FortsetzungsromanLesen Sie die Folgen 60 – 89 von «Jenseits der Gier»
Im neuen Kriminalroman von Esther Pauchard will sich eine Oberärztin um die betagte Mutter eines früheren Schulkollegen kümmern – und gerät dabei in gefährliche Tiefen.
Die Folgen 1 bis 29 des Romans finden Sie hier: «Jenseits der Gier» 1 – 29
Und die Folgen 30 bis 59 hier: «Jenseits der Gier 30 – 59»
Folge 60
Anna Dubach, wie sie dasass, gerade aufgerichtet und gelassen, strahlte etwas Magnetisches aus, das ich bei ihr noch nie erlebt hatte. Eine unerschütterliche, machtvolle Präsenz. Es kam mir vor, als hätte die Erde für einen Moment aufgehört, sich zu drehen, als würde alles um uns herum den Atem anhalten.
«Was sitzen Sie nur da und starren mich an!», brüllte der Alte sie an. «Ihr Eindringen ist eine Frechheit! Wie ich schon sagte - ich rufe die Polizei, ich zeige Sie an! Was haben Sie hier zu suchen? Reden Sie endlich, verdammt!»
Anna tat nichts dergleichen. Sie schwieg, sah ihn an, und in diesem Blick lag so unendlich viel mehr, als Worte es vermocht hätten. Keine Anklage, keine Forderung. Ein ruhiges Forschen. Und mehr noch: Verständnis. Entwaffnend.
Fasziniert verfolgte ich die Wirkung, die Annas reine, würdevolle Präsenz auf Max Weber ausübte. Schweissperlen traten auf seine Stirn. Fahrig tastete er nach einem zerknitterten Stofftaschentuch in seiner Hosentasche, rieb sich grob über das Gesicht.
«Das muss ich mir nicht bieten lassen!», grollte er. «Eine verdammte Frechheit, das!»
Anna schwieg weiter. Die Stille dehnte sich aus.
«Sie sind also die Flamme, über die Erich damals berichtet hat», blaffte Weber abschätzig, nun offenbar seine Taktik ändernd. «Wir wussten sofort, dass er einen schweren Fehler machte. Eine ganz gewöhnliche Frau, Lehrerin noch dazu, und am Ende noch mit kommunistischen Ideen! Frauenrechtlerin, um dem Fass den Deckel aufzusetzen. Vater war empört, er sah rot. So eine Frau, in unserer Familie? Kam überhaupt nicht in Frage. Wir Webers waren immer schon angesehene Leute gewesen, Hotelbesitzer über Generationen, erfolgreiche Geschäftsleute. Und meine Mutter, die war etwas Besonderes! Böhmischer Adel, direkt verwandt mit der Familie Lobkowitz», er warf sich in die Brust, «lebte in der Tschechei mit ihrer Familie in einem Schloss, mit umfangreichen Ländereien, bis sie durch den Krieg und die verdammten Kommunisten vertrieben wurde und in die Schweiz fliehen musste. Alles mussten sie und ihre Familie zurücklassen, nur den Familienschmuck konnten sie retten. So eine Mutter hat Erich gehabt, gebildet, feingeistig, perfekt erzogen. Viel zu jung ist sie damals gestorben. Und dann schleppte er Eine wie Sie an, statt Mutters Andenken zu ehren und eine Frau zu wählen, die zu unserem Stand passt!»
Anna hüllte sich weiter in beredtes Schweigen. Wenn überhaupt, zeigte nur ein minimes Heben ihrer Augenbrauen eine Reaktion auf seine Worte an.
«Er drohte, Sie ohne Vaters Segen zu heiraten. Infam! Liess sich das einfach nicht ausreden, stur wie sonst was.»
Ich spürte, wie Max Weber sich während seines Monologs langsam beruhigte. Die Haltung, die Anna ausstrahlte, die spürbare Kraft und Klarheit, blieb nicht ohne Wirkung. Seine Stimme wurde leiser, die Gesichtsfarbe normalisierte sich. Die Wut, die er uns entgegengeschleudert und die keinen Widerstand gefunden hatte, ebbte ab. Sein Blick wandte sich nach innen.
Ich staunte, war aber klug genug, keinen Mucks zu machen.
«Erich war anders als Vater und ich. Er kam nach der Mutter. Die hatte auch etwas Vergeistigtes, Versponnenes. Las Poesie, malte. Vater war ein Macher, und darin bin ich ganz sein Sohn, war es immer: mit beiden Beinen fest am Boden, direkt, entschieden, stark. Mutter war fragil, oft kränklich. Es war, als gehörte sie gar nicht wirklich in diese Welt, als hätte sie einen Teil von sich in der Tschechei zurückgelassen. Sie hatte Erich», seine Stimme brach jetzt, «immer lieber als mich. Er war ihr Augapfel. Muj miláčku nannte sie ihn. Mein Liebling. Ich hingegen war immer nur der Max.»
