Dynastie üblich bestimmten den Tag, die Erziehung und jeden Handgriff.
Bettys Eltern waren Léon Lambert aus Brüssel und Zoé Lucie Betty Baronesse de Rothschild aus Paris. Er war Banquier, Rothschild-Agent und Financier des belgischen Königs Leopold II. Zudem war Bettys Vater Präsident des Israelitischen Zentralkonsistoriums in Belgien und damit der ranghöchste Jude im Land – und hatte daher das höchste Amt in der Vertretung jüdischer Belange in Belgien inne. Bettys Mutter war die älteste Tochter von Gustave, mit vollem Namen Gustave Samuel Baron de Rothschild. Er war der mittlere Sohn von James, ihrem Urgrossvater. Mit 19 war James als Jakob und jüngster der fünf Söhne von Dynastiebegründer Mayer Amschel aus dem Frankfurter Ghetto nach Paris gekommen, verzichtete jedoch sein Leben lang auf die französische Staatsbürgerschaft.
Betty erhob sich, ging zu Rahel und legte ihren Kopf auf ihren Schoss. «Ich würde gerne mit anderen Kindern spielen. Wieso darf ich das nicht?»
Die Gouvernante fuhr mit der Hand über Bettys Wange und nahm die Bürste vom Frisiertisch, um ihr das dichte Haar zu kämmen.
«Darf ich heute, wenn Vater heimkommt, nur dieses eine Mal, mit ihm am Tisch essen? Nie ist er da, und Maman nimmt mich nie in den Arm.»
Rahel zupfte Bettys Röckchen gerade. «Vielleicht dürfen Sie der Baronin wieder einmal beim Malen zuschauen, ich werde ihre Zofe fragen.»
Folge 3
Gustave de Rothschild war seinem Schwiegersohn Léon Lambert ein väterlicher Freund. Gustave war es auch, der die Ehe mit Léon und seiner Tochter Lucie arrangiert hatte. Bettys Mutter war eine Künstlerin. Sie zeichnete und malte gekonnt Porträts. Täglich dirigierte Lucie, einer Unternehmerin gleich, eine Schar Bedienstete und erfüllte jegliche Pflichten einer Gastgeberin in Rothschild’scher Verschwiegenheit und Perfektion. Als sie Betty am 22. März 1894 zur Welt brachte, war sie einunddreissig und ihr Gatte Léon dreiundvierzig. Bettys Altersunterschied zu den älteren Geschwistern war gross. Ihre Schwester Claude war bereits zehn und Bruder Henri sieben.
Die Familie lebte in Brüssel in einem Stadtpalais, dessen Kauf Gustave ermöglicht hatte, mit geräumigen Zimmern, hohen Decken, langen Korridoren und Zimmerfluchten. An den Wänden hingen Gemälde und Kunstwerke, in den Bibliotheken reihte sich Buch an Buch. Schwere Sekretäre, flauschige Fauteuils und Antiquitäten aus aller Herren Ländern schmückten die Räume, die im Winter durch das Feuer im Kamin warmgehalten wurden. Stuckaturen verzierten die Decken, an denen riesige Kronleuchter hingen. Überall dekorierten Skulpturen, Porzellan und Blumen die Gemächer.
Im Stadtpalais befand sich zugleich Vaters Bank. Léon unterstützte König Leopold II. dabei, dem noch jungen Staat Belgien zu mehr Grösse zu verhelfen und dessen privaten Freistaat im Kongo zu errichten. Dafür hatte der König ihn 1896 in den Adelsstand erhoben, und Léon, wie viele der Männer in seinen Kreisen ein Freimaurer, erhielt den Titel eines Barons.
Betty sprang früh aus dem Bett. Am Abend zuvor waren sie aus Brüssel mit dem Zug angereist und mit der Kutsche, die von glänzenden Rappen gezogen wurde, durch die kalte Nacht zu Grossvaters Stadtpalais in der Pariser Innenstadt gefahren worden. Auf den Strassen lag Schnee, und Betty hatte sich vorgestellt, wie sie einen Schneemann bauen würde. Vor dem Einschlafen hatte Rahel ihr angekündigt, sie würde mit den Cousinen frühstücken. Nun wartete sie auf die Gouvernante, die sie ankleiden und mit ihr hinunter an den Tisch gehen würde. Als es klopfte, hüpfte Betty zur Tür.
«Bonjour, Baronesse», begrüsste Rahel sie.
Betty sah in ihrem Gesicht sofort, dass alles anders sein würde – wie so oft. Deshalb stemmte sie die Hände in ihre Hüften und sagte voller Stolz: «Ich habe meine Vorfreude gezügelt, Rahel. Die Cousinen werden bestimmt später eintreffen – oder nicht?»
Rahel kniete zu ihr hinunter, was sie sonst nie tat. «Baronesse», murmelte sie, und Betty wusste, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. «Ihre Tante, Baronin Juliette, ist gestern verunfallt. Deshalb werden Sie Antoinette und Marguerite, Ihre beiden Cousinen, erst in ein paar Tagen sehen. Nur Ihre Cousine Sybil wird beim Frühstück auf Sie warten.» Sybil war die Tochter von Aline, der älteren Schwester von Bettys Mutter, die in London lebte. Sybil war wie Betty drei Jahre alt. Bettys Tante Juliette starb an den Folgen des Sturzes.
Betty war ein lebhaftes Mädchen, quirlig, lustig, aufgeweckt, wild und fröhlich. Doch dies sollte ihr abgewöhnt werden. Prinzessinnen müssen jede Benimmregel strikt einhalten, hörte sie unentwegt. Niemals am Tisch die Ellbogen aufstützen, lachen oder sprechen – und schon gar nicht mit vollem Mund. Disziplin und Kontrolle waren oberstes Gebot. Sie, ein unbändiges, neugieriges Mädchen, durfte je länger, je weniger rennen oder gar reiten, sollte still sein, statt sich zu bewegen – das war für Betty schier unmöglich.
Von den Tätigkeiten des Vaters bekam sie wenig mit. Er war selten zu Hause, sondern oft für seine Geschäfte unterwegs. Als sie fünf Jahre alt war, durfte sie eines Tages mit ihren Geschwistern im Park von Tervuren anlässlich der Völkerschau drei kongolesische Dörfer mit echten Bewohnerinnen und Bewohnern anschauen gehen.
«Papa will, dass Claude und du den Besitz des Königs auf dem afrikanischen Kontinent kennenlernt. Deshalb gehen wir an die Weltausstellung am Rande der Stadt», sagte Henri und hiess Rahel, Betty für den Ausflug vorzubereiten.
Mit der Kutsche fuhren sie zusammen mit den Eltern und den Gouvernanten hin, stiegen aus und mischten sich unter die Menschenmenge.
«Diese Völkerschau ist modern und wichtig, um sich zu bilden», erzählte Henri, als sie vor einem der Dörfer und den fast unbekleideten Menschen stehen blieben. Betty staunte und wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Nie hatte sie andersfarbige Haut gesehen.
«Das sind echte Kongolesen, sogenannte ‹Wilde›, sagt Vater», erklärte Henri. «Papa hat mitgeholfen, diese Völkerschau für den König zu organisieren. Sie ist eine Attraktion dieser wichtigen Weltausstellung in unserer Stadt.» Zudem lasse Leopold II. derzeit ein königliches Museum für Zentral-Afrika und für Forschungen bauen. «Nächstes Jahr wird es eröffnet, und danach können wir Kunst aus dem Freistaat des Königs sehen.»
Betty wäre gerne wie andere Kinder gerannt. Sie langweilte sich. Bald brachte Rahel sie und Claude nach Hause, während Henri sich mit Vater, Mutter und anderen Leuten entfernte.
«Ich möchte bei ihnen bleiben», quengelte Betty. Doch als sie Rahels verengte Augen sah und eine Strafe fürchtete, liess sie sich in die Kutsche schieben.
Wie ihre Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern in Paris führte Bettys Mutter im Stadtpalais in Brüssel einen kosmopolitischen Salon, in dem sich Menschen aus nah und fern trafen. Zum Salon gehörte Lucies Galerie, in der sie eigene, aber ebenso Werke anderer Künstlerinnen und Künstlern ausstellte.
Folge 4
Wenn Mutter Besuch hatte, wäre Betty am liebsten dabei gewesen. Doch das war verboten, genauso wie das Mitessen am Tisch. Dabei hätte Betty gerne mit Claude und Henri gespiesen und den Gesprächen gelauscht. Doch alleine die Frage danach führte bei der Gouvernante zu einem Blick, der Bettys Hoffnungen sofort im Keim erstickte.
«Später, liebe Baronesse, wenn Sie älter sind», sagte diese jedes Mal.
Bettys Eltern sprachen Einladungen für Diners, literarische Treffen und Hauskonzerte aus. «Auch heute wird eine Gästeschar erwartet», kündigte Rahel Betty an, und sie wusste, dass sie isoliert bleiben würde. Manchmal schlich sich Betty auf den Korridor und kuschelte sich möglichst nahe der Tür zum grossen Salon auf einen Sessel. Sie liebte diese Atmosphäre. Aus ihrem Versteck beobachtete sie die Butler, roch den Tabak, hörte das Gekicher der behüteten Damen und ihre Gespräche über die neusten Modekreationen. Ihr war egal, dass die bärtigen Männer in ihren schwarzen Frackanzügen über Dinge sprachen, die sie nicht verstand. Sie fand es interessant, ihnen dabei verbotenerweise zuzuschauen, wenn sie im Fumoir Tabak schnupften und Zigarren schmauchten.
Wenn Betty die Schritte der Gouvernante näher kommen hörte, schlich sie sich wieder ins Zimmer. Vor allem aber fürchtete sie sich davor, dass ihre Mutter sie erwischen könnte. Nie vergass Betty das Bild, wie Mutter einmal mit hocherhobenem Rohrstock im Raum gestanden und mit der Gouvernante geschimpft hatte. «Ihr gehört eine Tracht Prügel.»
Sie fand die weitverzweigte internationale Verwandtschaft unüberschaubar riesig. Bei Familientreffen sass sie an langen Tischen inmitten ihrer Sippe. Manchmal konnte sie unter den gepflegten Damen in ihren üppigen Röcken nicht einmal mehr ihre eigene Mutter erkennen. Trotz oder gerade wegen des regen Treibens fühlte sich Betty oft verloren, einsam und nicht zugehörig.
Ständig reiste sie mit zu Verwandten und Freunden – von Brüssel nach London, nach Paris oder sonst wohin. So fuhr sie mit in die Schweizer Berge oder ans Meer, etwa nach Deauville, Biarritz und Knokke-le-Zoute. Manchmal war sie dabei, wenn Familienmitglieder Pferderennen und Polospiele besuchten, verfolgte die Jagd in Grossvaters Park oder besichtigte in den Gestüten der Verwandten die Fohlen. An hohen Feiertagen musste Betty zusammen mit den Geschwistern in die Synagoge.
Claude und Henri waren Bettys Vorbilder. In ihrer älteren Schwester sah sie gar eine mütterliche Vertraute.
Betty schlüpfte morgens manchmal zu Claude unter die warme Decke und schaute der Zofe zu, wie sie ihnen beiden das Frühstück auf dem Tablett servierte. Ihre grosse Schwester las gerne und brachte die Leute zum Lachen; insbesondere dann, wenn Mutter weit weg war. Betty liebte es, mit Claude im Bett zu verweilen, und stellte ihr wissbegierig Fragen. Eines Tages nahm Betty allen Mut zusammen und wollte von ihrer Schwester erfahren, weshalb Mutters Bauch kugelrund war. «Wie schlimm steht es um Maman?», fragte sie besorgt.
«Oh, das musst du sie selbst fragen», antwortete Claude zu ihrer Überraschung. Sonst wusste ihre Schwester stets eine Antwort. «Vielleicht hat der Koch den Teig zu lange stehen lassen, dass er Mutter zum Platzen bringt», sagte Claude mit weit geöffneten Augen und schmunzelte dazu. Betty erschreckte diese Vorstellung.
