FortsetzungsromanLesen Sie die neueste Folge von «Jenseits der Gier»
Im neuen Kriminalroman von Esther Pauchard will sich eine Oberärztin um die betagte Mutter eines früheren Schulkollegen kümmern – und gerät dabei in gefährliche Tiefen.
Die Folgen 1 bis 29 des Romans finden Sie hier: «Jenseits der Gier» 1 – 29
Folge 39
Wieder lächelte Anna, erinnerungsselig. «Und dann kamen die wilden Achtundsechziger in der Schweiz an. Begonnen hat es im Tessin, mit einer Schulbesetzung als Protest gegen starre, schlechte Bedingungen im Unterricht. Dann Kundgebungen in Genf. Und dann: Zürich. Die Rockkonzerte, die Krawalle. Mich hat das alles fasziniert und angezogen. Vor allem die Frauenbewegung. Ich hatte nie eingesehen, warum ich als Frau automatisch weniger wert sein sollte als die Männer, warum ich weniger Rechte haben sollte. Als junge Lehrerin war ich an progressiven Unterrichtsmethoden interessiert, ich wollte etwas anderes als Drill und Autorität. Ich wollte meine Schüler verstehen, ich wollte sie begeistern, sie gewinnen statt unterdrücken. Aber dafür war ich von der Schulleitung immer belächelt worden, auch wenn meine Schüler ausgesprochen gute Leistungen zeigten. Ich war immer nur das Fräulein mit den neuen Ideen, niemand nahm mich ernst. Aber auf einmal merkte ich, dass es Gleichgesinnte gab. Andere Frauen, aber auch Männer, die sich für die Rechte der Frau stark machten. Für das Stimmrecht, für Eigenverantwortung, für geistige Freiheit, für neue Unterrichtsmethoden. Ich engagierte mich politisch, ich ging auf Demonstrationen. Ich trug sogar», sie lachte leise, «einen Minirock. Ich dachte, meinen Vater würde gleich der Schlag treffen, als er mich zum ersten Mal damit sah. Das gab manchen Streit zuhause! Aber mir war es gleich. Ich war volljährig, und ich hatte ein Ziel.»
Eric sah seine Mutter ungläubig an. Es war offenkundig, dass ihm all das völlig neu war.
«Ich war mit von der Partie, als am ersten März 1969 zum Marsch auf Bern gerufen wurde. Ich stand sogar ziemlich weit vorne, als Emilie Lieberherr ihre berühmte, flammende Brandrede vor dem Bundeshaus gehalten und das uneingeschränkte Stimmrecht für uns Frauen gefordert hat. Ich hatte auch eine Trillerpfeife dabei, ich war Teil des Pfeifkonzerts – wir haben damals», nun grinste sie vergnügt und wirkte dabei wieder wie eine junge Frau, «auf den Bundesrat gepfiffen, der sich weigerte, unsere Petition zu empfangen.»
«Das …», stammelte Eric. «Ich wusste nichts von alledem. Du hast nie etwas darüber erzählt.»
«Ja», sagte Anna. «Ich weiss. Ich habe es zu vergessen, zu verdrängen versucht, all die Jahre.»
Sie holte tief Luft, sammelte sichtlich ihre ganze Courage und sprach weiter. «Am Marsch auf Bern lernte ich Erich kennen. Er war zwei, drei Jahre jünger als ich. Ein sehr gut aussehender Mann, sehr attraktiv mit seiner Pilotenbrille und dem teuren Mantel. Er hat mir sofort gefallen.»
Sie errötete sachte. «Wir wurden ein Paar. Das war damals ganz ungern gesehen, dass junge Leute eine Beziehung führten, ohne verheiratet zu sein. Auch damit war Vater nicht einverstanden. Aber ich liess mich nicht beirren. Ich war so verliebt.»
Eric starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.
«Erich?», fragte er mit hohler Stimme. «Mein Vorname lautet Erich, im Grunde. So steht es in meiner Geburtsurkunde. Heisst das…»
«Oh, nein», warf Anna hastig ein. «Du bist Ottos Sohn. Erich konnte gar nicht dein Vater sein. Er», sie schluckte hörbar, «war damals, als du auf die Welt gekommen bist, schon lange tot.»
«Tot?», warf ich unwillkürlich ein.
«Wir wollten heiraten», sagte Anna traurig. «Aber den Segen unserer Väter hätten wir nicht bekommen, das wussten wir beide. Mein Vater war ganz grundsätzlich dagegen, dass ich mit einem Hippie in wilder Ehe lebe, wie er gerne sagte. Er wollte Erich gar nicht kennenlernen. Für Erichs Familie indes war ich nicht gut genug. Die Familie hatte offenbar Geld, sein Vater besass ein Hotel, und Erichs damals bereits verstorbene, innig geliebte Mutter war zu Beginn des zweiten Weltkriegs aus dem Ausland gekommen und hatte ebenfalls ein beträchtliches Vermögen in die Familie gebracht. Erich war der jüngere von zwei Söhnen, und sein Vater wünschte sich für ihn eine deutlich bessere Partie, als ich es hätte sein können. Ich habe Erichs Familie nie kennengelernt, er meine auch nicht. Trotzdem – wir beschlossen, uns über den Willen der Eltern hinwegzusetzen und auf eigene Faust zu heiraten, ohne den Segen unserer Familien. Wir hatten alles geplant, bis ins Detail. Aber auf einmal brach der Kontakt ab. Erich erschien nicht wie vereinbart zu unserem nächsten Treffen, meldete sich nicht mehr, und ich konnte ihn nicht erreichen. Ich war verzweifelt, dachte, er habe sich anders entschieden, gegen mich. Eines Nachts hatte ich dann einen grauenhaften Traum. Ich sah Erich, der in unergründliche Tiefen fiel, ich sah seinen Tod. Dieser Traum, so wenig ich als rationale junge Frau an ihn glauben wollte, erschreckte mich, versetzte mich in Panik. Ich befürchtete das Schlimmste. Dann, einige Tage später, erfuhr ich es per Zufall von einem Freund: Erich war auf einer Bergwanderung zu Tode gestürzt. Ein fataler Unfall. Er war erst einundzwanzig Jahre alt, als er starb.»
Eine Weile herrschte bedrücktes Schweigen.
Dann fuhr Anna leise fort. «Erichs Tod erschütterte mich über alle Massen. Meine ganze Welt brach zusammen. Ich hielt es nicht mehr aus in der Enge meines Umfelds, ich musste weg, weg von Bern, von den Erinnerungen. Ich nahm eine Stelle im Ausland an, im Tirol, zur Wintersaison – nichts Grossartiges, ich arbeitete als Kellnerin in einem Ausflugslokal. Aber es war weit weg von allen und allem, und es half mir, zu vergessen. Ironischerweise», sie lächelte ihren Sohn an, «lernte ich dann ausgerechnet im Tirol deinen Vater kennen – zwei Berner, die sich im Ausland trafen. Er verliebte sich sofort in mich, aber ich war noch nicht so weit. Meine Trauer war noch lange nicht vorbei. Otto musste sehr viel Geduld aufbringen, bis ich mich öffnen und ihm einen Platz in meinem Herzen freiräumen konnte. Aber er hatte ja Geduld, immer schon. Nach drei Jahren schliesslich wurde ich seine Frau. Ich habe es nie bereut. Er war ein guter Mann. Ein freundlicher, gütiger Mann. Er half mir über Erichs Verlust hinweg.»
Fortsetzung folgt
Bisher erschienen:
Folge 30
Ich versuchte ernsthaft, zu verstehen, wovon die beiden sprachen, scheiterte aber kläglich, wie ich mir sehr bald eingestehen musste. Also lenkte ich mein Interesse auf die nonverbalen Signale, auf Körpersprache, Mimik, Gestik, Stimme, forschte nach Anzeichen von Spannung, von Missstimmung und Konflikt.