Eine Weile schwiegen wir alle. In den Zügen des alten Mannes schimmerte der verletzte Junge von damals durch.
Es brannte mir unter den Nägeln, etwas Tröstendes zu sagen, nach bester Psychiatermanier, aber dann liess ich es doch bleiben. Ich spielte keine Rolle. Das hier war Annas Territorium.
Max Weber seufzte tief. «Vater drehte fast durch damals. Erich war stur wie ein Hund. Vater wollte mit Ihnen reden, Sie zur Einsicht bringen, dass Sie unmöglich die Richtige für Erich sein konnten, aber der wollte nichts davon hören - nicht mal Ihren Namen wollte er uns sagen. Und er war nicht von seinem Plan, Sie zu heiraten, abzubringen, egal, wie sehr der Vater tobte und forderte. Erich zog sich einfach zurück, hinter seine Bücher und linken Ideen, und schaltete auf Durchzug. War am Ende kaum noch zuhause.» Er schnaufte.
«Schliesslich nahm der Vater mich beiseite. Nahm mir das Versprechen ab, Erich zur Besinnung zu bringen, ich als älterer Bruder, als Vaters Vertrauter und zukünftiger Nachfolger. Was für eine Aufgabe! Ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte. Sicher, Erich und ich hatten uns immer gut verstanden, aber wie gesagt, er war stur, nicht zu belehren. Ich wusste nicht ein noch aus, aber ich wollte Vater nicht enttäuschen. Dem ging es ohnehin nicht gut nach Mutters Tod. Also bat ich Erich, mich auf eine Wanderung zu begleiten. Ich wählte die Panoramatour über den Brienzergrat, vom Brienzer Rothorn zum Harder. Keine einfache Strecke, aber wir kannten sie beide gut und hatten sie schon einige Male gemeinsam bestritten. Ein paar Stunden zusammen unterwegs, so sagte ich mir, dann hätten wir Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen, vernünftig zu reden, unter Männern. Ich war sicher, dass ich ihm seine Flausen würde ausreden können.»
Er schluckte.
Anna legte ganz leicht den Kopf schief.
Folge 61
«Am Anfang lief es nicht schlecht», fuhr Max Weber fort, und seine Stimme wurde leiser und leiser. «Wir scherzten, neckten einander, die Stimmung war bestens, und ich war zuversichtlich, etwas erreichen zu können. Aber als ich dann versuchte, ernsthaft auf Erich Einfluss zu nehmen, wurde der fuchsteufelswild. Richtig ausfällig wurde er, nannte mich Vaters Marionette ohne eigenen Willen, ohne Rückgrat, einen speichelleckenden Weichling.»
Er hielt einen Augenblick mit gesenktem Kopf inne.
«Erich beschimpfte mich aufs Übelste. Er liess die ganze Wut, die er angesammelt hatte, die Wut auf Vater, über Mutters Tod, über die ganze Welt an mir aus. Er verhöhnte mich, beschuldigte mich, lachte mich aus. Er sei ein ganzer Mann, anders als ich. Er treffe seine eigenen Entscheidungen, wähle seinen Weg selbst, egal, ob es dem Vater und mir in den Kram passe. Er werde Sie heiraten, egal, was passiere, und um das zu bekräftigen, habe er Ihnen bereits Mutters Lieblingsring geschenkt, den mit dem grossen Saphir.»
Jetzt hob er den Kopf wieder, und seine Augen schwammen in Tränen. «Das hätte er nicht tun dürfen», flüsterte er. «Sie war auch meine Mutter, auch ich hatte damals eine Freundin, der ich den Ring gerne als Verlobungsring hätte schenken wollen. Aber Erich hat sich den Ring einfach genommen, er, der Lieblingssohn, ohne zu fragen, ohne an mich zu denken. Da sah ich rot.»
Ich hielt den Atem an.