«Das war nur Spass», beruhigte Claude ihre Schwester. «Frag Rahel, dann klärt sich alles. Komm, lass uns jetzt frühstücken.»
Nur wenige Tage später eilte der Arzt ins Haus und brachte eine Frau mit. «Das ist eine Hebamme», versuchte Claude Betty verständlich zu machen und verschwand mit der Frau zu Mutter ins Zimmer.
Betty musste draussen bleiben und hörte Mutter stöhnen.
«Komm, wir gehen, das verstehst du mit deinen fünf noch nicht», sagte die Gouvernante und nahm sie bei der Hand. Betty hätte in ihrem Salon spielen sollen, doch sie war viel zu aufgeregt und zu irritiert und fragte sich ständig, was mit Mutter war.
Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, ging die Tür auf. Claude streckte ihren geröteten Kopf ins Zimmer und verkündete: «Wir haben ein Schwesterchen. Renée heisst es.»
Betty freute sich, durfte allerdings das Baby nur ab und zu mit ihrer Gouvernante besuchen. «Schau, wie süss», frohlockte die Amme ihrer kleinen Schwester, während sie Renée schaukelte und an ihrer Brust trinken liess.
Wegen des Altersunterschieds zu ihren Geschwistern war Betty nun noch mehr alleine und auf sich gestellt. Immer mehr erschuf sie sich ihre eigene Fantasiewelt, in die sie sich zurückzog. Sie lernte, ihre Gefühle hinter einer Maske und beherrschter Körperhaltung zu verstecken.
Ein Knall reisst Betty aus ihren Erinnerungen. Erschrocken setzt sie sich auf und schaut sich um. Doch sie hört nur die gewohnten Geräusche der Bediensteten. Den Boden, der unter ihren Tritten knarrt, das Gemurmel, wenn sie miteinander sprechen. Ein vertrauter Klangteppich. Büglerinnen und Wäscherinnen im Dachgeschoss, Gärtner im Park und vor der Loggia, der Chefkoch in der Küche, der Chauffeur und Gutsverwalter bei seinen Kontrollgängen.
Kritisch kontrolliert sie den roten Lack auf den Nägeln und ignoriert, dass das Rauchen gelbe Spuren auf ihren Fingern hinterlässt.
Folge 6
Noch immer liegt sie im Bett. Sie hasst es aufzustehen, wenn es im Zimmer kalt ist. Und ebenso, wenn sie auf Bedienstete warten muss. In solchen Momenten fahren ihre Gedanken Karussell und durch ihren Kopf jagen Schreckensgespinste, die das Altern seit Kurzem bei ihr auslöst: die Angst vor Demenz und Gebrechen. Oder die Befürchtung, dass ihre Nächsten dereinst ihrer Beerdigung fernbleiben und froh über ihr Ableben sein könnten. Betty konzentriert sich auf ihre bevorstehende Woche des Abschiednehmens. Es weckt in ihr Unbehagen. Ab morgen werden jeden Tag mehr Verwandte ins ‹Gwatt› reisen. Sie werden verdrängte Erinnerungen und ihre Abneigung gegen ihre Familie wachrufen. Sie weiss schon jetzt, dass die Enkelkinder sie ärgern werden, wenn sie unartig sind. Das erträgt sie kaum. In solchen Momenten fühlt sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt, als sie den unverhandelbaren Regeln ausgeliefert war und jeder Verstoss zur Folge hatte, dass sie gezüchtigt wurde. Ihre Enkelkinder indes müssen weder Strafen mit Worten noch mit harter Hand aushalten. Das findet sie falsch – und korrigiert diesen Missstand mit der ihr in der eigenen Kindheit anerzogenen Disziplin, Zucht und Ordnung. Zudem stört Betty, dass sie in ihren Enkelkindern die Welt ausserhalb ihres Universums erkennt und dass mit ihr dereinst dieser Zeitgeist und ihre Lebensgeschichte verschwinden werden.
Sie wendet sich unter der Decke zum Fenster hin und schaut Scrumpi zu, der im Kissen eingerollt wieder eingeschlafen ist und leise schnarcht. Sie seufzt.
«Edvige, Edviiiige!», ruft Betty nun ungeduldig ihre erste Kammerzofe herbei. Endlich hört sie das Stakkato ihrer Tritte lauter werden. Dann das kurze dreimalige Klopfen.
«Entrez!»
Scrumpi knurrt, doch seine Rute trommelt freudig.
«Bonjour, Madame la Baronne», sagt die Zofe, als sie durch die Doppeltür tritt, sich mit einem Knicks hinstellt und auf die Anweisungen des Tages wartet. Verspielt umrahmen die grau-braunen Locken das sonnige Gesicht der Italienerin, die wie üblich unter der weissen Spitzenschürze ein graues Kleid und auf dem Kopf die weisse Haube trägt.
«Bonjour, Edvige. Enfin!»
Nur Edvige, Joseph und der Chefkoch, den alle ‹Chef› nennen, dürfen in Bettys Anwesenheit in ihr Schlafgemach. Die drei sind es auch, welche als einzige aller Bediensteten mit ihr nach Genthod ziehen werden.
«Joseph wird gleich einfeuern und Ihnen das Früstück bringen.» Edvige lächelt verunsichert. «Ein strahlender Spätherbsttag. Merveilleux! Die Sonne hat den Schnee vom Samstag auf den Wiesen bereits geschmolzen!»
«Très bien. Sehr gut.»
Täglich bespricht Betty mit ihrer Zofe Kleider, Schmuck und Schuhe, bestellt Coiffeur, Schneider oder Masseur. Sie fordert von allen absolute Perfektion, stets taktvolles und unauffälliges Verhalten. Kein Wort im falschen Moment, kein Lächeln zu viel, keines zu wenig. Sie duldet kein Staubkörnchen, weder auf den Parfümflakons auf ihrem Frisiertisch noch sonst irgendwo im Haus. Die Seidenstrümpfe und die Schuhpaare gehören stets je in ein eigenes Säckchen zurück. Jeden Tag frische Bettlaken, für jede Aktivität die passenden Kleider.
Sie will endlich aufstehen. «Bereiten Sie mein Bad vor! Heute ist ein aussergewöhnlicher Tag.» Edvige macht einen Knicks.
«Um elf Uhr kommt der Friseur, um zwei Uhr trifft mein Besuch ein.» Betty wirft die Decke zurück. «Et puis, chère Edvige, schicken Sie mir bitte Joseph. Pour le petit déjeuner. Ich will frühstücken.»
Als sie sich umdreht und aus dem Raum geht, kündigt sie den Butler an und hält Joseph die Türen zum Schlafzimmer offen.
«Bonjour, Madame la Baronne! Was für ein wundervoller Tag heute.»
Betty lächelt und beobachtet den hochgewachsenen, schlanken Belgier mit Stirnglatze, der seinen Beruf des möglichst unsichtbar-lautlosen livrierten Dieners in weissen Handschuhen leidenschaftlich gerne zelebriert. Mit ausladender Bewegung positioniert er das Frühstück auf der Bettdecke.
Sie mustert das Tablett. Schwarztee, frisch gepresster Saft und hellbraune Toasts ohne Kruste. Geräucherter Lachs, sämiger Camembert aus der benachbarten Käserei, gepellte runde Tomätchen und frische Kräuter aus dem Garten. «Très bien, merci.»
Sie spricht mit ihren Bediensteten Französisch und will möglichst auch in ihrer Muttersprache angesprochen werden. Mit Gästen und Freunden wechselt Betty allerdings fliessend zwischen Französisch, Englisch und Deutsch. Italienisch und Spanisch versteht sie problemlos – mittlerweile gar den Schweizer Dialekt. Doch dessen rauen Klang verabscheut sie. Was hingegen kaum jemand mehr weiss: Betty hat als Kind auch Flämisch verstanden. Doch nur, wenn sie an ihre heimliche Jugendliebe denkt, erinnert sie sich an diese Sprache.
Kurz nachdem Joseph das Zimmer verlassen hat, hört Betty die melodiöse Stimme ihres Chefkochs aus Rom hinter der Tür. «Madame la Baronne?» Jeden Morgen erwartet sie seine gute Laune.
«Entrez!»
Mit Schwung tritt der ‹Chef› ins Schlafzimmer und bleibt mit dem Rücken zur Türe stehen. Wie immer sitzt die weisse Kochmütze leicht schräg. Die weisse Schürze hat er um seinen beleibten Körper geschnürt. «Bonjour, Madame la Baronne», begrüsst der nahezu zwei Meter grosse Italiener sie mit seinem Lächeln, welches die Lücken zwischen seinen zu klein geratenen Zähnen entblösst.
Sie nickt und beobachtet den Maestro, der fast gleich alt ist wie sie.
Folge 6
Wie jeden Tag geht sie mit dem Küchenchef Gäste, Speisepläne und Einkäufe durch. Gemüse und Salatblätter müssen klein sein, die Ware frisch, und von allem will sie nur das Beste. Nur das Beste ist gut genug, so hat Betty es gelernt, so erwartet sie es. Wichtig sind ihr zudem Süssspeisen und niemals isst sie Knoblauch oder Reste.
Der Maestro zückt das Notizbuch und setzt mit einem Augenzwinkern den Stift zum Schreiben an. «Madame la Baronne, was darf ich heute für Sie und Ihren Besuch auf die Teller zaubern?»
Sie geht hinüber ins Zimmer neben dem Bad, wo Edvige auf sie wartet. Betty fühlt sich müde, angespannt und aufgekratzt zu- gleich. Müde vom Leben, von den Menschen, die ihre Manieren vergessen, oft ungenau, schludrig und unzulänglich sind. Aufgekratzt, weil die kommenden Tage sie mit der Vergangenheit konfrontieren werden. Sie sehnt sich nach innerem Frieden und Aussöhnung und stellt sich ans Fenster. Ihr Blick wandert hin- über zu ihrem Park, dem sie das Kleid eines englischen Landschaftsgartens mit exotischen Bäumen gegeben hat. Langsam steigt die Sonne am Horizont des klaren Herbsthimmels. Die wärmenden Strahlen verdrängen den Morgennebel und geben die Sicht über den See und bis zu den Bergen frei.
Betty schaut nach links hinunter zum Gebäude, wo über den Garagen mit ihren Limousinen ihr Gutsverwalter und Chauffeur Max Wucher und seine Frau wohnen. Max, ein Flugzeugmechaniker, den ihr Ferdinand 1936 vermittelt hat, reinigt die Weisswandpneus. Sie sieht ihn zwar nicht, doch sie hört sein Summen und den Schwamm, wenn er diesen ins Wasser im Kübel eintaucht. Ihr gehen die Worte von Mutter durch den Kopf: «Vergiss nie: Sie sind die Dienstboten, und wir sind wir.»
Im graublauen Deux-Pièces und mit der silbernen Perlenkette um den Hals geht Betty hinaus in den Korridor. Seidene Strümpfe schmeicheln den schmalen Fesseln und Beinen, der eng anliegende Rock betont die schlanke Figur. Sie steigt die geschwungene Treppe hinunter. Jeder Tritt trifft die Mitte des roten Teppichläufers auf den Stufen. Dazu gleiten ihre langen Finger über das schmiedeeiserne Geländer, bis ihre Füsse in den ledernen Salvatore-Ferragamo-Ballerinas auf dem Marmorboden im Vestibül aufsetzen. Sie saugt den Duft des pastellfarbenen Strausses aus exotischen Blumen ein, die ihr Gärtner für sie züchtet. Die Vase steht auf dem Tisch neben ihrem Gästebuch, das in gelbes Leder gebunden ist. In jedem Moment und in jeder Bewegung dieser Tage steckt ein Hauch des letzten Mals.
Sie lässt sich von Joseph in den Mantel helfen. Ihr morgendlicher Spaziergang über den Rundweg im Park ist Tradition. Der Dose auf dem Tisch entnimmt sie eine lange dünne Vogue und das Mundstück. Als der Butler ihr das Hauptportal öffnet, rennt Scrumpi an ihr vorbei ins Freie. Der kurzbeinige Hund ist einer von vielen, die stets mit Betty gelebt haben, manchmal waren es drei und mehr Tiere gleichzeitig. Pudel, deutsche oder belgische Schäferhunde und vor allem Welsh-Gorgis.