Und fand nichts. Die beiden waren sich zwar offenbar nicht in allen Fragen einig, aber ihr animierter Austausch hatte etwas Entspanntes, Einvernehmliches, und als sie sich nach einer halben Stunde verabschiedeten, taten sie es mit der lässigen Warmherzigkeit alter Freunde. Schwer zu glauben, dass dieser Lars hinter dem listigen Einschleichen in die Dubachsche Wohnung stecken sollte, aus welchem Grund auch immer.
«Nun, Sherlock? Miss Marple?», fragte Eric kühl. «Schon eine heisse Spur entdeckt?»
Martin und ich lächelten unverbindlich.
Je länger wir Eric begleiteten, desto müder wurde ich. Es war anstrengend, wort- und sinnlos danebenzustehen, während Eric seine Gespräche führte, es war anstrengend, den von Fachtermini und Insider-Begriffen gespickten Diskussionen zu lauschen, zu versuchen, aus den akademischen Wortschwallen Hinweise zu extrahieren, die uns nützen könnten. Ich spürte, wie sich hinter meinen Brauen ein bösartiger Kopfschmerz zusammenballte, und meine Füsse taten mir weh vom Herumstehen.
Das CERN-Hauptrestaurant indes, das wir über Mittag für ein weiteres Treffen aufsuchten, gefiel mir gut. Ein lichter, weitläufiger, modern möblierter Raum, dessen Glasfronten auf eine grosse Terrasse hinausgingen. Das Restaurant 1 war ein quirliger Schmelztiegel für Menschen allen Alters und aller Nationen. Hier gab es alles, Massanzüge und Jogginghosen, Souveräne und Schüchterne, Laute und Leise, Unauffällige und Exzentrische. Die ganze Welt in einem von einer Kakophonie der Sprachen erfüllten Raum.
Ich bestellte mir im Selbstbedienungsangebot vergnügt eine Higgs-Pizza, um dem Anlass gerecht zu werden, und folgte dann Eric und seinen vier Kollegen zu einem langen Tisch, wo Martin und ich uns ganz am Ende hinsetzten und der bewegten Debatte zwischen den fünf Physikern lauschten, während wir unsererseits schweigend und unbeachtet unser Mittagessen aufassen.
Nach dem Mittagessen musste ich meine Sprachzentren auf Französisch umpolen, als Eric mit einem frankophonen Kollegen über weiteren kryptischen Formeln brütete. Meine Kopfschmerzen verstärkten sich. Ich hatte langsam genug.
Als Erics hochwichtige ATLAS-Sitzung anstand, führte er uns aus dem Gebäude 4 hinaus auf die Strasse. Obwohl wir uns innerhalb des CERN-Areals befanden, gab es hier tatsächlich Strassen, nach berühmten Forschern benannt, mit Verkehrszeichen, Fussgängerstreifen, Überführungen, zahlreichen Parkplätzen. Sogar Kreisel gab es.
Ich hatte viel über das CERN gelesen, und trotzdem hatte ich mir keine Vorstellung über die Dimensionen gemacht, die unglaubliche Grösse.
Das CERN, das begriff ich jetzt, war nicht einfach ein Gebäudekomplex. Es war eine Stadt. Eine Stadt mit Quartieren und Untergruppierungen, mit ganz eigenen Regeln und einer unverwechselbaren, ein wenig einschüchternden Atmosphäre.
Wir marschierten eine ganze Strecke, um eine UBS-Filiale herum – das CERN hatte eigene Bankfilialen! – über die Route Scherrer und die Route Marie Curie hin zu einem imposanten Gebäude, der Nummer 40, welche Büros der Kollaborationen CMS und ATLAS beherbergte.
Ich widersprach nicht, als Eric uns mit strengem Blick anwies, uns in der von einer kreisrunden Glaskuppel überdachten Cafeteria niederzulassen und zu warten, bis er von seinem Meeting zurückkehren würde. Es war mir ein Rätsel, wie der Mann sich nach all diesen Gesprächen noch auf den Beinen halten konnte. Mehr noch – er machte einen vitalen, animierten Eindruck, als er mit leichtem Schritt, endlich von seinen beiden lästigen Kletten befreit, davoneilte. Seine sichtbare Erleichterung, uns endlich loszuwerden, war mit Händen greifbar.
Martin, ganz Kavalier, erklärte sich bereit, mir einen Kaffee zu holen. Ich warf ihm eine dankbare Kusshand zu und liess mich zufrieden an einem freien Tischchen nieder.
Während ich auf mein Getränk wartete, holte ich ein Notizheft aus meiner Handtasche und begann, mir einige Stichworte zu den vergangenen Begegnungen zu notieren. Viel kam nicht gerade dabei heraus.
Ich studierte eben stirnrunzelnd das magere Ergebnis, als Martin sein Tablett auf der Tischplatte abstellte.
«Ich habe dir etwas Süsses mitgebracht», sagte er und nahm mir gegenüber Platz. «Zur Stärkung der Moral.»
Ich reckte den Hals und schnupperte erfreut an dem appetitlichen Tortenstück.
«Du rettest mir das Leben», stiess ich mit Inbrunst aus und versenkte dann meine Gabel tief in das Gebäck.
«Ich fürchte», meinte Martin, während er in seinem Kaffee rührte und mir amüsiert beim Futtern zusah, «Eric könnte Recht haben. Ich habe bei keiner der Begegnungen bisher auch nur den Hauch eines Verdachts gehabt. Du etwa? Was sagt dein berühmter Instinkt?»
«Fehlanzeige», mümmelte ich mit vollem Mund.
Folge 31
Ich schluckte meinen Bissen herunter und fuhr dann missmutig fort: «Keine verwertbaren Hinweise, keine Anspannung, kein ausweichendes, ärgerliches oder nervöses Verhalten bei auch nur einem dieser zahlreichen Fachkollegen, und wir haben ja eine ganze Menge von denen gesehen. Nichts. Die sind allesamt nett und zugewandt, wenn auch irgendwie absorbiert – in höheren Sphären schwebend vielleicht? Und ich hasse es», fügte ich voller Verdruss hinzu, «mir so dumm vorzukommen. Die CERN-Leute reden zwar englisch, französisch oder auch einmal deutsch miteinander, sie benutzen Wörter, die ich kenne, aber ich verstehe trotzdem nichts. Das, was von aussen nach einem normalen verbalen Austausch aussieht, ist in Wahrheit ein extrem komplexer, verschachtelter und kryptischer Fachjargon, der sich perfide als normale Sprache tarnt. Die machen das absichtlich, um uns zu demoralisieren, oder?»
«Ach, ich weiss nicht», beschwichtigte er mich. «Wenn man uns beiden dabei zuhört, wie wir einen Patienten besprechen, klingt das für Aussenstehende vielleicht auch verwirrlich.»
«Quatsch», erwiderte ich abschätzig und stützte dann resigniert den Kopf in die Hände.
«Ich glaube, wir sind auf dem Holzweg, Martin. Ich bin mir nach wie vor sicher, dass es bei diesen Vorfällen in Bern im Grunde um Erics Arbeit gehen muss – worum sonst? In der Physik generell und hier am CERN im Speziellen geht es doch um Gewaltiges – um enorme Geldsummen, um wissenschaftlichen Fortschritt, um Reputation, Macht und Ansehen, um Konkurrenz, um neue Technologien!»
Ich fuchtelte wild mit den Armen durch die Luft und wies anklagend auf das eindrückliche farbige Wandbild, das vor uns aufragte – ein Abbild des CMS-Detektors, wie ich gelesen hatte.
«Das muss doch fast zwangsläufig der Kern des Ganzen sein. Aber», frustriert liess ich meine Schultern hängen, «wir kommen nicht weiter. Kein einziger Anhaltspunkt. Nichts. Ich komme mir so unglaublich hilflos vor, so töricht und beschränkt. Ich tappe im Dunkeln.»
Ein leises Räuspern zu meiner Linken liess mich herumfahren.