«Ich war bis zu diesem Moment ruhig geblieben, all seinen Beschimpfungen zum Trotz, auch wegen des schmalen, teilweise gefährlichen Weges, der zu beiden Seiten brüsk abfallenden Steilhänge», erzählte er weiter. «Ich hatte die Situation beruhigen, Vernunft vermitteln wollen. Aber nun begann ich, mich zu wehren, ihn ebenfalls anzubrüllen, zu beleidigen. Wir schrien uns gegenseitig an. Und dann, unvermittelt, brach ein Handgemenge los. Er stiess mich von sich, auf diesem schwindelerregend schmalen Pfad, ich fasste es nicht. Ich wurde zornig, holte gegen ihn aus, er tauchte weg und griff mich wieder an – ich sehe es noch vor mir, als wäre es gestern gewesen. Ich vergass mich, blind vor Wut, ich sprang vor, stiess ihm beide Hände vor die Brust – und Erich fiel. Ich werde niemals», seine Stimme, kaum mehr hörbar, zitterte, «seinen Blick vergessen. Noch während er den Halt verlor, zu fallen begann, sah er mir in die Augen. Erstaunt. Nicht wütend, nicht ängstlich. Erstaunt.»
Das Ticken einer alten Wanduhr, überlaut in der Stille, schien das einzige Geräusch auf der ganzen Welt zu sein.
«Ich schrie nach ihm, in Panik», wisperte Weber. «Ich schlitterte den Abhang hinunter, gleichgültig, wie gefährlich das war, ich wollte ihn retten, um jeden Preis. Umsonst. Es war zu spät.»
Lautlose Tränen liefen über sein Gesicht.
Anna sass weiterhin unbeweglich da, den Blick auf ihn gerichtet. Dann, ganz langsam, hob sie einen Arm. Und berührte Max Webers Hand.
«Und das», sagte sie mit weicher Stimme, «haben Sie Ihr ganzes Leben mit sich herumgetragen?»
Er nickte stumm. Sein Kinn zitterte.
«Es ist gut», sagte Anna nur.
Ich spürte die Trauer, die in Wellen von ihr ausging, aber auch ihr Mitgefühl, ihr Verständnis. «Es ist schon gut. Erich war ein Hitzkopf, das weiss ich wohl. Er konnte sehr unvernünftig und impulsiv sein. Es war nicht Ihre Schuld.»
Weber verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte drauflos.
Auch ich merkte, dass mir die Tränen kamen, während Anna in aller Ruhe eine federleichte Hand auf seine Schulter legte.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Max Weber seine Fassung wiederfand. Schliesslich jedoch richtete er sich auf, schnäuzte sich umständlich in sein Taschentuch und stützte dann schwer atmend beide Hände auf den Oberschenkeln auf.
«Anna», sagte er und sah sie an, aus rot geränderten Augen. «Erich hatte Recht. Es wäre eine Ehre gewesen, Sie in der Familie zu haben.»
Anna lächelte, und nun drohte ihr ihre fast unnatürliche Ruhe doch abhanden zu kommen. Ihr Lächeln war wacklig, verletzlich.
«Ich werde Ihnen den Ring zurückgeben», sagte sie. «Es ist nicht in Ordnung, dass ich ihn habe. Er gehört Ihnen.»
«Anna?», fauchte ich ungläubig.
«Doch, Kassandra», erwiderte sie. «Erich hatte nicht das Recht, mir diesen Ring zu schenken, er gehörte der Familie. Und hätte ich früher schon gewusst, dass er echt und so wertvoll war, ich hätte ihn seinen Hinterbliebenen zurückgegeben. Es ist nur richtig so. Ich werde», wandte sie sich an Max Weber, «Ihnen den Ring übergeben. Es sind keine weiteren Versuche mehr nötig, ihn auf anderem Wege zurückzubekommen. Auf diese Weise können wir die ganze unselige Sache der letzten Wochen hinter uns lassen.»
«Welche Sache meinen Sie?», fragte Max Weber irritiert.
Jetzt konnte ich nicht mehr an mich halten.
«Nun, dass Annas Hausschlüssel gestohlen und wiederholt in ihre Wohnung eingeschlichen wurde, im Versuch, den Ring zu finden, Sie erinnern sich doch? Dass sie verfolgt wurde. Dann der hinterhältige Telefonanruf, um das Versteck des Ringes aus ihr herauszukriegen. Und am Ende der brutale Überfall, zweifellos auf Ihr Geheiss arrangiert. Das kann Ihnen unmöglich entfallen sein.»
Meine Stimme troff vor Sarkasmus.
Webers Kiefer klappte auf. «Wa… Wie bitte? Was ist da passiert?»
Seine Fassungslosigkeit war mit Händen zu greifen. Und, daran zweifelte ich keine Sekunde, sie war echt.
Folge 62
Rasch wechselte ich einen Blick mit Anna. Auch sie, das war offensichtlich, verstand gar nichts.
«Mein Name hat Ihnen etwas gesagt, nicht wahr? Das habe ich vorhin an der Tür eindeutig gemerkt. Sie wussten, was der Name Anna Haldemann bedeutet, nicht wahr?»