Im Peristyl stellt sich Betty zwischen die Säulen. Tief zieht sie den blauen Rauch ein. Die majestätische Aussicht, die sich ihr von dieser Stelle aus zum Park und über den Kanal bietet und am Horizont mit dem Oberländer Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau endet, dürfte ihr am meisten fehlen. Wenn die Türen in der Villa beidseitig geöffnet sind – im Vestibül und auf der hinteren Seite im Gartensaal –, erstreckt sich von der westseitigen Allee bis zum Kanalende eine monumentale direkte Linie von 550 Metern Länge.
Zielstrebig geht sie über den Kies im Ehrenhof, den ‹Cour d’Honneur› im Osten des Herrengebäudes. Scrumpi bei Fuss hält sie kurz auf dem Gehsteig, überquert die Hauptstrasse und betritt den Park. Das Sonnenlicht spiegelt sich in der Sonnenbrille, von denen Betty Dutzende besitzt und die sie bereits getragen hat, als im Dörfchen noch kaum jemand wusste, dass es so etwas überhaupt gibt.
1904 zog Claude nach Paris. Betty war zehn Jahre alt, als Vater die Ehe zwischen ihrer älteren Schwester und dem Banquier Jean Stern in Paris arrangierte. Claude heiratete in der Synagoge in Brüssel am 8. März 1904 und zog danach in die Metropole der Mutter.
Betty stand inmitten ihrer Cousinen in der Synagoge und wimmerte leise, was wegen der lauten Männerstimmen ohnehin niemand hörte. Wie würde Betty in Brüssel ohne ihre Schwester zurechtkommen. Niemand kümmerte sich an der Feier um Betty. Sie sah Claude und beobachtete sie unter der Chuppa, dem Traubaldachin. Sie feierte und sang mit, doch ihr war nicht zum Lachen zumute.
Der Abschied von Claude war für Betty einschneidend, was sie mit jedem Tag mehr und mehr realisierte. Sie hatte ihre zehn Jahre ältere Schwester verloren und blieb in Brüssel zwischen ihrer fünfjährigen Schwester Renée und dem siebzehnjährigen Bruder Henri verloren zurück. Nichts vermochte sie zu trösten, auch nicht Claudes Brautstrauss, den sie nach dem Fest behalten durfte. 16 Monate später brachte Claude in Paris ihre Tochter Simone zur Welt.
Ohne Claude, die ihr die Verwandten jeweils einzuordnen half, fehlte Betty der Überblick über die Familienverbände. Sie konnte sich kaum alle Namen und Zugehörigkeiten merken. Der Druck daheim, sich von der kindlichen Prinzessin zur erhabenen Baronin zu entwickeln, langweilte sie. Lieber wäre sie unbeschwert und übermütig geblieben, statt im Gefängnis der eisernen und jüdischen Erziehung und des umfangreichen Unterrichts in den eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein. Sie gehorchte zwar artig, begann jedoch, sich immer mehr zu verschliessen. Sie versteckte sich hinter den Büchern und dem Lernen.
Folge 7
Sie las, lernte und liess sich belehren. Sie spielte Instrumente, obwohl es ihr keine Freude bereitete. Doch je mehr sie versuchte, ihren Vater zu beeindrucken, desto mehr ignorierte er sie, fand Betty. Nie gab sie allerdings die Hoffnung auf, dass er sie eines Tages loben und sie wie Henri mit ausser Haus nehmen würde, um ihr zu zeigen, was er tagein, tagaus tat. Der Drill war der Tradition geschuldet, wie eine Rothschild-Tochter zu sein hatte: beharrlich und neugierig bleiben, hart arbeiten, Spitzenleistungen anstreben, die Welt zu einem besseren Ort machen. Die besten Manieren waren höchstens gerade gut genug: die passende Kleidung, die treffenden Worte, die richtige Hunderasse, das stilgerechte Vokabular. Alles musste korrekt und perfekt sein. Gefühle zu zeigen, gehörte sich nicht, Diskretion war Ehrensache. Benehmen und Manieren sollten die Familie von den übrigen Gesellschaftskreisen abheben. Umso mehr empfand es Betty als ungerecht, dass ihre fünf Jahre jüngere Schwester Renée, das Nesthäkchen, einer weitaus weniger rigorosen Erziehung folgen musste.
Zwar bekamen Söhne und Töchter eine gleichwertige Ausbildung, doch der Herr des Hauses musste in den Mittelpunkt gestellt werden. Betty lernte: Den Männern gehörten Glanz und Bühne, das erste und letzte Wort. Eine Frau hatte den Mann glücklich zu machen.
Um eine gewinnbringende Verheiratung generationenübergreifend zu sichern, sorgten die Eltern für die edelste Schulung des Verhaltenskodex ihres Standes. Sie umfasste das Wissen um höfisch-royale Zeremonielle, gesellschaftliche Bräuche und ungeschriebene Konventionen sowie jegliche Rang- und Tisch- ordnungen auf jedem Parkett, ob jene des Hochadels, des Kaisers oder der Diplomatie.
Nur selten durfte Betty das Haus verlassen – und nie ohne Begleitung. Gerne hätte sie ihre langen Haare offen getragen, sich mehr draussen im Park und unter Leuten aufgehalten. Ihre unbändige Lebenslust passte ihrer Mutter nie. Die Baronin kümmerte es nicht, dass sich ihre nun älteste Tochter des Hauses alleine fühlte. Ihr manchmal eisiger feindseliger Blick liess die Gouvernanten Betty mit standesgemäss disziplinarischer Hand erziehen und die polyglotte Bildung kontrollieren. Wenn Mutter etwas nicht passte, züchtigte sie Betty, stellte sie bloss oder bestrafte sie, selbst vor allen am Tisch, an dem sie nun als ältere Tochter hin und wieder wie die Erwachsenen essen durfte. Manches Mal hob Mutter sogar den Stock drohend in die Luft. Betty fürchtete sich vor ihr.
Eines Tages, als Betty den Eindruck hatte, ihre Mutter sei gut gestimmt, wagte sie sich, sie um Hilfe zu bitten. «Maman, würden Sie bei passender Gelegenheit Vater fragen, ob ich ihn ab und zu begleiten dürfte und er mich wie Henri in das Bankenwesen einführen würde?»
Sie bereute ihre Frage sogleich, denn Mutter schimpfte mit ihr, wie sie es noch nie getan hatte. Ihre Stimme tönte wie Peitschenhiebe.
«Wie immer», keifte sie, «zeigst du weder Manieren noch Respekt. Nie wirst du eine richtige Baronin, die weiss, was sich gehört. Es wird Zeit, dass ich dafür sorge, dass du an den richtigen Platz kommst. Dein scharfer Verstand und dein logisches systematisches Denken sind deine Feinde.»
Betty zitterte am ganzen Leib und verkrampfte sich zu einer steifen Statue.
«Ja, ich werde mit Vater reden, aber anders, als du es dir vorstellst», beendete Mutter das Gespräch, nun ruhiger, und befahl der Gouvernante, Betty ins Zimmer zu bringen.
Jegliches Missachten der ungeschriebenen Regeln wurde zurechtgewiesen. Jedes Wort musste Betty mit Bedacht wählen, über Probleme oder Gefühle zu sprechen, war undenkbar. Sie lernte, sich stets zu kontrollieren. Niemals durfte sie im Sitzen die Beine übereinanderschlagen. Jeder Schicksalsschlag musste erhobenen Hauptes ertragen werden und das Äusserliche hundertprozentig stimmen. Niemals durfte sie weder bei sich noch bei anderen Menschen eine Unvollkommenheit tolerieren.
Besondere Tage für Betty waren, wenn Tante Aline, Mutters Schwester aus London, und deren Tochter Sybil zu Besuch waren oder Betty gleichzeitig mit ihnen in Paris bei ihren Grosseltern Cécile und Gustave weilte. Da Alines Mann, Sir Albert Abdullah David Sassoon, politisch und geschäftlich weitum engagiert war, reiste Bettys Tante oft ohne ihn. Aline nahm Betty gerne mal in die Arme, las ihr vor, erzählte ihr von sich und ihren Abenteuern; etwa jenen, in denen sie die Frauen und ihre Rechte zu stärken half. Aline war im Gegensatz zu ihrer Mutter modern, was Betty sehr imponierte; sie war für Betty das Vorbild einer rebellisch-kämpferischen und unabhängigen Frau. Betty wollte so werden wie sie.
Doch ihre Eltern setzten auf eine traditionelle universitäre Bildung. Auch das Zedaka-Gebot, eine uralte jüdische Tradition der religionsgesetzlich verankerten sozialen Mildtätigkeit, war zentral, gleichsam Kunst und Musik. Die exklusivsten Lehrer unterrichteten Betty als Heranwachsende im Stadtpalais in Mathematik, Französisch und Englisch in Wort und Schrift; ebenso in den Themen Wirtschaft, Geografie und Politik. Pflichtstoff waren weiterhin Völkerkunde und -recht, Geschichte und Allgemeinwissen, Literatur, die jüdische Religion und jüdische Traditionen.
Obwohl sie musisch wenig talentiert war, lernte sie weiterhin Cembalo, Geige und Harfe spielen und bekam Unterricht in klassischer Musik. Immer mehr fragte sie sich, was eigentlich ihre Aufgabe sein würde und wofür sie da sei, wenn sie nicht wie Henri in der väterlichen Bank und in Geschäften tätig sein dürfte.
Folge 8
Stattdessen musste sie werden, was sich für eine Dame des Hauses ziert: manierlich, grazil und humorvoll, eine perfekte Gastgeberin. Häkeln, musizieren, malen und lesen galt als standeswürdig, dagegen kam kochen oder haushalten niemals in Frage. Betty verinnerlichte das Einmaleins einer brillanten Hausherrin. Sie lernte die Qualitäten, die es braucht, um Bedienstete anzuleiten und einen kulturellen Salon zu führen, der dem Geistigen und Musischen gleichermassen diente wie der Politik und der Macht.
Einem Beruf gleich studierte Betty ein, was dies hiess: liebenswürdig und fähig sein, sich für alle zu interessieren, den Anwesenden die volle Aufmerksamkeit zu schenken, verschiedenartige, aber sich Verstehende zusammenzubringen und die Anwesenden geistig anzuregen. Es galt, die Geschichten der Gäste zu memorieren und mit Humor eigene einzubringen, Gespräche im Fluss zu halten und die psychologische Seite der Politik zu beherrschen. Lehrer befähigten Betty darin, Beziehungen zu knüpfen, um einen ausserordentlich intelligenten und weltbewegenden Einfluss auf die Ereignisse zu erwirken.
Dies alles bezweckte letztlich, dem Mann jene Welt zu schaffen, die er sich wünscht und ihm und seinen Geschäften dient. Die Mädchen mussten perfekte Frauen und ausserdem gesunde starke Mütter werden – von möglichst männlichen Stammhaltern.
Zurück vom Spaziergang mit Scrumpi im Park betritt Betty die Loggia, wo die Sonne sie durch den Mantelstoff hindurch wärmt. Die gedeckte Terrasse an der Südfassade der Herrschaftsvilla ist einer ihrer Lieblingsorte und ein Knotenpunkt beim Kommen, Gehen und Verweilen.
In den letzten 39 Jahren, in denen ihr das ‹Gwatt› gehört, treffen sich in den wärmeren Monaten in der Loggia oder im Garten, umgeben von Clematis und Rosen, Freunde und Verwandte von überallher. Meistens blieben sie für ein paar Stunden, manchmal blieben sie mehrere Tage und übernachteten bei ihr. Oft war den Gästen ein Leben im Exil gemein: die diplomatische Welt oder ihre Wurzeln aus hochadligem Hause. Betty legte Wert auf das standesgemässe Benehmen und die nötige Bildung. Nationalität, Religion oder sexuelle Ausrichtung eines Menschen spielten für sie hingegen keine Rolle. Ebenso wenig liess sie sich beeindrucken, wenn rassisch oder politisch Verfolgte bei ihr zu Gast waren.