«Verzeihen Sie, wenn ich mich einmische», meinte ein älterer Mann, der am Tisch neben uns bei einem Espresso einen Wust an Papieren studiert hatte. «Aber ich habe unbeabsichtigt Teile Ihres Gesprächs mitgehört. Kann ich Ihnen vielleicht helfen? Ich arbeite schon viele Jahre hier und kenne mich am CERN recht gut aus.»
Ich musterte unseren Tischnachbarn unauffällig. Ich schätzte ihn auf vielleicht Ende sechzig, Anfang siebzig. Ein liebenswürdiger, bescheiden wirkender Mann mit Brille, der mit angenehmer Stimme berndeutsch sprach. Niemand, der sich in den Vordergrund drängen würde. Unverdächtig, sympathisch.
«Sind Sie ein Physiker?», fragte ich.
Er neigte den Kopf. «Experimentalphysiker, ja.»
Rasch wechselte ich einen Blick mit Martin. Der nickte kaum merklich.
«Das wäre sehr nett, Herr …»
Er lächelte: «Jenni.»
Ich streckte ihm die Hand entgegen.
«Kassandra Bergen», erwiderte ich und schüttelte herzlich seine Rechte. «Und das hier ist Martin Rychener. Wir warten auf einen Freund, der als theoretischer Physiker am CERN arbeitet – er ist gerade an einem Meeting. Er hat uns freundlicherweise herumgeführt, uns die Anlagen gezeigt. Faszinierend», schloss ich enthusiastisch.
«Sind Sie vom Fach?», fragte Herr Jenni höflich.
«Gute Güte, nein», wehrte ich entgeistert ab. «Wir sind Psychiater, alle beide. Und», ich beugte mich vertraulich vor, «zudem sind wir Buchautoren und recherchieren gerade für einen Krimi, der im Wissenschaftsmilieu spielen soll.»
Herr Jenni hob interessiert die Augenbrauen, was mich begeisterte – nach all der höflichen Zerstreutheit, die wir an Erics Fachkollegen bislang bemerkt hatten, war es erfrischend, auf jemanden zu stossen, der ernsthaft wissen wollte, was Martin und ich hier trieben.
«Was für Bücher haben Sie denn bisher geschrieben?»
Ich hüstelte angelegentlich. «Leider noch gar keine – die klinische Arbeit, verstehen Sie, sie nimmt uns dermassen in Anspruch. Es ist wahnsinnig schwierig, genug Zeit für kreative Projekte zu finden. Aber jetzt gehen wir dahinter, nicht wahr? Dafür sind wir ja hier – zum Recherchieren, nicht wahr?»
Ich blickte Martin auffordernd an, und der nickte gehorsam.
«Ah», sagte Herr Jenni nur.
Ich hatte das ungute Gefühl, in den intelligenten Augen hinter den Brillengläsern etwas aufblitzen zu sehen. Durchschaute er die Schwindelei? Oder nahm er uns unsere Geschichte ab? Wieviel von unserem Gespräch hatte er mitangehört? Und wieviel davon verstanden und richtig eingeordnet?
«Und in welche Richtung recherchieren Sie?»
Täuschte ich mich, oder lag in seinen Worten ein Hauch Ironie, verborgen hinter der Freundlichkeit?
«Unsere Handlungsskizze», schaltete Martin sich ein, «sieht vor, dass ein theoretischer Physiker sich mit kriminellen Machenschaften konfrontiert sieht. Es geht um Geld, Reputation, Konkurrenz, Ruhm, um den Missbrauch von Forschungsergebnissen. Wir benötigen nun eine solide Wissensgrundlage, um die Zusammenhänge richtig darzustellen. Deshalb möchten wir natürlich von den Experten wissen, wo innerhalb des Fachgebiets solche Machenschaften überhaupt denkbar wären.»
Herr Jenni sah mich verblüfft an. «Kriminalität? Am CERN?»
Ich zuckte mit den Achseln. «Oder generell irgendwo im Wirkungsfeld der Physik.»
Folge 32
Jenni rieb sich nachdenklich den Nacken. «Das ist nicht so einfach. Vielleicht», meinte er zweifelnd, «jemand von der Administration, der in der Buchhaltung betrügt? Am CERN arbeiten ja bei weiten nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ganz viele andere Berufsgruppen. Und immerhin geht es um gewaltige Geldsummen und äusserst komplexe, verschachtelte Transaktionen. So etwas wäre natürlich theoretisch immer vorstellbar.»
«Ja, schon», drängte ich. «Aber unter den Physikern selbst? Oder den Technikern und Ingenieuren? Gäbe es da gute Gründe, warum jemand kriminell werden könnte? Wegen Geld vielleicht?»
Herr Jenni schien ernsthaft ratlos. «Geld? Wie meinen Sie das?»
Ich kämpfte mit meiner Ungeduld. Das Konzept von Geld, von Noten und Münzen, von Soll und Haben konnte doch diesen Wissenschaftlern nicht allesamt fremd sein, oder?
«Wir Krimiautoren», lächelte ich charmant, «halten uns an ein grundsätzliches Motto: Folge dem Geld. Und wenn man sich am CERN so umschaut», ich machte eine Geste, die den ganzen hohen Raum in seiner aussergewöhnlichen Bauweise umfasste, «dann muss hier eine ganz beträchtliche Menge Geld fliessen. Könnte niemand versucht sein, sich zu bereichern, seinen Vorteil zu suchen?»
Herr Jenni bemühte sich, das war offensichtlich. Ein wenig verzweifelt meinte er: «Aber wie sollte ein einzelner Mensch das denn machen? Natürlich fliesst hier sehr viel Geld, aber nicht in die Taschen Einzelner. Es geht darum, Apparate und Projekte zu finanzieren, die Löhne der Angestellten zu decken, damit wir weiterforschen, weiterexperimentieren können. Das CERN, müssen Sie wissen, ist nicht dafür gedacht, finanziell einträglich zu sein. Es geht weder um Gewinn noch Rentabilität. Das CERN steht für die wissenschaftliche Neugier, das Entdecken. Und die Resultate, die hier gefunden werden, stehen allen Kollaborationspartnern offen zur Verfügung, diese können überall auf der Welt unsere Rohdaten einsehen, auswerten und analysieren. Es ist dem CERN ausserdem ein Anliegen, dass unsere physikalischen Resultate in Fachzeitschriften mit open access veröffentlicht werden, so dass auch finanziell weniger Begüterte Zugang dazu erhalten, nicht nur solche, die sich teure Fachzeitschriften leisten können. Und je nach Niveau der Adressaten aufbereitete Daten werden mit einer gewissen Verzögerung breit öffentlich zur Verfügung gestellt, zum Beispiel für Hochschulen. Wir verstecken nichts.»
«Wir Ärzte», erklärte Martin, «stehen fortwährend unter hohem finanziellem Druck von Seiten der Kostenträger, also mehrheitlich der Krankenversicherungen, aber auch von Seiten der Politik. Wir müssen uns permanent für unsere Arbeit rechtfertigen und sollten überall sparen. Ist das bei Ihnen nicht so?»
Herr Jenni furchte die Stirn. «Ich könnte nicht behaupten, dass wir völlig von solchen Sorgen verschont wären, aber im Vergleich mit anderen Bereichen – mit Ihrem zum Beispiel, wie es scheint – dürfen wir zufrieden sein. Die Jahresbeiträge der Mitgliedstaaten, auf denen ein Grossteil der CERN-Finanzierung ruht, fliessen trotz der schwierigen Zeiten weiter – es steigert die Reputation einer Nation, wenn sie beim CERN mitmacht; das CERN ist so angesehen, dass es sogar einen Beobachterposten an der UNO hat. Das motiviert die Länder natürlich, dabeizubleiben. Und die entsprechenden Abkommen sind langfristig angelegt, das gibt viel Sicherheit in der Planung. Die Kollaborationen – die Projekte beziehungsweise Experimente, wie zum Beispiel ATLAS – sind noch einmal anderweitig finanziert. Die ganze Geldgeschichte ist hochkomplex, aber dafür breitbasig und stabil abgestützt.»