Weber nickte nervös. «Ja, das stimmt. Erich hatte es uns nie verraten. Aber als mein Vater kürzlich mit fast hundert Jahren gestorben ist, habe ich seine Sachen in mein Haus geholt, die, die ihm am wichtigsten waren. Deshalb», er machte eine Geste mit der Hand, die das ganze Wohnzimmer umfasste, «ist es hier so voll – ich habe es nicht übers Herz gebracht, Vaters liebste Sachen wegzuwerfen. Auch eine ganze Reihe alter Bücher habe ich von ihm übernommen. Darunter ein Gedichtband meiner Mutter, den er wahrscheinlich nie angeschaut hat. Und als ich dieses Buch vor ein paar Monaten hervorgeholt habe, fiel mir ein altes, stockfleckiges Foto in die Hand.»
Er erhob sich mühsam, ging auf wackligen Beinen ein paar Schritte zu einem Bücherregal und angelte sich einen uralten schmalen Band aus der Bücherreihe.
«Hier, bitte», sagte er und reichte ihn Anna.
Die strich sanft mit einer arthrotischen Hand über den verblichenen Umschlag.
«Rilke», sagte sie. «Erich hat seine Gedichte geliebt.»
Sie hob den Kopf. «‹Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?›», zitierte sie leise. «‹Wie soll ich sie hinheben über dich zu andern Dingen?› Das war unser Lieblingsgedicht. Wann immer ich es irgendwo gelesen habe, habe ich an Erich gedacht. All diese Zeit, bis heute.»
Sie schlug das Buch auf und fand in ihm eine Fotografie.
Sie hob sie hoch, und ich reckte den Hals, um Anna über die Schulter zu blicken.
Eine Schwarzweissaufnahme. Eine Gruppe junger Menschen, irgendwo in einer Stadt, eine lebhafte, vergnügte Szene. Zwei der Gestalten fielen mir sofort ins Auge, eine Frau und ein Mann.
Ich erkannte im feinmodellierten Gesicht der jungen Frau unschwer die Züge der heutigen Anna. Eine zarte Gestalt, mit weich fallendem, hellem Haar, ein strahlendes Lächeln in den Augen. Neben ihr, einen knappen Kopf grösser als sie, stand ein gutaussehender, schlaksiger junger Mann, der mit einer Wärme auf sie herabsah, die mir den Atem verschlug. Erich Weber.
Anna holte zitternd Atem. Dann drehte sie die Fotografie herum.
«Anna Haldemann, 1969», stand da nur.
«Ich wusste gar nicht, dass Erich diese Fotografie von uns hatte», sagte sie mit bebender Stimme. «Damals hatten wir uns erst gerade kennengelernt.»
«Das erklärt einiges», sagte ich kühl. «Sie haben diese Fotografie gefunden, Herr Weber, und endlich, nach all diesen Jahren, wussten Sie, wie die geheimnisvolle Frau von damals hiess. Und wo der Ring zu finden sein würde.»
Max Weber starrte mich verständnislos an. «Wovon reden Sie überhaupt? Ja, ich habe die Fotografie gefunden, und sie hat alles wieder aufgebrochen. Die ganze grässliche Geschichte ist hochgekommen, die Erinnerungen, der Schmerz, und das so kurz nach Vaters Tod. Es war furchtbar. Aber der alte Saphirring – was kümmert der mich heute noch? Den hätte ich damals haben wollen, vor fünfzig Jahren, als ich eifersüchtig auf Erich war und meiner Braut ein pompöses Geschenk machen wollte. Aber heute? Was sollte ich damit? Ich bin ein alter Mann, und an Geld fehlt es mir sicher nicht. Behalten Sie den Ring, Anna», wandte er sich an sie. «Er gehört Ihnen – Erich hat Sie geliebt, bis in den Tod, er hätte es so gewollt. Und Mutter auch, da bin ich sicher. Sie war immer schon schwärmerisch und romantisch. Behalten Sie ihn, verschenken oder vererben Sie ihn, es ist mir völlig gleichgültig. Ich will den verdammten Ring nicht.»
«Aber …», sagte ich ungläubig.
Anna übernahm auch jetzt. Erneut legte sie ihre Hand auf Max Webers Arm.
«Sagen Sie die Wahrheit?», fragte sie.
«Natürlich sage ich die Wahrheit», polterte er zurück, nun schon wieder sein übliches, grantiges Selbst. «Warum sollte ich lügen? Wovon reden Sie denn die ganze Zeit?»