Bei Betty trafen sich Prinzessinnen, Grafen und Künstler genauso wie Diplomaten, Flüchtlinge, und Judenretter oder US-Geheimdienstoffiziere, Wimbledon-Tennisspielerinnen und Autorennfahrer. Vom französischen Maler Marc Chagall über die schwedisch-amerikanische Leinwandlegende Greta Garbo und den deutschen Schriftsteller Carl Zuckmayer, vom georgisch-russischen Pianisten Nikita Magaloff über die Fürstin Elsa von Liechtenstein zum monegassischen Fürst Rainier, vom deutschen Widerständler Alexander von Stauffenberg bis zum US-amerikanischen Geheimdienstchef Allen Welsh Dulles – alle waren sie bei ihr zu Gast.
Sie hat die Signaturen im Gästebuch nie gezählt, jedoch die Seiten: 146. Sie weiss, pro Seite stehen zwischen drei und über zwanzig Unterschriften, was rechnerisch eine Zahl von insgesamt rund 1200 Personen ergibt. Einige Namen kommen zwar mehrmals vor, doch etliche Anwesende haben sich im Gästebuch nie verewigt. Ihr Gästebuch von 1922 bis 1936 hat sie längst im Feuer verbrannt, wie sie dies mit anderen wichtigen Dingen bereits ein Leben lang tut.
Claude wird Betty nicht mehr im ‹Gwatt› besuchen. Ihre ältere Schwester aus Paris hat letztmals vor zwei Jahren in einem der Korbstühle in der Loggia gesessen. «Meine Knochen sind jetzt zu alt und zu brüchig», sagte sie Betty beim Abschied. «Mir sind die Pferderennbahnen und meine Hunde und Pferde wichtiger als dein Paradies am See.» Betty wird deshalb im Winter zu Claude reisen. Betty war einsam und schrieb Gedichte.
Die Trennung von Claude katapultierte Betty rasch vom Mädchen zur heranwachsenden jungen Frau. Zunächst träumte sie noch davon, eines Tages die schönste Braut und eine glückliche Mutter von vielen Söhnen zu sein. Doch je mehr sie in Paris Claude mit Tochter Simone und daheim in Brüssel die Gouvernanten und das Nesthäkchen Renée beobachtete, desto verunsicherter wurde sie. Keinesfalls wollte sie Renée ein Mutterersatz sein, wie es Claude für sie selbst gewesen war – und sie begann zu zweifeln, ob sie überhaupt fähig wäre, jemals Mutter zu sein.
Sie versuchte, artig und folgsam zu sein und bei den jüdischen Feiertagen fröhlich zu wirken. Vater predigte stets die Wichtigkeit von Religion und Vaterland. Betty wollte ihm gefallen und rang um seine Aufmerksamkeit.
In dieser Zeit stürzte Henri in der Avenue Louise vom Pferd und verletzte sich schwer. Er erholte sich nur langsam. Nachdem er halbwegs genesen war, begab er sich auf seine ersten weiten Reisen und Abenteuer, über die er Reportagen in Vaters Magazinen verfasste und mit Fotos anreicherte.
Ihr Bruder war der einzige Stammhalter und daher der Liebling der Eltern. Den Söhnen gehörte die Welt ausserhalb des Hauses. Sie erbten mehr als die Töchter. Den Buben war alles gestattet, solange es den Traditionen und ihrer Rolle entsprach. Die Töchter durften beziehungsweise mussten in den Familiengeschäften im Hintergrund mitwirken und hatten ebenfalls zum Erfolg der Familie beizutragen. So hatte es der Dynastiebegründer, Bettys Ururgrossvater Mayer Amschel Rothschild, in seinem Testament festgelegt.
Folge 9
An diesem Rollenbild stiess sich Betty zunehmend. Frauen hatten zwar eine mit den Männern vergleichbar universitäre Bildung, besassen jedoch keine Rechte. Zudem endete der Eintrag im Rothschild-Stammbaum von Töchtern und deren Nachkommen mit der Verheiratung.
Betty beneidete und bewunderte Henri. Ihr Bruder konnte die Welt entdecken, Grosswild in Afrika jagen, der Tradition entsprechend Banquier werden und Geld verwalten, vermehren und zum Wohle der Gemeinschaft nutzen. Je öfter Henri unterwegs war, desto mehr verschlechterte sich Bettys Gemütslage. Während sie sich für Zahlen und Finanzgeschäfte interessierte und ihren Vater mit ihrem Können und ihrem Talent vergebens zu beeindrucken versuchte, entzog sich Henri geschickt Vaters Forderungen.
Einmal, als sie mit Henri im königlichen Park gegenüber spazieren gehen durfte, fragte sie ihn um Rat. «Ich möchte ein Junge sein, damit ich darf, was du tust. Bitte, nimm mich doch mit auf deine Reisen und lege bei Vater ein gutes Wort für mich ein, damit er mich wenigstens beachtet.»
Henri schüttelte den Kopf. «Ma petite Betty, was du willst, ist unmöglich. Eine Frau hat ihren Platz, wie der Mann den seinen. Du darfst niemals eine Rothschild-Banquière sein.» Sie drehte sich wütend ab. Trotzig murmelte sie: «Und du wirst niemals jener grossartige Banquier sein, der ich wäre, du bist schwach und stehst niemals deinen Mann.» Sie fühlte die Hand ihres Bruders auf ihrer Schulter.
«Ich wünschte», hörte sie sein Flüstern in ihrem Nacken, «du könntest an meiner Stelle sein. Ich bin so unfrei wie du und muss Vaters Erwartungen erfüllen – und kann genauso wenig wie du eigene Träume leben.»
Niemand schien es zu bewegen, wie schwer es ihr fiel, dass sie daheim bleiben musste, als Henri 1909 – er war zweiundzwanzig und sie fünfzehn – für sieben Monate auf Reisen gehen durfte. Er weilte in Indien, China, Japan, Südafrika und BelgischKongo. Betty, die Baronesse im goldenen Käfig, pubertierend und voller Abenteuerlust, musste zu Hause bleiben und lernen, eine perfekte Frau ihres Standes und Vertreterin der fünften Generation ihrer Dynastie zu werden. Niemand kümmerte es weiter, dass sie in ihrem Bett nächtelang um den Tod ihrer 46-jährigen Lieblingstante Aline im Juli desselben Jahres weinte.
Während eines Besuches 1910 in Paris bestellte Grossvater Gustave für ein Familienbild einen Fotografen zu sich. Alle mussten sich entsprechend der Familienhierarchie positionieren: Geschwister, Eltern und Grosseltern, Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins. Alle erhielten einen Abzug.
Betty fühlte sich wohl in Paris, wo ihr Grossvater mit Grossmutter Cécile im Stadtpalais an der Avenue de Marigny einen Salon führte. In seinem Schloss Ferrières, das sein Vater James etwas ausserhalb der Metropole erbaut hatte, hielten sie sich seltener auf.
Wenn Grossvater Gäste hatte, versteckte sich Betty – wie bei sich zu Hause – und versuchte, die Männer zu belauschen. Einmal hörte sie, wie Gustave den Gästen erklärte: «Wir Rothschilds engagieren uns für eine humanistische Welt und verdienen stilvoll unser Geld.» Oft zitierte er ihren Urgrossvater James mit Sätzen wie: «Wir führen keinen Krieg, sondern können den Frieden erhalten. Als unsere Pflicht erachten wir es zudem, Künstlern, Notleidenden und den Ärmsten zu helfen und Geld für den Bau von Synagogen, Spitälern oder Opernhäusern zu geben.»
Zwar waren die intimen Momente selten, in denen Grossvater ihr von seinem einflussreichen Vater James Baron de Rothschild erzählte und sie sich vergangene Zeiten ausmalen konnte. Doch sie liebte sie. «Mein Vater hatte einen klaren Tagesablauf: Von sechs bis halb acht liess er sich im Bett Zeitungen vorlesen. Danach frühstückte er, empfing die Sekretäre, erledigte die Geschäfts- und einen Teil seiner privaten Korrespondenz. Von halb zehn bis etwa elf empfing er die Kunst- und Raritätenhändler. Um elf begab er sich ins Büro, beriet die Wechselagenten und um ein Uhr kam er zum Essen heim.» Betty klebte jeweils an Grossvaters Lippen. «Dein Urgrossvater hat Anfeindungen in der Gesellschaft gegen Juden oder Intrigen gegen ihn oder die Dynastie überhört, so etwa, wenn er und seine Brüder zum Beispiel als ‹Banquiers der Könige› beschimpft worden sind», klangen seine Worte stets in ihren Ohren nach.
Betty kannte den weiteren Tagesablauf ihres Urgrossvaters James in- und auswendig. Um drei Uhr folgte die Wagenpromenade, danach schrieb er seine privaten Briefe zu Ende und signierte die Geschäftskorrespondenz. Um fünf Uhr ging er für eine Partie Whist in den Jockey-Klub, um sieben dinierte er, anschliessend besuchte er meist ein Theater.
Auch die Dynastiegeschichte mit ihren Begründern Mayer Amschel – bis 1802 Meyer Amschel – und Gutle Schnapper und deren fünf Töchtern und fünf Söhnen, den ‹fünf Frankfurtern›, kannte sie. Ihre Urgrossmutter, Gustaves Mutter, hiess wie sie: Betty. Sie war die Tochter von Salomon und wurde mit ihrem Onkel James verheiratet. Salomon war der zweitälteste und 18 Jahre älter als sein jüngster Bruder James. Die ‹fünf Frankfurter› führten ab 1812 je ihre Bankfilialen in Frankfurt am Main, London, Paris und bald sogar in Wien und in Neapel. James hatte die französische Linie begründet, Salomon die österreichische Linie.
Folge 10
Wenn Betty in Paris weilte und ihren Grossvater sah, erzählte er ihr ab und zu von ihrer Urgrossmutter. «Sie war die Freundin von Frankreichs Kaiserin Marie-Amélie. Deine Urgrossmutter war eine wunderschöne Frau», erwähnte er meistens gleich zu Beginn. «Der Maler Jean-Auguste-Dominique Ingres verewigte sie 1848 sogar in einem Porträt in Öl, und Heinrich Heine widmete ihr sein Gedicht ‹Der Engel›.»
Von ihrem Grossvater Gustave wusste Betty, dass er einst das Collège Royal de Bourbon – die königliche Schule der Bourbonen – auf der Insel La Réunion im Indischen Ozean besucht hatte. In das Bankgeschäft hatten ihn sein Vater James in Paris und sein Onkel Amschel Mayer, der älteste Sohn des Dynastiebegründers, in Frankfurt eingeführt. Gustave übernahm mit seinem Bruder Alphonse von James die Rothschild-Bank in Paris. Dort arbeitete er, der mittlerweile das Consistoire israélite in Paris präsidierte, eng mit Bettys Vater Léon zusammen, der als Rothschild-Agent tätig war und sich deshalb oft in Paris aufhielt.
In Brüssel fühlte sich Betty 1911 mit ihren bald siebzehn Jahren mehr als unterfordert. Sie war eingesperrt und malte sich ihre eigene abenteuerliche Zukunft als Erwachsene aus. Henri studierte an der École de Commerce Solvay, und sie schrieben sich oft.
Um womöglich doch noch zu ihrem Ziel zur Berufung zu kommen, trieb Betty sich mit jedem weiteren Jahr zu Bestleistungen. Sie wollte ihrem Vater beweisen, dass in ihr das Blut einer ambitionierten Rothschild-Banquière floss und ihr Herz für die Finanzgeschäfte schlug – jedoch vergeblich. Ihr blieb das Arbeiten verboten; wie die anderen Frauen in ihrer Zeit hatte sie keine Wahl. Jeder Effort blieb ungesehen. Enttäuscht gab sie sich mit jedem Tag launischer.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich damit zu trösten, dass sich ihr mittlerweile 24-jähriger Bruder, die musische Künstlerseele, ebenfalls seinem Schicksal beugen musste und gegen seinen Willen dereinst Banquier zu sein hatte. Vater führte weiterhin einzig ihn in die Bankenwelt ein und ignorierte, dass dieser wie sie unter den starren Traditionen litt.