«Okay, also stehen Sie finanziell nicht ausgesprochen unter Druck», subsummierte Martin. «Aber doch geht es um Grosses, um gewaltige Entdeckungen von globaler Bedeutung, die für die Industrie hochrelevant sein könnten. Die Erkenntnisse der Physik haben in der Vergangenheit regelmässig zu gewaltigen Durchbrüchen in Sachen technischem Fortschritt geführt, und heute, wenn ich das richtig verstehe, haben viele Forscher das Gefühl, dass ein weiterer Erkenntnissprung anstehen könnte, eine ganz neue Physik, ein völlig neues Verständnis. Scharrt die Industrie da nicht mit den Füssen?»
Herr Jenni lächelte milde. «Sie haben schon Recht, was den technischen Fortschritt angeht – aber Sie lassen dabei einen ganz zentralen Aspekt ausser Acht: die Zeit. Den nächsten grossen Sprung, wie Sie es nennen, erwartet und ersehnt man schon seit Jahrzehnten. Und sogar wenn er passieren würde, hier und heute – der Weg vom theoretischen Resultat zur allfällig praktischen Anwendung im Sinne eines technischen Fortschritts ist lang, viele Jahrzehnte lang. Wir denken hier in anderen Zeiträumen, als Sie es sich womöglich gewohnt sind. Es hat 25 Jahre gedauert, den LHC zu bauen – 25 Jahre. Und wir planen heute schon die nächste Generation von Beschleunigern, von Experimenten. Unser Blick in die Zukunft erstreckt sich über Jahrzehnte. Wir haben Geduld.»
«Aber ein Krimineller», fügte ich nachdenklich hinzu, «hat diese Geduld nicht. Gier funktioniert nicht auf Jahrzehnte hinaus. Gier will alles jetzt, sofort, und viel davon, richtig? Sie will keine Hoffnung, keine Optionen, keine Wahrscheinlichkeiten. Gier ist etwas sehr Konkretes.»
Folge 33
Er nickte freundlich. «Das CERN ermöglicht durchaus technischen Fortschritt, wissen Sie – aber weniger über die Erkenntnisse, die wir gewinnen, als vielmehr wegen der immensen Apparaturen, die für unsere Arbeit überhaupt nötig sind. Diese Anlagen müssen entworfen, getestet und produziert werden, hier werfen sich ganze Staaten in die Bresche, investieren Forschungsgelder und eigene Mittel, um Bestandteile zu bauen. Dabei entsteht Fortschritt, ein Zuwachs von Wissen und Können. Als Frucht harter Arbeit. Und harte Arbeit, so sagt man, erfreut sich unter Kriminellen geringer Beliebtheit.»
«In Ordnung, ich habe es begriffen», sagte ich grimmig. «Niemand schleicht um ihre Detektoren, in der Hoffnung, sich ein Resultat schnappen und damit rasch viel Geld machen zu können. Aber wie steht es mit Reputation, mit Ruhm und Ehre? Ich meine, hier wimmelt es von Physikern, von Professoren. Sind nicht viele davon Narzissten, Diven, die es sich gewohnt sind, Recht zu haben, ihren Willen zu bekommen? Ich könnte mir vorstellen, dass im Kampf darum, als Erster die eine grosse neue Theorie zu finden, durchaus mit harten Bandagen gekämpft wird. Oder stimmt das auch nicht?»
Herr Jenni lachte. «Doch, Diven gibt es hier durchaus, und so eine Kollaboration gleicht bisweilen einer Tüte Mücken – viel Gewimmel, viel Gesumme, schwer zu organisieren. Die Konkurrenz, der Kampf um Ruhm und Ansehen – all das existiert hier natürlich auch. Wir sind Menschen wie alle anderen auch. Aber seltsamerweise», er beugte sich ein wenig vor, «funktioniert die Zusammenarbeit von so vielen unterschiedlichen Menschen im CERN ausgezeichnet. Es ist im Grunde ein Rätsel, wie das möglich ist, immer schon möglich war – während des kalten Kriegs war das CERN der einzige Ort auf der Welt, an dem sowjetische und westliche Wissenschaftler direkt zusammenarbeiteten. Heute arbeiten hier Tausende von Menschen, die sich in Nationalität, Alter, Berufszugehörigkeit, Religion und politischer Weltanschauung massgeblich unterscheiden. Und doch geht es, und doch finden wir uns, irgendwie. Die Kooperation, das Familiäre und Verbindende zwischen Wissenschaftlern aus allen Nationen ist tatsächlich etwas Besonderes. Es werden sogar Experten für Management ans CERN geschickt, um zu untersuchen, wie sich dieser Haufen Wissenschaftler aus aller Herren Länder organisieren kann – es ist wie gesagt nicht ganz einfach, aber es ist kein Chaos, es funktioniert, und es ist ein Modell dafür, wie es gelingen kann, dass so unterschiedliche Menschen kooperieren.»
Ich verzog ungläubig das Gesicht. «Das klingt beinahe kitschig.»
«Nicht wahr?» Er zwinkerte. «Und wie gesagt: Keine Ahnung, warum es klappt. Aber das tut es. Vielleicht», er strich sich über das Kinn, «geht das in Richtung Schwarmintelligenz? Die geteilte Motivation und das gemeinsame Ziel, die grösser sind als das Konkurrenzdenken, das Wissen darum, dass wir es nur gemeinsam, in der Gruppe schaffen können – allein bringt das niemand zustande. Früher gab es schon üble Primadonnen unter den Physikern, ja. Aber heute, da die Projekte immer grösser werden und mehr und mehr Leute involviert sind, kann nur noch einen höheren Rang und eine Führungsposition erreichen, wer sich auf Kooperation versteht. So entsteht eine gewisse Selektion in die richtige Richtung.»
Herr Jenni blickte auf seine Armbanduhr. «Oh, Himmel, so spät? Ich muss an ein Meeting.»
Er raffte seine Dokumente zu einem unordentlichen Haufen zusammen.
«Ich hoffe, ich konnte Ihnen für Ihren Krimi», er zwinkerte wieder, diesmal unmissverständlich ironisch, «ein wenig helfen.» Er stand auf, wandte sich zum Gehen, hielt dann aber noch einmal inne.
«Das hier», sagte er mit Blick auf die sich in Grüppchen und Gruppen unterhaltenden, debattierenden, disputierenden Menschen rundum, «ist es, was das CERN ausmacht. Viele denken primär an die Beschleuniger und Detektoren, an die Technik, die Apparate, die riesigen Dimensionen. Aber das CERN besteht vor allem aus Menschen. Der Austausch, die geteilten Ideen, die gemeinsam entwickelten Projekte, all das macht den Geist hier aus. Es ist ein Privileg, ein Cernois zu sein. Und das Wissen um diesen Umstand, so denke ich, verbindet uns alle.»
Er lächelte uns freundlich zu, neigte zum Abschied den Kopf und eilte dann davon.
«Der hat uns kein Wort von unserer Tarnung geglaubt, wetten?», murmelte ich missmutig.
«Definitiv nicht», erwiderte Martin grinsend. «Und er hat jede unserer Ideen treffsicher demontiert. Wir stehen wieder ganz am Anfang. Oder, um es noch deutlicher zu sagen: Wir stehen im Wald und finden keinen Weg hinaus.»
«Was war das denn?» Eine ungeduldige Männerstimme.
Ich wandte den Kopf – Eric Dubach war zurück, unbemerkt war er an unseren Tisch getreten und blickte stirnrunzelnd der sich entfernenden Gestalt unseres hilfsbereiten Experimentalphysikers nach.
«Ein Herr Jenni», erklärte ich munter. «Ein wirklich netter älterer Herr. Weiss erstaunlich viel über das CERN und war bereit, uns ein bisschen was zu erzählen.»
Eric sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. «Weiss erstaunlich viel über das CERN? Ist euch klar, wer das war? Peter Jenni. Seines Zeichens einer der Gründerväter des ATLAS-Experiments. Er war viele Jahre lang Spokesperson der Kollaboration, also Projektleiter – eine gewaltige Aufgabe und hochdotiert. Ist für ATLAS auf dem halben Globus rumgereist. Einer der Grossen hier. Und ihr denkt, er sei ein netter älterer Herr? Meine Güte.»