Ihrem Vater missfiel mehr und mehr, dass sie in Mathematik und Sprachen begabter war als ihr Bruder. Einmal hörte sie ihn sogar über Henri lästern, er tauge zu nichts. Manchmal, wenn sie wach im Bett lag, hatte sie das Gefühl, dass er sich vielleicht so abweisend ihr gegenüber verhielt, weil er befürchtete, sie wolle ihm oder seinem Sohn den Platz streitig machen.
Betty deponierte ihre Ängste und Wünsche hinter ihrem Panzer. Je länger sie sich isoliert, unverstanden und einsam fühlte, desto mehr tröstete sie sich im Schreiben von Gedichten und Tagebüchern. Sie liebte die Poesie, das Reimen und die leisen Worte. Sie suchte die sprachliche Perfektion. In verzweifelten Stunden verwandelte sie das Papier in ihre Klagemauer. Ihre Zeilen warf sie jedoch stets in den Kamin, zurück blieben einzig ihre Gedanken, wie in einem Tresor gefangen. Ein Tresor, der einem Block gleich, zwei Welten voneinander trennte: eine Innenwelt, deren Zugang der Aussenwelt verwehrt blieb – und umgekehrt.
Ihr fiel auf, dass ihr Vater belasteter und absorbierter als üblich wirkte. Eines Tages hörte sie Mutter einer Freundin klagen: «Als höchster Jude warten stets wichtige Aufgaben im Lande auf ihn. Léon ist die jüdische Autorität bei königlichen Empfängen, ist besorgt um die Zukunft der Juden in Belgien – und die Leute suchen bei ihm als Repräsentanten der jüdischen Gemeinde Rat. Aber: Vor allem die Aktivitäten der Rothschilds wie auch des belgischen Königs fordern Léon zu viel ab. Der Freistaat Kongo ist siebzig bis achtzig Mal grösser als unser junger Staat, und Leopold II. ist masslos ungeduldig und fordernd.» Von den dortigen Ressourcen wolle Leopold II. alles finanzieren, um sein Land zu entwickeln und zu vergrössern.
Immer mehr fragte sich Betty, was ihr die Zukunft bringen und wohin sie sie führen würde. Sie sehnte sich danach, nach Paris zu ziehen. «Ich bin fast erwachsen! Lass mich bei Claude leben», flehte sie ihre Mutter an. Doch je aufmüpfiger sie wurde, desto enger schnürte ihr die Mutter das Korsett.
Betty sitzt im Fumoir an ihrem Sekretär, einem schwarzen Napoleon III., mit filigranen Intarsien und Messing verziert, und sortiert Unterlagen. Sie legt jene beiseite, die sie nicht nach Genthod nehmen, sondern verbrennen will. Hinter ihr knistert das Kaminfeuer. Sie versucht sich zu erinnern, wo sie das silberne Amulett mit dem Herzanhänger versteckt haben könnte. Hubert hatte ihr das Erbstück seiner Grossmutter vor Bettys Abreise nach Frankfurt geschenkt.
Mit Wehmut schwelgt sie in alten Gefühlen zu dem Sohn eines der Chauffeure ihrer Mutter. «Ihm konnte ich alles anvertrauen. Er verstand mich und hörte mir zu. Mit ihm konnte ich lachen. Zum Glück hat Mutter unser Geheimnis nie entdeckt», denkt sie. Ob ihre Eltern sie mit 17 deswegen in ein anderes Land verheiratet haben? Sie schüttelt den Kopf. Absurd! Wollten doch, wie Mutter stets betonte, Vater und Grossvater Gustave durch ihre Heirat mit Rudolf, einem Cousin dritten Grades, die Wurzeln zum Herkunftsort der Dynastie stärken.
Bettys heimliche Jugendliebe Hubert
Bettys Zukunft entwickelte sich in eine andere, sozusagen entgegengesetzte Richtung, als sie gewollt hätte. Statt zu reisen wie Henri oder unbefangen wie Nesthäkchen Renée zu sein, vergrub Betty ihre Lebensfreude und Neugierde folgsam im Palais. Die Zofen bürsteten ihr die Haare, liessen das Bad für sie ein, bekleideten sie. Die Bediensteten kochten für sie, wuschen alles und erledigten auch ungebeten jeden Handgriff.
Folge 11
«Freiheit ist nichts für Sie, Baronesse», erstickte ihre Zofe mit stets hocherhobenem Zeigefinger im Keim ihren jugendlichen Wunsch auf ein selbstbestimmtes Leben. «Auch Sie sind der Dynastie, den Männern, den Umgangsformen, den Traditionen und der Gesellschaft verpflichtet und müssen sich Ihrem Stand würdig erweisen», bläuten die Gouvernante und die Lehrer ihr sogar in dunkelsten Stunden der Verzweiflung ein. «Ihre Aufgabe wird es sein, sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern und dabei allen religiösen und philosophischen Traditionen gegenüber offenzubleiben.»
Was Betty für sich als das Beste erachtete, interessierte niemanden. Am wenigsten ihre Mutter. «Die jüdische Tradition und unser Reichtum diktieren unsere Pflichten. Du hast wie wir alle deine Verantwortung zu tragen.»
Mit der Zeit fügte Betty sich in ihr Schicksal, kontrollierte jede ihrer Bewegungen und jedes ihrer Worte. Schier unmerklich, aber je länger, desto stärker unterdrückte sie ihre Gefühle.
Zu ihrem geheimen Verbündeten wurde Hubert, der selbst kaum zwanzig war und sie mit seinem Humor, seiner Ausstrahlung und dem flämisch-französischen Akzent beeindruckte und für sich gewann.
Er war Betty vom ersten Augenblick an aufgefallen, als er von seinem Vater erst hin und wieder mit zur Arbeit genommen und dann von den Bediensteten als Butler angelernt wurde. Er war zwei, drei Jahre älter als sie, sie schätzte ihn auf siebzehn, wirkte präsent, sportlich und vergnüglich. Stets umspielte ein schelmisches Lächeln seinen Mund, wenn er am Tisch bediente oder Gästen in den Mantel half. Immer, wenn er ihr Essen hinstellte und seine weissen Handschuhe aufblitzten, strömte eine nervöse Freude durch ihren Körper. Sie liebte es, ihn zu beobachten, wie er elegant und stilsicher jede Bewegung beherrschte.
Magisch zogen sich ihre Augen gegenseitig an. Manchmal lauerte sie ihm im langen Gang auf, um ihn beim Vorbeigehen zu erschrecken. Vor allem waren ihre Gedanken bei ihm, wenn sie allein im Bett lag oder ihren Körper vor dem Spiegel drehte und feststellte, dass er sich veränderte. «Mädchenträume», zog ihre Gouvernante sie manchmal auf, wenn sie sie dabei ertappte.
«Sind Sie etwa verliebt? Sie wissen, Baronesse, Ihre Zukunft liegt in den Händen Ihres Vaters und Ihrer Mutter. Sie werden die Wahl treffen.» Einmal war Hubert ihr in den gegenüber liegenden Park des Königs gefolgt, als sie mit Renée spazieren ging. Es war das erste Mal, dass sie miteinander ein paar Worte wechselten. Betty hatte sich umgesehen und gehofft, dass weder ihre kleine Schwester noch die Gouvernante sie verraten würden. Von diesem Moment an fand Betty nach dem Wegzug von Claude erstmals wieder einen Menschen, von dem sie sich verstanden fühlte und dem sie ihre Gedanken anvertrauen konnte. Selten gelang es ihr danach, die Gouvernante oder ihre Kammerzofe erneut als Verbündete zu gewinnen, damit sie sich davonschleichen und sich mit Hubert im Park treffen konnte.
An einem anderen Tag wartete Hubert hinter der ersten Weggabelung mit zwei Fahrrädern auf sie. Er strahlte, schalkhaft und verlegen zugleich. Die blonden Locken fielen ihm knapp auf die Schultern und umrandeten sein Gesicht wie ein Strahlenkranz. «Lass uns weit weg radeln», begrüsste er sie und zog sie auf: «Heute hauen wir ab!»
Sie liess sich von ihm aufs Rad helfen und kicherte. Sie musste den Rock hochheben. Wenn ihre Mutter wüsste, dass ihr der Butler das Radfahren beigebracht hatte und sie mit ihm über die verschlungenen Wege pedalte. Am liebsten hätte Betty vor Übermut laut schreien mögen, dachte aber gleichzeitig: «Hoffentlich sieht uns niemand.»
Nebeneinander fuhren sie ein Stück. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie ihn. Er faszinierte sie mit seiner poetischen und einfühlsamen Art, mit der er ihr Vertrauen gewann. Am liebsten wollte sie ihm gestehen, dass ihr gefiel, wie dynamisch, optimistisch und bodenständig er war. «Lass uns weit weg fahren», flüsterte sie zu ihm hinüber, musste aber plötzlich bremsen und vom Fahrrad steigen, da sich ihr Rock im Rad zu verheddern begann.
Hubert hielt an und wandte sich ihr zu. «Lass uns wieder zurückkehren», bat sie ihn, obwohl sie sich am liebsten an seinen Hals geworfen hätte.
Nebeneinander spazierten sie in Richtung Stadtpalais zurück. Er schob zu seiner Linken und Rechten die beiden Räder, sie ging neben ihm, erzählte ihm von ihrem neusten Studium der französischen Geschichte und brachte ihm englische Wörter bei. Dann rannte sie über die Strasse in den Stadtpalais zurück, wo die Gouvernante ihr die Türe öffnete.
Rahel hatte auf sie gewartet. «Endlich, Baronesse, sind Sie zurück! Ich erleide während Ihrer Abwesenheit Todesängste. Wenn die Baronin von Ihren Ausflügen etwas mitbekommt, stellt sie mich auf die Strasse. Das hätte schreckliche Folgen für mich.»
Niemals hätte sich Betty mit Angestellten und Menschen anderen Standes abgeben dürfen. Doch nach jedem Treffen mit Hubert steigerten sich ihre Sehnsüchte, Fantasien und Hoffnungen. Der scheue Mann weckte die ersten zarten Frauengefühle in ihr. Ihm fühlte sie sich nahe; ihn liess sie in ihre Seele blicken.
Besonders schätzte sie die wenigen Abende, an denen sie sich mit Renée zu Mutter in der Bibliothek setzen durfte. Inbrünstig las diese den beiden Schwestern Henris Postkarten und aus seinen Briefen vor, in denen er den Daheimgebliebenen seine Erlebnisse schilderte. Betty malte sich anhand seiner Worte die Länder und die Menschen aus, manchmal schweiften ihre Gedanken dabei auch zurück, als Henri mit ihr Karten gespielt oder ihr im Park des Königs das Fotografieren und das Autofahren beigebracht hatte. In einer Mischung aus Freude und Neid lauschte sie Henris Beschreibungen aus Mutters Mund.
Folge 12
In den letzten Reisen schwärmte Henri oft vom königlichen Freistaat Kongo. Dass er wie Vater und andere Männer den König bei dessen Privatbesitz im fernen Afrika unterstütze, dass der König den ‹Wilden›, wie er sie bezeichnete, Kultur und Wissen ermögliche und dass Vater ihn, Henri, mit der Kontrolle beim Elfenbein- und Diamantentransport beauftragt habe. Wir sollten die Kritik am König ignorieren. Betty schwieg beeindruckt.
Von Henris Reisen zu hören, war für Betty im Brüsseler Stadtpalais stets ein emotionales Auf und Ab. Immer wieder. Ein kühner Gruss aus den Vereinigten Staaten, ein inniger aus dem Fernen Osten, ein eiliger aus Japan und aus China… und ein charmanter Gruss aus Indien, wo Henri sich 1910 sieben Monate lang als Forscher für unentdeckte Gebiete aufhielt und bis zum Stamm der Sakais vorstiess.
Die Sonne steht an diesem Montag hoch am stahlblauen Himmel. Auf der Brücke beim Bootshaus, wo sich Betty bei einem erneuten kurzen Spaziergang mit Scrumpi einfindet, saugt sie den feuchten Duft des Sees in sich auf. Sie schlendert auf dem Weg weiter, am Tennisplatz vorbei, der sich dem Ufer entlang erstreckt. Nach wenigen Minuten biegt sie rechts in den Schorenkopf ein. Diese Halbinsel ist ihr Lieblingsort im Park.
Mitte der 1930er-Jahre hatte sie sowohl den Tennisplatz samt zwei Kinderschaukeln an hohen Stangen erstellen als auch etwas später auf der Halbinsel ihre eigene ‹Côte d’Azur› mit Föhren aus Südfrankreich pflanzen lassen. Vom Schorenkopf aus lassen sich Fischotter, Fische und Vögel beobachten und durch die Föhren hindurch Rehe auf dem weiten Wiesengrün im Park.
Vor den drei Hundegrabsteinen am Ende des Schorenkopfes bleibt sie stehen und liest die Gravuren. Auf dem neusten Stein ist eingraviert: ‹Corgi my friend for 12 years – 1958›.
Joseph hat Stadtpräsident Emil Baumgartner und Regierungsratspräsident Fritz Moser zur Loggia geführt. Nun stehen die Politiker, beides Juristen, wie Betty weiss, drei Stufen tiefer vor ihr auf dem Kies vor der Loggia. Baumgartner reicht ihr die Hand.
«Bonjour, Madame la Baronne, besten Dank für Ihre Einladung.» Der Stadtpräsident lächelt. «Darf ich Ihnen, Madame la Baronne, Fritz Moser vorstellen, Regierungsratspräsident des Kantons Bern.» Baumgartner, dunkelhaarig, schlank, gross und staatsmännisch, berührt dabei kurz Mosers Schulter, der kleiner und korpulenter ist als er.
«Bonjour.» Betty nickt und richtet ihre Schultern auf.
«Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Madame la Baronne», begrüsst Moser sie.
Baumgartner nickt. «Ich freue mich, Sie heute persönlich kennenzulernen.»
«Ganz meinerseits», ergänzt Moser.
Sie zieht die Mundwinkel höflich hoch. Sie ist sich sicher, dass die beiden Amtsvertreter wissen, dass sie die vermutlich reichste Thunerin ist, und sich entsprechend für die Verhandlungen vorbereitet haben. Sie zeigt mit dem Arm auf den gedeckten Tisch in der Loggia. «Monsieur le Stadtpräsident, Monsieur le Regierungsratspräsident, Sie dürfen Platz nehmen.»
Aus den Augenwinkeln taxiert sie die beiden. Von Baumgartner weiss sie, dass er für die Freisinnigen im Nationalrat sitzt und alles daran setzt, ihre Campagne zu kaufen. Von Moser, dass er Präsident der Berner Kantonalbank ist und für die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei im Grossen Rat des Kantons politisiert. Moser kommt gleich zur Sache. «Der Kanton Bern kauft Ihr Gut gemeinsam mit der Stadt Thun.»
Sie sieht Baumgartner erröten. Sofort fügt der Stadtpräsident an: «Wir finden, dass Ihr Anwesen weder verzettelt noch an auswärtige kapitalkräftige Kreise der Spekulation ausgeliefert werden darf.» Baumgartner, der zugleich Thuns Finanzvorsteher ist, hat ihr bereits vor drei Jahren Interesse an ihrem Grundbesitz signalisiert.
Moser räuspert sich.
«Falls überhaupt», schickt der Regierungsratspräsident nach, «würde die öffentliche Hand einzig den landeinwärts liegenden Teil mit industriellen und gewerblichen Anlagen und Wohnhäusern überbauen.»
Betty runzelt die Stirn.
«Wir müssen natürlich noch das Volk an der Urne und die Grossräte fragen», sagt Moser. «Reine Formsache.»
Sie richtet sich im Stuhl auf. «Wir sprechen über dreizehn Gebäude und ein Grundstück von insgesamt 277’000 Quadratmetern Land samt Naturschutzwald und Seegrund sowie eine eigene Quellwasserversorgung. Ich bin Ihnen von 8 auf 7,5 Millionen Franken entgegengekommen – mit der Auflage, dass die Uferzone immer erhalten bleibt. Der Kauf muss aber vor Jahresfrist vollzogen sein.» Sie weiss, dass der Preis zu tief ist. Doch damit erreicht sie, was sie will: Das Geld ist ihr auf sicher; ein rascher Abschluss ohne Wenn und Aber. «Ansonsten verkaufe ich an andere Interessenten, die übrigens mehr bieten als Sie, Messieurs Stadtpräsident und Regierungsratspräsident.»
«Nicht nötig», beschwichtigt Baumgartner.
«Wir können und wollen den Vertrag noch in diesem Jahr unterzeichnen», beeilt sich Moser anzufügen. «Beim Grundstück handelt es sich um hochwertiges Bauland. Wir sind uns der Grosszügigkeit bewusst. Wie Sie wissen, liegt sein Wert bestimmt bereits ohne Gebäude bei weit über acht Millionen Franken.»
Ihr Entscheid steht fest: «Ihr Notar darf sich bei mir melden.» Ihre Bedingung sei, dass das Areal als Einheit erhalten bleibe, weder überbaut noch Teile davon bebaut würden.
Folge 13
«Zudem», betont sie, «wünsche ich, dass der Park öffentlich genutzt wird und Hunde darin immer willkommen sind.»
Moser verzieht den Mund und führt schnell die weisse Tasse mit den blauen Rosen an die schmalen Lippen.
Betty ignoriert ihr eigenartiges Gefühl im Bauch. «Auf dem Schorenkopf müssen die Hundegrabsteine und im Park die exotischen Bäume belassen werden.» Baumgartner und Moser nicken wie Zwillinge.
«Sie sind übrigens nicht die ersten Beamten, die hier im Haus bewirtet werden», wechselt Betty das Thema, um die Haltung der beiden Politiker zu prüfen. «Vor und während des Zweiten Weltkrieges etwa waren die Chefs der Fremdenpolizei bei mir: Paul Baechtold und Heinrich Rothmund. Stichwort ‹Judenstempel›.»
Als Betty vergeblich auf eine Reaktion wartet und in zwei irritierte Gesichter schaut, fügt sie mit herausforderndem Unterton an: «Meine Herren, Sie wissen es bestimmt: während des Krieges... der Buchstabe J, mit dem die Behörden Pässe und Reisedokumente von Juden kennzeichneten. Abgestempelt.» Dass etwa Diplomaten aus Spanien und Frankreich bei ihr waren, die Tausende von Juden vor der Deportation retteten, lässt Betty unerwähnt. «Kennen Sie den Schwager von Bundesrat Max Petitpierre, Denis de Rougemont? Er sass auch mit mir und Gästen an diesem Tisch.» Sie wartet einen Augenblick, dann ergänzt sie: «Der Universitätsprofessor war Mitbegründer des Gotthardbundes und hatte dazu aufgerufen, sich gegen die Bedrohung durch Nazi-Deutschland aufzulehnen.»
«Rothmund und Baechtold? Wer kennt die beiden Herren nicht?», sagt Moser zögerlich. «Rothmund ist bis vor fünf Jahren Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei gewesen und hat dieses Amt nach dem Ersten Weltkrieg aufgebaut.»
Sie nickt. Ihr ist bekannt, dass dieses vor allem auf eine antijüdische Abschirmung zielte. Die Zuwanderung von Juden aus Osteuropa sollte minimiert werden. Daher weiss Betty, dass die Abwehrhaltung der Schweizer Politiker ihr gegenüber bereits vor dem Druck aus Nazi-Deutschland bestanden hat.
Für einen Moment schweigen alle am Tisch.
«Sie liessen mich überwachen», nimmt Betty den Faden zu Rothmund und Baechtold wieder auf. Sie beobachtet, wie sich die Augenbrauen der beiden Politiker schier unmerklich anheben, und denkt, dass sie ihr nicht glauben – und das ist gut so, findet sie in ihrem inneren Dialog. Schliesslich setzt sie noch hinzu: «Selbst der Nazi-Freund und Frontisten-Mentor James Schwarzenbach sah sich bei mir um.» Niemals hätte sie den beiden jedoch erzählt, dass sie jüdische Schriftsteller, Schauspielerinnen und Musiker insbesondere im Krieg unterstützte, Kontakte zum Nachrichtendienst des Kriegsministeriums der Vereinigten Staaten in Bern pflegte, jüdischen Bekannten zur Flucht verhalf. Dass ihr ‹Gwatt› als kleine internationale Drehscheibe für Informationen und Kontakte diente und sie geheime Aktivitäten unterstützte.
«Thun war für die Schweiz und die Armee in beiden Weltkriegen von grösster Wichtigkeit», erzählt Moser und spitzt dazu die Lippen. «Ihnen ist bestimmt bekannt, dass es in und um Thun regelmässig Aktivitäten, Vorträge und Wahlerfolge der Frontisten gab.»
Betty würde Moser gerne provozieren, lässt sich jedoch nichts anmerken.
«Politiker, Geschäftsleute, Mitglieder der Stadtmusik Thun», zählt er auf, «viele sympathisierten mit den nationalsozialistisch-faschistisch regierten Ländern und pflegten Kontakte zur deutschen Kolonie in Bern.»
Sie lässt sich nichts anmerken, doch sie hätte den Regierungsratspräsidenten am liebsten auf der Stelle durch den Butler zum Tor führen lassen. Stattdessen sagt sie: «Unter dem Tanzsaal des Gasthofs ‹Lamm› hatte die Armee einen Verschlag eingerichtet, in welchem Internierte vorübergehend untergebracht wurden, darunter auch Juden, die an der Grenze angehalten worden waren.» Sie erinnert sich an ausgemergelte Gestalten mit hohlen Wangen – und an ihre eigene Angst, unter der sie als Jüdin trotz Schweizer Pass litt. «Andere Verfolgte», ergänzt sie, «schlurften – phasenweise rund um die Uhr – verlumpt und schmutzig durch die Strasse vor der Villa. Einige wagten sich hie und da in den Ehrenhof. Sie klopften an die Tür und baten den Koch oder andere Bedienstete um Essen und um Kleider.»
Moser holt Luft, doch Betty gibt ihm keine Zeit, um seine Gedanken zu formulieren. Sie sieht den Moment gekommen, um das Gespräch zu beenden. «Ich denke, wir haben alles besprochen, was für unseren Handel nötig ist. Joseph führt sie hinaus.» Sie streckt Baumgartner die Hand hin, danach Moser, dreht sich abrupt um und verschwindet durch die Tür im Fumoir.
Der Butler führt den Stadtpräsidenten und den Regierungsratspräsidenten zum Gästebuch im Vestibül. Einer nach dem anderen nimmt den goldenen Füllfederhalter in die Hand.
Fritz Moser, Rg.Präs., Bern, 17.10.1960
Emil Baumgartner, Stadtpräsident
Im Kleinen Salon lässt sich Betty in den Sessel fallen. Geschafft. Das Verhalten von Beamten und Politikern wirkt nach, solches Getue widert sie an. Sie sinniert über die Macht, die Männer ausüben – wie in ihrer Dynastie, ihr Vater und auch König Leopold II.
Folge 14
Vater Léon, König Leopold II. und die Kongo-Gräuel
1904 waren erste Zeitungsberichte mit Vorwürfen gegen Leopold II. wie auch gegen Bettys Vater und andere Involvierte erschienen. Der Vater war noch seltener daheim. Betty musste Mutter aushalten, die mit ihr schimpfte, während Renée, das behütete Nesthäkchen, bei den Gouvernanten blieb.
Mutter verteidigte den König und alles, was der Vater für ihn tat: «Politik ist nichts für die Ohren von Mädchen, und schliesslich wächst Belgien und seine Infrastruktur und Macht dank dem Kongo-Freistaat.»