Folge 34
Ich wollte ihm eben eine gepfefferte Antwort geben, als der Klingelton von Erics Mobiltelefon erklang. Eric fischte eilig in seiner Hosentasche nach dem Gerät und nahm den Anruf an, sich halb von uns abwendend.
«Spokesperson? Allerhand», meinte Martin leise. «Wer hätte das gedacht. Und wir merken natürlich wieder gar nichts. Jetzt komme ich mir noch dümmer vor. Wenn das überhaupt noch möglich ist.»
«Wie hätten wir das ahnen können?», fauchte ich halblaut, um den mit grimmigem Gesichtsausdruck telefonierenden Eric nicht zu stören. «Einen Mann von diesem Format stellt man sich doch deutlich pompöser und selbstgerechter vor.»
«So viel zu den Diven», meinte Martin nur. «Der war mal ganz sicher keine.»
«Aber umso gewichtiger scheint mir, was er uns berichtet hat, nun, da wir wissen, wer er ist. Unser Globalverdacht gegen das Feld der Physiker hat sich trotz all unserer Investitionen nicht erhärtet, Martin, im Gegenteil – er kommt mir immer fadenscheiniger vor. Aber was nun? Wie machen wir weiter? Hast du eine Idee?»
Eric enthob Martin von der Pflicht, mir eine sinnvolle und zieldienliche Antwort geben zu müssen. Mit finsterem Blick schob er sein Telefon wieder in die Hosentasche.
«Das war meine Mutter», sagte er knapp. «Sie hat eben einen seltsamen Anruf erhalten – vorgeblich eine Telefonumfrage von einer Sicherheitsfirma. Eine besonders liebenswürdige und angenehme junge Frau, hat sie gesagt, die sich freundlich mit ihr über die Gefahren des modernen Grossstadtlebens unterhalten hat, über die zunehmende Kriminalität. Und die dann, je länger das Gespräch dauerte, immer konkreter wurde. Wie denn meine Mutter sicherstelle, dass ihr Schmuck und Wertsachen nicht gestohlen werden könnten? Ob Sie ein spezielles Versteck habe, oder ob sie sie in einem Bankschliessfach aufbewahren würde?»
Ich spürte, wie mein Mund aufklappte. «Wie bitte? So eine Dreistigkeit!»
«Das kann doch nicht wahr sein», stiess Martin hervor. «Was hat deine Mutter ihr gesagt?»
Erics Blick verfinsterte sie noch mehr. «Du kennst meine Mutter, Martin, ja? Sie mag zerbrechlich und hilflos wirken, aber das täuscht. Sie kann ganz schön grantig werden, wenn man ihr blöd kommt. Statt sich mit einer Ausrede aus der Affäre zu ziehen, hat sie die Anruferin direkt konfrontiert. Ob diese glaube, dass sie meine Mutter für dumm verkaufen könne? Ob sie wirklich hoffe, so leicht an Information zu kommen? Ob sie allenfalls sogar diejenige sei, die hinter den seltsamen Vorfällen stecke? Ob sie selbst kriminelle Pläne im Sinn habe? Was sie denn die ganze Zeit suche? Da habe die Anruferin wortlos aufgehängt.»
Eine Zeitlang herrschte Schweigen. «Das war», sagte ich schliesslich vorsichtig, «womöglich ein wenig voreilig. Falls diese Frau tatsächlich hinter den Vorfällen bei euch zuhause steckt, oder doch zumindest mit von der Partie ist, dann weiss sie jetzt, dass wir ihr auf die Schliche gekommen sind. Dass sie nicht mehr unentdeckt agiert. Das kann gut sein oder auch schlecht. Ich habe ehrlicherweise ein etwas mulmiges Gefühl dabei.»
«Und wir», grollte Eric, «hängen hier am CERN herum, während meine Mutter zu Hause unter Beschuss gerät. So eine Idiotie! Ich habe es euch von Anfang an gesagt – es geht nicht um mich! Glaubt ihr mir jetzt endlich?»
«Es könnte natürlich auch nur das gewesen sein – eine telefonische Umfrage», gab Martin zu bedenken.
Er sah nicht aus, als ob er selbst daran glaubte.
«Wir fahren zurück», entschied ich. «Womöglich hattest du die ganze Zeit Recht, Eric, und die Physik war eine Sackgasse. Wir müssen noch einmal ganz von vorne anfangen, alles grundlegend überdenken. Das ist eine ganz neue Entwicklung. Wonach hat die Anruferin gefragt? Schmuck und Wertsachen. Hmm…»
Seufzend holte ich mein Handy hervor. «Schauen wir, wann der nächste Zug zurück nach Bern fährt. Wir sind hier fertig.»
Kapitel 10
Es dauerte zwei Tage, ehe ich mich wieder mit dem Fall Dubach beschäftigen konnte. Schliesslich, so hielt ich mir vor Augen, musste ich pragmatisch bleiben – ich konnte für meinen heimlichen Ermittlerjob nicht grenzenlos viel Zeit erübrigen, besonders nicht, wenn ich Marc und unseren Töchtern Sand in die Augen streuen und unterhalb des Radars fliegen wollte. Ich hatte eine Familie zu versorgen, ich wurde gebraucht, und ich hatte ein Image zu wahren. Die Rolle der entspannten Mutter und friedfertigen Ehefrau war anstrengender, als ich vermutet hätte. Und auch wenn ich in der Klinik mehr als genug Überzeit hatte, die kompensiert werden wollte, tat ich mir doch keinen Gefallen, wenn sich andernorts zu viele Aufgaben stauten.
Am Freitag indes war es so weit. Martin, Eric und ich hatten auf den späteren Nachmittag hin ein neuerliches Treffen bei Anna Dubach vereinbart. Wir wollten die Lage besprechen, ganz neu anfangen. Wie auch immer wir das anstellen würden.
Mit ausdrücklicher Billigung des leitenden Arztes – ich hatte Martin unter acerbischem Verweis auf mein Überzeitkonto keine Wahl gelassen – verliess ich die Klinik bereits um drei Uhr. Mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern marschierte ich durch matschig-kalten Schneeregen zu meinem Auto.
Es dauerte eine ganze Weile, bis die Klimaanlage so weit hochgefahren war, dass das Gebläse die angelaufenen Scheiben freipusten und ich endlich losfahren konnte.
Folge 35
Ich war dankbar, dass der Verkehr auf der Autobahn und in der Stadt sich einigermassen in Grenzen hielt. Feuchter Schnee peitschte durch die Luft, die Sicht war schlecht, die Fahrbahn rutschig.
Wie gewohnt dauerte es eine ganze Weile, ehe ich in einer Seitenstrasse einige Gehminuten von Anna Dubachs Wohnung einen Parkplatz fand, der gross genug war, um meine begrenzten Fähigkeiten im Seitwärts-Einparkieren nicht zu überfordern. Dass es wegen des Schmuddelwetters keine neugierigen Zuschauer hatte, die Maulaffen hätten feilhalten können, als ich mich unter ungelenkem Manövrieren in die Parklücke zwängte, war ein deutliches Plus.
Als ich im Dubachschen Hauseingang angekommen war, warf ich einen raschen Blick auf die Uhr. Erst zwanzig vor vier – ich war zu früh. Ich kniff die Augen zusammen, um mich gegen den kalten Winterwind zu schützen, und drückte mit klammen Fingern auf den Klingelknopf zu Annas Wohnung.
Nichts.
Ich drückte erneut, zunehmend ungeduldig – es war wirklich ungemütlich hier draussen. Wo war Frau Dubach? War sie noch einkaufen gegangen?
Als mein Klingeln auch nach einer halben Minute unbeantwortet blieb, betätigte ich entschlossen die Klingel von Anna Dubachs Nachbarin – Frau Sollberger würde sich vielleicht erbarmen und mich ins Treppenhaus lassen.