«Ich habe gehört, wie Vater im Salon mit Männern sprach. Er ärgerte sich wegen hitziger Journalisten, die über Gräueltaten im königlichen Freistaat Kongo schreiben würden.» Betty konnte sich kaum mehr zurückhalten. «Von gigantischem Abbau von Rohstoffen war die Rede. Von Kautschuk, Diamanten und Eisen, ebenso von Palmöl und Elfenbein.» Mutter liess Betty stehen. «Jetzt ist genug», sagte sie nur, bevor sie sich von ihrer Tochter wegdrehte und sie alleine zurückliess.
Betty hatte mitbekommen, dass der König im Kongo das Land geplündert habe. Dabei seien die Menschen versklavt und die Eingeborenenstämme entwurzelt worden. Von Ausbeutung des Kongos war die Rede, ebenso von brutalen Exzessen. Betty bedauerte, dass ihr der Mut fehlte, weder Mutter noch Vater oder Henri zu fragen, was dies alles zu bedeuten habe. Sie beobachtete still weiter, dass Vater immer bedrückter wirkte, auffällig angespannt und verkrampft.
Sie wartete ab und entlockte schliesslich Henri doch noch ein paar Antworten.
«Stimmt», erklärte er ihr auf ihre Fragen, «unter internationalem Druck, wie in den Zeitungen korrekt stand, wurde Leo- pold II. dessen Privatbesitz entzogen. Seit dem 15. November 1908 ist das Land in Afrika mit dem neuen Namen Belgisch- Kongo eine Kolonie des Staates Belgien.» Schätzungen zufolge, las Betty kurz darauf in der Zeitung, habe die königliche Herrschaft zwischen zehn und zwanzig Millionen Opfer gefordert.
Was mit den Gräueltaten im privaten Kongo-Freistaat von König Leopold II. damals gemeint war und inwiefern ihr Vater damit zu tun gehabt hatte, erfuhr Betty trotz allem nur am Rande. Sie wusste nicht mehr, wem sie glauben konnte. Sie haderte mit sich. Sollte sie an ihrem Vater zweifeln? Ihn weiterhin bewundern? In der Hoffnung, dass sie ihn eines Tages doch noch für sich gewinnen könne, beschloss sie, dass er für sie ein vorbildlicher Geschäftsmann, ein engagierter Banquier bleiben würde. Vater, verteidigte sie ihn, trieb Brüssel voran und brachte in Afrika den Menschen Entwicklung – für Ruhm und Ehre seines Landes und im Namen des Königs.
Ins Zweifeln kam sie jedoch immer wieder, wenn Vater bei Gästen von seinen Aktivitäten oder von den ‹Inlanders›, den Eingeborenen im Kongo, vom Abenteurer, Afrikaforscher und Journalisten Henry Morton Stanley oder von der ‹langen Hand von König Leopold› sprach. Sie hörte stets aufmerksam zu.
«Doch mehr gibt es dazu nicht zu sagen», pflegte er Fragen auszuweichen. Erst recht nicht mehr, seit König Leopold II. im Jahr 1909 verstorben war.
Erst allmählich verstand sie, was sich in diesem unrühmlichen Kapitel der belgischen Kolonialgeschichte ereignet hatte. Praktisch alle Regierungen und vor allem Reiche erweiterten ihre Territorien und ihren Reichtum mit Kolonien. Es sei ihr Recht und sie täten etwas Gutes für die Zivilisation und die Bildung der ‹Wilden›, hiess es. Weder würden Länder ausgebeutet noch Menschen versklavt, zitierten Journalisten die Protagonisten der Kolonialherrschaften.
Als Tochter von Léon Lambert, dem höchsten Juden im Land und dem Herrn im Hause, wagte Betty kaum, sich zu fragen, ob ihr Vater den König und sein Tun angezweifelt hatte. Sie blieb hin und her gerissen.
Vor dem Zubettgehen schaut sich Betty in der Bibliothek das Album der Reisen ihres Bruders an: Kikuyu-Schönheiten, Fluss- fahrten auf dem Kongo, Arbeiter auf den Diamantenfeldern, in der Kohlemine, Afrikaner beim Bau der Eisenbahn. Henri neben dem erlegten Löwen und wie er mit dem Auto durch die Flüsse fährt.
Sie blättert weiter.
Dienstag, 18. Oktober 1960
Betty sitzt im Bett und tippt mit ihren Zeigefingern abwechselnd die Tasten der ‹Hermes›. Neben ihr auf der Decke liegt das Silbertablett mit dem Frühstück. Die Buchstaben schlagen dumpf auf die Walze. Tock, tock-tock. «Omami und ihr Adlersystem», hört sie in Gedanken ihre Enkelinnen und schmunzelt.
Oft tätigt Betty Anrufe bereits vor dem Aufstehen und jeden Tag schreibt sie Briefe, mit der Maschine oder von Hand, im Bett oder am Sekretär im Fumoir; jedes Jahr über dreihundert Weihnachtskarten. Betty formuliert gerne in Reimen, bisweilen kreiert sie noch immer Gedichte.
Die Flammen im Kamin züngeln in die Höhe. Die Typenhebel hämmern rhythmisch, sie schiebt den Wagen am Zeilenende wieder nach links. Zwischendurch hört sie ihre Zofe nebenan, wie sie vom Ankleidezimmer ins Bad und wieder zurück geht.
Im Peristyl wartet Betty auf Max, ihren Chauffeur und Guts- verwalter. Sie hört ihn den Topolino aus der Garage und durch den separaten Zugang auf die Strasse fahren. Gleich darauf beobachtet sie, wie er den Wagen in den Ehrenhof einlenkt und vor ihr parkt. Mit gewohnt süffisantem Grinsen, das in seinen Augen zum Gruss aufblitzt, steigt er aus und hält ihr die Tür auf.
«Scrumpi, viens», ruft Betty und setzt sich auf den Fahrer- platz. «Merci.»
Folge 15
Als Max den Wagenschlag zugestossen hat, steuert Betty das Auto auf die Strasse. Sie klopft mit den Fingerkuppen im Rhythmus der Hits aus dem Radiolautsprecher aufs Lenkrad. Connie Francis singt ‹My Happiness›, Brian Hyland trällert ‹Itsy Bitsy Teenie Weenie›, während sie dem See entlangfährt.
Vergnügt summt sie ihrem Treffen entgegen. Seit den Vorkriegsjahren teilt sie dann und wann Stunden mit Kostia. Der Grieche, der wie andere Freundinnen und Freunde in der Diaspora in Paris lebt, heisst mit vollem Namen Constantine George Anthony Dimitros Vlastos. Sein Vater präsidierte einst die Bank von Konstantinopel.
Zügig kurvt sie durchs Kandertal. Die Bäume im bunten Herbstkleid ziehen an ihr vorbei, auf den Bergspitzen liegt bereits der erste Schnee. Auf der Höhe des Blausees biegt sie rechts in den Parkplatz des Ausflugsortes ein.
Über knorrige Wurzeln hinweg schreitet sie neben Scrumpi durch den Wald bis zum Bergsee. Als sie zwischen den Bäumen auf die Lichtung tritt, sieht sie Kostia auf der Terrasse des Restaurants stehen. Sofort winkt er ihr zu. Sie spürt seinen Blick auf sich, steigt die Treppe nach oben und bleibt vor ihm stehen. Für eine magische
Sekunde treffen sich ihre Augen. Doch seine vertraute Nähe lässt sie heute erstarren.
«Bonjour, quelle beauté!», raunt er ihr entgegen.
Ein voller Schnurrbart, weiss und grau, Schalk in den Augen, genau so, wie damals, als er sie vor 22 Jahren zum ersten Mal in der Campagne aufsuchte. Da war er 55 und hatte acht Jahre zuvor in Lausanne Ludmilla, eine baltische Russin, geheiratet. Die beiden reisten regelmässig, und er brauchte in Nazizeiten Beratung. Kostia wusste um ihr Netzwerk in diplomatischen Kreisen. Er traf sich bei ihr im ‹Gwatt› mit Paul Baechtold, damals Leiter der Eidgenössischen Fremdenpolizei, dessen Frau Colette und anderen Gästen, die ebenfalls nützliche Kontakte benötigten.
Kostia zupft sie am Arm. «Schön hier! Und wir sind ungestört.» Er zwinkert ihr zu, als würde er kein Alter kennen.
Sie ignoriert seine Anspielung. «Wie geht es dir?»
«Ich bin ein Greis und träume jede Nacht von dir und meinen starken Zeiten.»
Sie quittiert die Annäherung mit einem Schritt zurück.
«Erinnerst du dich an Jacquette Hamilton, die sich gleichzeitig mit dir damals bei mir aufhielt? Die Schwedin, Quettan war ihr Übername. Ihr Mann ist der italienische Diplomat Bartolomeo Migone.»
Er nickt, hält ihr den Stuhl hin und setzt sich auch an den Tisch.
Schweigend studieren sie die Speisekarten.
Als der Kellner herantritt, bestellt Betty ein Glas Champagner und eine kleine Forelle aus dem Blausee mit Toastbrot.
Still lässt sie ihren Blick über den See wandern, bis sie Kostia antwortet. «Wie könnte ich den gemeinsamen Besuch des Con- cours hippique im heissen Sommer vor dem Krieg vergessen.»
Er nickt. «Du hattest viele Leute, oft US-Offiziere und Diplomaten, eingeladen.»
Sie überlegt lange. Dann sagt sie: «Quettan besucht mich fast jeden Sommer und schwärmt noch heute von dir.» Sie kräuselt die Lippen, als sie ihm über die neusten Erkenntnisse informiert: «Sie hat übrigens dabei geholfen, dass es nach einem Zusammen- stoss 1956 vor New York zwischen einem italienischen und einem schwedischen Passagierschiff – der ‹Andrea Doria› und der ‹Stockholm› – zur aussergerichtlichen Einigung kam.»
«Oui, ich habe davon gelesen. Frauen ziehen immer mehr die Fäden.»
Wie zwei alte Freunde, die sich alles und doch nichts gesagt haben oder einander nichts mehr sagen wollen, essen sie. Betty nippt am Glas und schaut zwei jungen Verliebten zu, die hände- haltend dem See entlang schlendern.
Nach einer Weile schiebt sie den Teller von sich weg. «Es wird langsam Zeit.» Als Kostia gedanklich abwesend bleibt, fordert sie seine Aufmerksamkeit. «Du weisst, jetzt ersetzen auf dieser Distanz Flugzeuge die Schiffe.» Er verzieht den Mund. «Oh, die alten Zeiten. Weisst du noch, wie ich, der im Ersten Weltkrieg ein griechischer Pilot und Korrespondent von ‹Le Temps› war, mit dem französischen Pass Heissluftballon flog? Tja, auch ich werde alt, chère Betty.»
«So ist das Leben, cher Kostia.»
Sie schaut ein letztes Mal über den Blausee und steht auf.
«Folgst du meiner Einladung zum griechischen Abend heute?»
«Oui, naturellement!»
«Du wirst dich heimisch fühlen – mit Ouzo und gefüllten Weinblättern, jedoch ohne Knoblauch.»
Kostia grinst Betty zu, nimmt einen Schluck und packt sein Zigarettenpäckchen. «Wie immer: Es wird perfekt sein bei dir. Kenne ich die anderen Gäste?»
«Sie teilen sich eine Verbindung zu deinem Ursprungsland. Daniel Gagnebin, bis eben noch Gesandtschaftssekretär in der Schweizer Botschaft in Athen, und der Kunstsammler Jürg Stuker.»
«Jürg Stuker?»
«Monsieur Stuker ist der Stiefsohn von Baron Robert de Stuker, der einst Prinzenerzieher am griechischen Hof war. Er verkauft Kunstwerke.»
Er schüttelt den Kopf.
«Jürg Stuker hat mit seinem Erbe 1938 in Thun ein Antiquariat eröffnet und ist mit diesem später nach Bern gezogen. Das Stuker-Auktionshaus kennst du doch!»
Folge 16
Auf dem unebenen Weg zurück zum Parkplatz grübelt Betty über Kostias Furchengesicht nach. Hinter seinem spitzbübischen Lächeln sah sie einen müden Mann. Wie bei Rudolf, wie früher bei Vater. Die Erinnerung an ihn weckt in ihr eine unerwartete Sehnsucht nach ihm und seinen jüdischen Bräuchen und Freunden in der Synagoge in Brüssel.
Eine Kindheit mit jüdischen Wurzeln
Bettys Vater stand zwar als Präsident dem repräsentativen Organ der Juden, dem Israelitischen Zentralkonsistorium von Belgien als jüdischer Dachorganisation des Landes, und der jüdischen Gemeinde in Brüssel vor, trug einen Bart und legte Wert auf jüdische Traditionen. Doch nie hätte Léon Lambert ausschliesslich koscher essen wollen, sich gar ultraorthodoxe Schläfenlocken wachsen lassen oder stets die Kippa getragen.
Die belgischen Juden, insbesondere in Brüssel, wie die Rothschild-Familie ihrer Mutter Lucie in Paris, galten als tolerant und offen, auch gegenüber Nicht-Juden.
Das Judentum war seit der Gründung des Königreichs Belgien 1830 eine anerkannte Religionsgemeinschaft. In Brüssel hatten sich sechs jüdische Gemeinden gebildet, und diejenige in Antwerpen entwickelte sich gar zu einer der grössten jüdischen Gemeinden Europas. Die Grande Synagogue an der Rue de la Régence in Brüssel war ein wichtiges Zentrum der reformierten liberalen Gemeinde. Das prunkvolle Gebäude inmitten der Stadt war 1878 erbaut und von Bettys Eltern mitfinanziert worden.
Trotz allem hatte sich Betty der gebieterischen Erziehung hochadliger Kreise unterzuordnen genauso wie jener der Rothschild’schen und jüdischen. Die Familie fastete an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, ass an Feiern koscher und zelebrierte weitere hohe Feiertage. Dazu gehörte Rosch Haschana, das jüdische Neujahr, oder das Fest Pessach, welches an den Auszug aus Ägypten und die Befreiung aus der Sklaverei erinnern sollte.
Ihre jüdische Identität erfüllte Betty mit Stolz, doch sie legte nie Wert auf religiöse Bräuche. Zudem war sie Gruppierungen und Glaubensgemeinschaften abgeneigt. Zu sehr erlebte sie innerhalb ihrer Familie diese Traditionen als einengend. In die Synagoge durfte sie als Mädchen nur an Feiertagen. Das war ihr recht. Der Singsang der Männer und der autoritäre Blick des Rabbiners wirkten auf sie sowieso zu bedrohlich.
Am 22. März 1908 feierte die Familie Bettys 14. Geburtstag in Mutters Pariser Zuhause im Hotel Parisien an der Avenue Hoche 43. Ihr Vater Gustave hatte die Immobilie einst für sie gekauft. In der Tischrunde betonte Mutter die liberale Haltung der Belgier. «In Deutschland, aber genauso in Frankreich gibt es weitaus mehr judenfeindliche Gruppierungen», erklärte sie, was Betty erstaunte.
Grossvater ergänzte sogleich, dass einer der antreibenden Hetzer der katholische Journalist Édouard Drumont gewesen sei.
«Gerade in der Dreyfus-Affäre hat er vehement gegen Juden gehetzt und überhaupt gegen uns Rothschilds in Paris. Zusam- men mit Grossrabbiner Zadoc Kahn habe ich mich zugunsten des 1895 zu Unrecht verurteilten Offiziers engagiert – leider vergeblich.»
Betty fand Grossvaters Informationen spannend, derweil Mutter versuchte, ihren Vater zu bremsen, was ihr jedoch misslang. «Dieser Drumont hat 1889 sogar eine französische Antisemitenliga gegründet», echauffierte sich Gustave trotz seiner 79 Jahre mit vibrierender Stimme. «Drumonts Lieblingsmotiv war die antijudaistische Gottesmord-These. Mit ihr versuchte der Journalist zu erreichen, dass Frankreich judenfrei wird.»
Betty tritt die Rückfahrt ins ‹Gwatt› an. Mittlerweile dürfte Rudi, wie sie Rudolf Maximilian von Goldschmidt-Rothschild, ihren ersten Ehemann, nennt, eingetroffen sein. Er lebt haupt- sächlich bei seiner Schwester Lucy auf deren Gut im waadtländischen Blonay in der Nähe von Vevey und des Israelitischen Friedhofs in Prilly. In dieser Stätte ruhen der gemeinsame Bruder Albert, der nach seinem Suizid 1941 dort beerdigt wurde, und andere Familienmitglieder. Seit Rudolfs Flucht aus Frankfurt finanziert Betty massgeblich sein Leben. Diese war ihm wenige Wochen vor der ‹Reichskristallnacht› 1938 gelungen. Wie seine gesamte Familie hatte Rudolf im Naziregime praktisch alles verloren.
Während sie heimwärts steuert und über Rudi nachdenkt, ruft sie sich ihre erste Begegnung mit ihm wach. 1911. Er war 30, ein Grandseigneur, der mitten im Leben stand, sie knapp 17, eine unerfahrene Frau voller Träume.
Als Frau kein Recht auf Selbstbestimmung
Regelmässig besuchte Betty mit ihrer Mutter und der jüngeren Schwester Renée in Paris auch die grosse Schwester Claude – und mit ihr die Hunde- und Pferderennen, die ihr und ihrem Mann Jean wichtig waren. 1908 waren sie gar gemeinsam alle nach London gereist, um ihn an den Olympischen Spielen beim Fechten zu erleben.
Während Henri weiterhin den Moment hinauszögerte, in Vaters Bank eintreten zu müssen, und stattdessen lieber als Entdecker und Fotograf unterwegs war, zwang sich Betty im Brüsseler Stadtpalais dazu, sich in ihr Schicksal zu fügen. Die wohlerzogene Prinzessin in ihr harrte der Dinge, die eingeschlossene Rebellin wäre am liebsten mit Hubert durchgebrannt.
Folge 17
«In einer Viertelstunde bei unseren beiden Bäumen», lockte Betty Hubert eines Tages in den Park. Als er rennend bei ihr eintraf, flehte sie ihn an. «Pssssst. Wir müssen auf der Hut sein.» Aufgeregt sprach sie auf ihn ein. «Ich glaube, dass meine Eltern etwas mit mir vorhaben. Lass uns ausreissen. Ich weise meine Gouvernante an, meine Koffer zu packen, damit wir nach Ostende oder sogar nach Paris fahren und unser eigenes Leben beginnen können.»
«Das klingt wunderbar, liebe Betty, aber beruhige dich!» Hubert streichelte ihr über die langen Haare, die sie in ungewohnter Weise offen trug. «Wie schön du bist und wie fein du riechst! Aber ich muss zur Arbeit zurück, deine Mutter erwartet jeden Augenblick Gäste.»
Sie begann zu weinen. «Ich bin in diesem goldenen Käfig gefangen, dabei möchte ich fliegen lernen!» Nervös zupfte sie am hellblauen Rock, den sie anhob, damit er trotz Gras fleckenlos blieb.
Er nahm ihre Hände in die seinen und legte sie an sein Herz. «Lass uns das später durchdenken.»
Sie nickte und senkte den Kopf. «Geh nur, ich hecke mir einen neuen Plan aus.»
Hubert liess ihre Hände los und eilte davon.
Sie strich sich mit den Handrücken über die feuchten Wangen. Am liebsten wäre sie mit ihm gerannt, weit weg. Stattdessen schlich sie sich in das Palais zurück, legte sich aufs Bett und kraulte ihren Fluffy, den sie im Zimmer gelassen hatte. Sie nahm ihr Notizbuch aus der Kommode und schrieb ein Gedicht.
Am 22. März 1911 feierte Betty im grossen Salon im Stadtpalais in Brüssel ihren 17. Geburtstag. Renée war mittlerweile zwölf. Claude blieb in Paris, Henri war gerade aus Afrika zurückge- kehrt. Mutter hatte jedes noch so kleinste Detail perfekt durchorganisiert.
Betty war jedoch nicht zum Feiern zumute. Am Vorabend hatte Mutter ihr eröffnet, dass eine Heirat zweier Rothschilds – zwischen der deutschen und der französischen Linie – arrangiert werde. Diese stärke die Verbindung zwischen den Lamberts und den Rothschilds zwischen Brüssel, Paris und Frankfurt am Main. Die künftigen Eheleute würden beide die fünfte Generation nach dem Dynastiebegründer Mayer Amschel aus dem Frankfurter Ghetto vertreten und seien Cousins dritten Grades.
Die Rothschilds, erwähnte die Mutter, gehörten in Frankfurt zu den wichtigsten jüdischen Familien.
Sofort ahnte Betty, wovon Mutter sprach. Die Vorstellung, in das konservative, militärische Königreich Preussen verheira- tet zu werden, hielt sie bis in die frühen Morgenstunden wach. Die Gouvernante half ihr den ganzen Nachmittag über, sich einzukleiden, den passenden Schmuck auszuwählen und sich die Haare mit Blumen zu schmücken und hochzustecken. «Wie schön Sie sind!», sagte Rahel, während Betty sich im Spiegel anschaute und ihre kleine Schwester Renée aus dem Zimmer scheuchte. In ihrem Innern stellte sie sich vor, wie sie sich mit Hubert treffen, mit ihm in den Zug steigen und weit weg fahren würde.
«Es ist so weit», holte sie die Gouvernante aus ihren Gedanken und öffnete die Tür.
Unter den Gästen am üppig dekorierten Geburtstagstisch voller Kerzen und Blumensträusse befanden sich tatsächlich Verwandte aus Frankfurt am Main. Mutter gesellte sich zu ihnen und platzierte Betty direkt neben sich. Neben Vater, also schräg gegenüber, sass Max, der 68-jährige Witwer Maximilian Benedikt Baron von Goldschmidt-Rothschild.
Sie sah sich umgeben von seinen Söhnen und Töchtern: Albert, 32, Rudolf, 30, Lili, 28, Lucy, 20, und Erich, 17 Jahre alt. Betty sass Rudolf gegenüber, die anderen ihren Ehemännern und Ehefrauen.
Suchend schielte sie immer wieder zur Tür, ob sie vielleicht Hubert unter den Butlern entdecken würde. Vor allem aber beobachtete sie die Gesichter um sich herum und wehrte sich gegen die Vorstellung, dereinst möglicherweise unter ihnen in Frankfurt leben zu müssen. Manchmal schaute sie aus den Augenwinkeln verstohlen zu Rudolf hinüber. Mutter hatte ihm bestimmt aus einem gewissen Grund genau den Platz ihr gegenüber zugewiesen.
Während sie den Blick langsam über den Tisch von Person zu Person schweifen liess, rief sie sich in Erinnerung, was sie von dieser Ursprungsstadt der Dynastie und den Verwandten wissen sollte.
Die Schwester von Max’ verstorbener Frau Minka lebte in Paris, Adelheid. Sie war mit Grossvaters Bruder Edmond verheiratet. Ihre Mutter war die bekannte Hannah Mathilde, eine Coucousine von Bettys Mutter. Mathilde war mit ihren 79 Jah- ren in Frankfurt am Main die letzte noch lebende Vertreterin ihrer Generation. Sie war eine Rothschild-Tochter aus der österreichischen Linie und mit Willi aus der italienischen Linie – dem Cousin ihres Vaters – verheiratet gewesen, dem 1901 verstorbenen letzten männlichen Rothschild in Frankfurt. Ursprünglich hätte Grossvater Gustave sie zur Frau nehmen sollen, doch er hatte sich für Cécile Anspach entschieden.
Betty sinnierte über Mutters Herkunftsfamilie. Sie erinnerte sich, dass Dynastiebegründer Mayer Amschel in seinem Testament einzig den Rothschild-Söhnen erlaubt hatte, in den eigenen Unternehmen tätig zu sein. Deshalb mussten die Rothschilds nach Willis Tod das Bankhaus ‹M. A. von Rothschild und Söhne› in Frankfurt liquidieren. Dies, obwohl Max, Mathildes Schwiegersohn, es als Banquier hätte führen können. Doch er durfte nicht – da er ein Tochtermann war, wie Mayer Amschel die Männer von Rothschild-Töchtern bezeichnete.
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