Ein Knacken in der Gegensprechanlage.
«Ja?» Die Stimme der Nachbarin klang ängstlich, gepresst.
«Frau Sollberger?», sagte ich in betont freundlichem, beruhigendem Tonfall. «Mein Name ist Kassandra Bergen, ich bin eine Bekannte von Anna Dubach. Ich wollte…»
«Rasch!», stiess die angsterfüllte Stimme hervor. «In Anna Dubachs Wohnung ist ganz komischer Lärm. Ich habe Angst – kommen Sie schnell!»
Der Türöffner summte. Ein, zwei Herzschläge lang starrte ich noch auf die Gegensprechanlage, mit offenem Mund, unfähig, mich zu rühren. Dann kam Bewegung in mich. Ich stiess die Tür auf und rannte die Treppe hoch.
Ich bewältigte die beiden Stockwerke in einem Tempo, das ich mir nicht zugetraut hätte. Als ich atemlos auf dem Treppenabsatz vor Anna Dubachs Wohnung ankam, stand eine ältere Dame in Kittelschürze schon händeringend und mit besorgtem Blick da.
«Gut, dass Sie da sind!», hauchte sie. «Sie müssen etwas tun!»
«Was ist denn los?», japste ich, nach Luft ringend, und stützte mich beidhändig auf meinen Knien auf.
Frau Sollberger verzichtete auf eine Antwort, denn exakt in dem Augenblick brach jenseits der Dubachschen Wohnungstür die Hölle los – ich hörte Anna Dubach um Hilfe schreien, hörte die Geräusche von Zusammenstössen und Handgemenge und einen unterdrückten Wutschrei, der definitiv nicht von Anna kam. Eine Männerstimme.
«Rufen Sie die Polizei!», befahl ich Frau Sollberger knapp.
Und dann, noch ehe ich mir weitergehende Gedanken darüber machen konnte, ob ich das Richtige tat, griff ich nach der Türklinke.
Die Tür war unverschlossen. Ich stolperte in den Eingangsbereich hinein, verschaffte mir hektisch einen Überblick.
Anna Dubach, auf den Knien, sich mit den Armen über dem Kopf schützend, über ihr eine Gestalt mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze, ein kräftiger, grossgewachsener Mann, der sich brüllend übers Gesicht wischte und mit einer Hand grob an Annas Haaren riss.
«Schluss jetzt!», brüllte ich mit maximaler Lautstärke. «Lassen Sie sie los, verdammt nochmal!»
Die Gestalt fuhr herum. Ich schrak zurück – der Mann hatte kein Gesicht. Dann fasste ich mich – er trug eine Sturmmütze unter seiner Kapuze. Tränende helle Augen blinzelten mich bösartig an.
Der Mann duckte sich, setzte zum Sprung an. Verzweifelt blickte ich um mich, suchte nach etwas, was ich als Waffe benutzen konnte. Fand nichts.
Und dann – ein lautes, metallisches Scheppern. Schmerzensgeheul des Mannes. Anna Dubach, noch immer auf den Knien, hatte sich einen Schirmständer aus Kupfer gegriffen und ihn dem Mann beherzt vor die Schienbeine gehauen.
Der Mann taumelte rückwärts. Ich preschte vor, blindlings, um Anna vor dem drohenden Vergeltungsschlag zu bewahren.
«Verschwinden Sie gefälligst!», kreischte ich, und stürzte mit ausgestreckten Fingernägeln wie eine angreifende Harpyie auf den Mann zu.
«Ich habe die Polizei gerufen!», brüllte Frau Sollberger vom Treppenhaus her, aus sicherer Deckung offenbar, aber durchdringend laut. «Sie werden jeden Moment hier sein!»
Das, so schien es, genügte, um dem Angreifer vor Augen zu führen, dass ein weiteres Verweilen sich nicht zu seinem Vorteil ausgewirkt hätte.
Mit einem einzigen, blitzschnellen Stoss mit dem Ellbogen traf er mich an der Seite meines Gesichts, und ich ging zu Boden wie ein gefällter Baum. Mein Hinterkopf schlug auf dem Fussboden auf, meine Sicht verschwamm, Sterne blitzten vor meinem Gesichtsfeld auf, und ich hörte wie durch Watte weiteres Brüllen vom Treppenhaus her, dann das Geräusch schneller, verklingender Tritte.
Mir wurde schwarz vor Augen. Mit Mühe schaffte ich es, mich ans Bewusstsein zu klammern, zu verhindern, dass ich abglitt in den Strudel, der mich in bodenlose Tiefe ziehen wollte.
«Ist … ist er weg?», hörte ich mich tonlos keuchen.
«Ja.» Das war Anna Dubach, und ihre Stimme klang erstaunlich fest. «Er ist weg. Versuchen Sie nicht aufzustehen, geben Sie sich einen Moment Zeit. Warten Sie, ich hole Ihnen ein Kissen.»
Folge 36
Eine halbe Stunde später war die Wohnung voller Menschen. Martin, der zehn Minuten nach mir eingetroffen war, sass an meiner Seite am Küchentisch und tätschelte mir immer wieder unbeholfen die Schulter, während ich missmutig eine Packung tiefgekühlter Erbsen gegen mein rechtes Jochbein drückte. Dort, wo der Ellbogen des Angreifers mich getroffen hatte, bildete sich ein Hämatom von der Grösse Grönlands. Es pochte schmerzhaft, und die Schwellung war beträchtlich. Mein Schädel brummte.
Wir hörten die Stimmen von Anna und Eric aus dem Wohnzimmer. Sie sprachen mit den beiden Polizeibeamten, einer jungen Frau, die das Gespräch führte, und einem älteren Mann. Anna Dubachs Stimme klang ruhig und gefasst zu mir herüber.
«Ich glaube das einfach nicht», grummelte ich. «Ich dachte, ich müsse Frau Dubach retten, sie, die hilflose alte Frau. Stattdessen werde ich ausgeknockt, und wenn Anna Dubach, fünfundsiebzig, dem Kerl nicht eins mit diesem Schirmständer verpasst hätte, wer weiss, wie es ausgegangen wäre. Jetzt sitze ich hier mit meiner gewaltigen Beule, kühle mir das Gesicht und tue mir leid, während Anna rasch ihre Frisur gerichtet hat und nun bereits wieder beherrscht und gemessen Auskunft gibt. Ich fühle mich gerade wie eine komplette Memme.»
Martin grinste. «Anna ist schon aus hartem Holz geschnitzt. Du warst ja am Anfang noch ziemlich benommen und hast womöglich nicht alles mitgekriegt, was sie erzählt hat. Der Kerl habe sich via Gegensprechanlage als Paketbote ausgegeben. Sie hat ihn reingelassen, und als sie ihm dann die Wohnungstür geöffnet hat, habe er sie unvermittelt angesprungen und zurück in die Wohnung gestossen. Er drängte sie offenbar brutal an eine Wand, redete harsch auf sie ein und bedrohte sie, aber Anna griff sich mit der Linken geistesgegenwärtig die Haarspray-Dose auf dem Tischchen neben dem grossen Garderobenspiegel und sprühte ihm eine volle Ladung in die Augen. ‹Mein treues Elnett hat mir schon manches Mal aus der Patsche geholfen, wenn meine Haare nicht so recht wollten, aber so nützlich wie heute war es noch nie›, hat sie lapidar gemeint.»
Ich lachte leise auf. «Die Frau hat Stil. Beeindruckend.»
Dann erhob ich mich mühsam. Meine Beine zitterten.
Martin schoss hoch und griff fürsorglich nach meinem Ellbogen. «Geht es?»
«Wenn eine Frau Mitte siebzig einen vitalen Angreifer mit Elnett und Schirmständer bekämpfen kann, dann wird eine Kassandra Bergen wohl in der Lage sein, sich selbständig aufrecht zu halten», sagte ich mit Würde, löste dezidiert seine Hand von meinem Arm und ging, wenn auch leicht wackelig, nach nebenan, ins Wohnzimmer.
Dort nickte ich den Polizisten, die rasch aufgeblickt hatten, zu und lehnte mich dann gegen eine Wand.
«Und Sie können wirklich nicht sagen, ob Sie den Mann nicht schon irgendwo einmal gesehen hatten?», fragte die junge Frau Anna gerade einfühlsam.
Anna Dubach schüttelte den Kopf. «Er war maskiert, wie gesagt. Ich habe nur die Augen gesehen – hellblau, würde ich sagen, aber schlussendlich haben so viele Leute blaue Augen, nicht wahr? Er war recht gross und kräftig. Aber mehr kann ich nicht sagen.»
«Ist Ihnen noch etwas aufgefallen, Frau Bergen?», wandte sich die Polizistin nun an mich.
Ich zuckte mit den Schultern. «Er trug Jeans, eine dunkle Kapuzenjacke und eine schwarze Sturmmütze aus Strickmaterial. Turnschuhe, wenn ich mich nicht täusche – vielleicht von Adidas? Sie waren hell, weiss oder hellgrau. Keine besonderen Kennzeichen. Nichts, woran ich ihn wiedererkennen würde.»
Die junge Beamtin nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. «Und Sie können nicht mit Gewissheit sagen, ob der Angreifer heute der gleiche Mann ist wie der, von dem Sie sich damals im Tram verfolgt gefühlt haben, Frau Dubach?», vergewisserte sie sich.
«Er müsste es fast gewesen sein. Auch der junge Mann im Tram damals trug eine dunkle Kapuze. Aber der kam mir ehrlich gesagt etwas schlanker vor, von weniger bulligem Körperbau. Eher geschmeidig, schlaksig. Vielleicht täusche ich mich. Meine Augen sind nicht mehr, was sie einmal waren, und ich hatte heute ja nicht Gelegenheit, mir den Angreifer in Ruhe anzusehen, es ging alles so schnell. Aber es ist nicht zu erwarten, dass gleich zwei verschiedene junge Männer in Kapuzenjacken mir nachstellen, oder?»
«Ich habe», meldete Eric sich zu Wort, «ja auch einmal eine verdächtige Gestalt mit Kapuze im Treppenhaus gesehen. Die hätte ich damals auch eher als schlaksig beschrieben, nicht kräftig.»
«Der heute», gab ich trocken zu Protokoll, «war kräftig.»
Ich deutete angelegentlich auf die Beule in meinem Gesicht. Die junge Polizistin lächelte mitfühlend. «Sie sollten das noch einem Arzt zeigen, wissen Sie?»
«Keine Sorge», erwiderte ich. «Ich bin selbst Ärztin, ebenso Herr Rychener hier. Er hat mich schon untersucht und keine Hinweise auf knöcherne Läsionen oder Nervenverletzungen gefunden. Aber beim geringsten Zweifel lasse ich meinen Schädel noch röntgen, versprochen.»
Sie nickte zufrieden. Dann studierte sie ihre Notizen. «Und Sie wissen wirklich nicht, was der Mann von Ihnen gewollt haben könnte?», fragte sie Anna.
Die zuckte mit den Achseln. «Ich habe nicht die geringste Ahnung.»
«Habe ich Sie richtig verstanden? Der Mann habe gerufen ‹Wo ist er? Gib ihn mir endlich›, richtig?»
«Ganz genau», bestätigte Anna. «Und Sie können sich nicht vorstellen, was er damit gemeint haben könnte?» Mit zusammengepressten Lippen schüttelte Anna Dubach den Kopf. «Ich wünschte, ich könnte es.»
Folge 37
Nach einer weiteren halben Stunde waren die Polizisten aufgebrochen.
Sie hatten sich Mühe gegeben, das war offensichtlich, sie hatten sich alles wieder und wieder erzählen lassen, hatten jedes Detail erfragt. Sie würden, so hatten sie versprochen, die Nachbarn befragen und einen Zeugenaufruf machen. Vielleicht konnte jemand zufällig Anhaltspunkte vermitteln, vielleicht hatte jemand den jungen Mann ohne Maske aus dem Haus stürmen sehen.
Dass die Hoffnung gering war, den Angreifer zu identifizieren und zu fassen, hatten sie nicht gesagt. Es war auch nicht nötig. Wir alle wussten, wie dürftig die Faktenlage war. Der Angreifer, so stand zu befürchten, würde unbehelligt wieder in den Schatten verschwinden, aus dem er gekommen war.
Anna Dubach sass noch immer auf ihrem sandfarbenen Sofa. Sie hielt sich sehr aufrecht, und in ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von grimmiger Sturheit. Der Vorfall, da machte ich mir keine Illusionen, hatte sie erschüttert. Aber sie war nicht bereit, sich kleinkriegen zu lassen. Ich setzte mich neben sie. Impulsiv ergriff ich ihre Hand.
«Anna», sagte ich. «Darf ich Anna sagen?»
Sie wandte mir den Kopf zu. «Natürlich, Kassandra.»
Ich verzichtete darauf, sie darauf hinzuweisen, dass niemand ausser Martin Rychener mich bei meinem verhassten vollen Vornamen nennen durfte. Anna Dubach, so entschied ich, hatte diese Ausnahme verdient.
Sanft drückte ich ihre Finger. «Du warst sehr tapfer, Anna. Du hast unglaublich rasch und gewandt reagiert, und ich bewundere deine Haltung.»
Sie lachte, und es klang ein wenig zittrig. «Ich habe nichts anderes gelernt. Früher haben wir noch nicht so Gefühle gezeigt. Aber es hat mich schon mitgenommen.»
Ich nickte mitfühlend und drückte ihre Hand noch ein bisschen fester. Ihre Finger waren kühl und feingliedrig. Zerbrechlich. «Ich muss mich bei dir entschuldigen, Anna», sagte ich bewegt.
Sie blickte mich erstaunt an. «Weswegen?»
«Ich habe einen Kardinalfehler gemacht, von Anfang an. Ich hatte als Zentrum des Rätsels eine ältere Frau und einen jüngeren Mann zur Auswahl. Du gehst mit deinen Freundinnen jassen, strickst und nähst gerne und führst ein beschauliches Leben. Eric ist Physikprofessor, hat globale Kontakte und einen aktiven, vielschichtigen Alltag. Für mich», ich schluckte betreten, «stand von Anfang an zweifellos fest, dass niemand sich für dich interessieren könnte. Dass es um Eric gehen müsse. Ich, als Frau, fand es ganz selbstverständlich, dass hier unweigerlich der Mann die zentrale Figur sein müsse, der Akademiker - dass eine ganz normale Frau von Mitte siebzig unmöglich wichtig genug sein könnte, um Ziel krimineller Machenschaften zu sein. Aber ich habe mich getäuscht.»
Anna winkte ab.
«Dafür musst du dich nicht schämen», meinte sie unbeeindruckt. «Das ging mir ja ganz genauso. Und so ist es noch immer. Ich kann mir nicht vorstellen, warum irgendjemand mich angreifen sollte. Das alles ist einfach absurd.»
Ich liess ihre Hand los. «Es muss einen Grund geben. Einen sehr guten Grund, für den jemand bereit ist, zunehmende Risiken einzugehen. Wo ist er? Gib ihn mir endlich! Ich dachte zuerst, mit er sei Eric gemeint. Aber gib ihn mir! spricht dafür, dass es sich um einen Gegenstand handeln muss, etwas Kleineres, etwas, was du übergeben könntest. Denk nach, Anna. Was könnte gemeint sein?»
Entnervt stand sie auf.
«Ich gebe mir ja Mühe!», rief sie aus, die arthrotischen Hände verwerfend. «Aber ich verstehe es nicht! Es müsste etwas Wertvolles sein. Aber ich besitze nichts Wertvolles! Du hast meine Schmuckschatulle gesehen - ich habe ganz wenige Stücke von Wert, und die liegen alle nach wie vor in ihrem Behältnis. Daran ist nichts Geheimnisvolles.»
«Die Frau am Telefon vorgestern hat nach Schmuck und Wertsachen gefragt, richtig?», schaltete Martin sich ein.
Anna nickte bestätigend.
«Vielleicht geht es um etwas, was anderweitig von Wert ist?», mutmasste Martin. «Er, es handelt sich also um etwas mit einem männlichen Artikel. Der Brief? Der Vertrag? So etwas? Etwas Juristisches? Ein Dokument?»
«Vielleicht der Garantieschein für meine neue Heizdecke?», meinte Anna trocken. «Ansonsten wüsste ich nichts, was für einen Verbrecher von Interesse sein könnte. Mein Testament? Sicher nicht, ich habe ja nicht viel zu vererben, und das geht alles an Eric. Der Kaufvertrag für diese Wohnung hier? Kaum.»
«Gehen wir das Ganze mal von der anderen Seite her an, von der Motiv-Seite», schlug ich vor. «Aus was für Gründen begeht man Verbrechen?»
«Geld», sagte Martin sofort.
«Aber ich habe kein Geld!», beharrte Anna fuchsig. «Auf jeden Fall nicht die Art von Geld, die für Verbrecher interessant wäre. Meine Rente wird die nicht hinter dem Ofen hervorlocken.»
«Rache?», schlug Eric stirnrunzelnd vor.
«Um Himmels Willen!», fuhr seine Mutter ihn an. «Siehst du mich als Figur in einer griechischen Tragödie? Wer sollte sich an mir denn rächen wollen? Etwa Hanna Hugentobler, weil ich sie dauernd im Jassen schlage?»
Ich grinste.
«Information?», stellte ich in den Raum. «Wissen?» «Was meinst du damit?», fragte Eric.
Folge 38
ch hob die Hände. «Vielleicht weiss Anna etwas, was sie gefährlich macht? Womöglich, ohne dass ihr das bewusst wäre? Wie wäre es mit ‹der Beweis›? Auch dieses Wort führt einen männlichen Artikel.»
«Ach, das ist doch alles dummes Zeug», schimpfte Anna, die nun ruhelos im Wohnzimmer auf und ab marschierte. «Ich bin sicher, das Ganze ist eine Verwechslung. Vielleicht suchen die in Wahrheit eine andere Anna Dubach und sind nur irrtümlich an mich geraten. Eine Millionenerbin womöglich, oder eine ehemalige Spionin.»
«Falls dem so wäre, wäre es ihr Pech», meinte Martin launig. «Sie wären gründlich an die Falsche geraten, so, wie du dich heute gewehrt hast.»
Ich hob den Kopf. «Ja, warum eigentlich?»
«Was meinst du damit?», wollte Eric wissen.
Ich fuchtelte mit den Händen durch die Luft. «Na, diese Reaktion. Versteh mich nicht falsch, Anna, ich bewundere dich von Herzen für deine Geistesgegenwart und Beherztheit. Aber ist es nicht etwas ungewöhnlich, dass eine Fünfundsiebzigjährige sich dermassen dezidiert zur Wehr setzen kann?»
«Willst du damit am Ende noch andeuten, dass du mich tatsächlich für eine ehemalige Spionin hältst?», meinte Anna vorwurfsvoll.
Ungeduldig winkte ich ab. «Nein, natürlich nicht. Aber wer von deinen Jasskolleginnen würde in einer ähnlichen Situation so unerschrocken und entschlossen reagieren wie du? Wer würde sich instinktiv wehren und sich dann nachher so rasch wieder sammeln? Das ist doch aussergewöhnlich.»
Anna blieb stehen. «Na, Hanna Hugentobler ganz bestimmt nicht. Die würde gleich in Ohnmacht fallen, die macht ja ständig ein Riesentheater, schon nur, wenn sie mal eine Jassrunde verliert. Ich habe früh gelernt, für mich einzustehen, hart zu sein. Als Kind auf dem Bauernhof, da musste ich zupacken, da gab es keine Wehleidigkeiten. Und dann, während der 68er Jahre …»
Sie verstummte.
Wie gebannt beobachtete ich ihr Gesicht. Sah, wie sie die Stirn runzelte, sah die Palette an Emotionen, die über ihre Züge zogen, eine nach der anderen.
Zweifel. Erstaunen. Erkenntnis. Erschrecken.
«Mutter?», setzte Eric an.
Ich brachte ihn mit einer wütenden Handbewegung zum Schweigen. Nicht jetzt. Er durfte ihren Gedankengang nicht unterbrechen.
Annas Kopf neigte sich, ihre Miene eine Maske ungläubigen Schreckens, der Blick in unendlicher Ferne verloren. Ihre Rechte flog unwillkürlich an ihren Hals. Auf ihren Wangen bildeten sich grellrote Flecken.
«Oh», sagte sie. Dann, nach langem Schweigen, noch einmal: «Oh.»
Kapitel 11
Elektrische Spannung knisterte im Raum. Wir alle starrten atemlos auf Anna. Sie schwankte. Ihre Hand flog zu ihrem Mund. «Aber das kann doch nicht … Es ist völlig unmöglich …»
Eric sprang auf. Sachte fasste er seine Mutter am Arm.
«Komm, setz dich hin», sagte er voller Besorgnis. «Du bist ja kreideweiss geworden.»
Ich war mir nicht sicher, ob Anna ihn überhaupt hörte. Mechanisch liess sie sich in einen der beiden gepolsterten Holzstühle gleiten. Ihre Hände umklammerten unwillkürlich die Armlehnen. Ihr Oberkörper, sonst so aufrecht, war vorgebeugt. Anna Dubach, das war offenkundig, war nur körperlich im Raum anwesend. Ihr Geist war ganz woanders.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ihr Blick klarer wurde, bis ihr Kopf sich hob. Dann jedoch sah sie mich direkt an, und in ihren mattblauen Augen funkelte etwas auf. Etwas Starkes, etwas Neues. «Ja», sagte sie mit klarer, scharfer Stimme. «Das könnte sein. Es scheint unglaublich, aber es könnte sein.»
Dann wandte sie sich ihrem Sohn zu. «Ich war dir immer eine gute Mutter, hoffe ich, und deinem Vater, meinem lieben Otto, eine gute Frau», setzte sie an.
«Natürlich warst du das», begann Eric, aber Anna schüttelte rasch den Kopf, und er verstummte.
«Als ich Otto kennenlernte, als er mich bat, ihn zu heiraten, und als du dann auf die Welt kamst, war mir klar, dass die Familie das Wichtigste in meinem Leben sein musste. Du weisst, ich hatte einen Beruf gelernt, ich war Lehrerin, und die Arbeit war mir immer wichtig gewesen. Aber als du ganz klein warst, in den Siebzigerjahren, war es noch nicht üblich, dass eine Mutter neben der Kindererziehung noch berufstätig war. Die wenigen Frauen, die das taten, wurden schräg angesehen. Otto hatte eine gute Stelle, er verdiente genug und hatte es nicht nötig, seine Frau arbeiten zu lassen. Ich habe das respektiert, ich wollte ihm keine Scherereien machen und blieb zuhause, zumindest bis du alt genug warst, dass ich hier und da eine Stellvertretung übernehmen konnte. Ich war, so könnte man sagen, eine brave Schweizer Frau. Nur – das ist nicht immer so gewesen. Die junge Anna Haldemann war eine ganz andere Art Mensch als später die verheiratete Anna Dubach.»
Nun breitete sich ein Lächeln über ihre Züge. «Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Mir wurde immer klar gemacht, dass man den Eltern, besonders dem Vater, und den Lehrern zu gehorchen habe. Kinder durften damals noch nicht einmal reden, wenn die Erwachsenen sie nicht dazu aufforderten – das ist heute komplett anders, fast zu sehr, gute Güte! Ich wusste das, ich war so erzogen worden. Aber da war etwas in mir, das sich auflehnte. Etwas Rebellisches, Wildes. Meine Mutter hat manches Mal verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen wegen mir. ‹Kind, du bringst mich noch ins frühe Grab›, hat sie immer gerufen.»
Fortsetzung folgt
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