«Jemand hat versucht, den Ring an sich zu bringen», erklärte ich. «Mehrfach, immer wieder. Am Ende wurde Anna in ihrer Wohnung überfallen.»
Max Weber riss die Augen auf. «Auf sie wurde auch ein Anschlag verübt?»
War seine Überraschung echt oder geschickt vorgetäuscht? Ich nickte ernst und behielt ihn scharf im Auge, um nicht die geringste Regung in seiner Miene zu verpassen. «Zum Glück wurde der Angriff vereitelt, aber es hätte böse enden können. Dazu haben Sie den Auftrag gegeben, nicht wahr? Machen Sie uns nichts vor.»
Verblüfft starrte er mich an. «Ich? Wie käme ich denn dazu? Ich wusste ja nicht einmal, wo ich Anna Haldemann hätte finden können, ich wusste ihren heutigen Namen nicht, und ich wollte sie auch gar nicht finden – ich wollte vergessen, die alten Geschichten hinter mir lassen, nichts weiter. Vergessen wollte ich, mehr als alles andere. Wahrscheinlich war das ein ganz beliebiger Einbrecher.»
Es wirkte glaubwürdig, echt. Konnte er ein so guter Schauspieler sein?
«Nein, das glaube ich nicht», beharrte ich. «Da hat jemand über Wochen gezielt nach dem Ring gesucht.»
«Aber … Das kann nicht sein!»
Der Alte kam mir ernstlich verwirrt vor.
«Herr Weber?», sprach ich ihn an. Er blickte zu mir hoch.
Folge 63
«Haben Sie jemandem von dem Foto erzählt? Von Anna Haldemann und dem wertvollen Ring?» Ich sah, wie seine Stirn sich runzelte. Dann glättete sich seine Miene zu einem Abbild des ungläubigen Erstaunens, wurde schliesslich leer. Sein Blick verlor sich, ging durch mich hindurch, durchs Fenster nach draussen in die Weite des wolkenverhangenen Nachmittags.
«Herr Weber?», wiederholte ich sachte, als sein abwesendes, gedankenverlorenes Schweigen sich ausdehnte und ausdehnte.
Mit einem Schauder kam er zurück in die Gegenwart.
«Nein», sagte er brüsk. «Von mir kann das niemand haben, auf keinen Fall. Ende der Diskussion. Dieser Überfall muss ein Zufall gewesen sein, anders ist das nicht möglich.»
«Sind Sie sicher?», hakte ich beharrlich nach. «Ich hatte den Eindruck…»
«Genug jetzt», herrschte Weber mich an. «Ich bin müde, erschöpft. Ich mag nicht mehr, ich brauche Ruhe. Ich muss über alles nachdenken.»
Anna musterte ihn einen Augenblick schweigend. Dann erhob sie sich, mühsam, sich an der Armlehne des altmodischen Sofas abstützend.
«Natürlich», sagte sie. «Natürlich.»
Auch ich erhob mich, und Weber tat es uns gleich. Wortlos begleitete er uns zur Tür.
Sanft nahm er Annas gebrechliche Hand in seine grobe Pranke. «Es war schön, Sie kennenzulernen», meinte er unbeholfen.
Sie lächelte. «Ganz meinerseits. Ich bin froh, dass Sie mir Ihre Geschichte erzählt haben. Um meinetwillen, aber auch um Ihretwillen. Es ist nicht gut, eine so schwere Last so lange mit sich herumzutragen.»
Sie drückte seine Hand, dann verliess sie das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen, ging einfach davon.
Ich folgte ihr mit einigen Schritten Entfernung.
«He, Anna, warten Sie», platzte Max Weber unvermittelt heraus, als sie sich schon ein ganzes Stück entfernt hatte.
Anna wandte sich zu ihm um. Weber räusperte sich unbehaglich. «Wollen Sie wiederkommen? Wir können zusammen über Erich sprechen. Über die alten Zeiten. Es wäre schön.»
Sie zögerte, dann lächelte sie. «Gerne», sagte sie nur.
«Wann?», fragte er, und klang dabei erstaunlich jung und ungelenk für sein greises Alter.
«Morgen», erwiderte sie nach kurzem Nachdenken. «Ich komme morgen Vormittag. Meine junge Freundin Kassandra wird mich herfahren», bestimmte sie unter völliger Missachtung meiner drängenden beruflichen Verpflichtungen und persönlichen Freiheit.
«Gut», sagte er. Dann zog er sich ins Haus zurück und schlug die Tür hinter sich zu.
Kapitel 17
Es kam mir vor, als würde ich mein ganzes Leben damit zubringen, zu einem kleinen, isoliert stehenden Holzhaus ausserhalb von Amsoldingen zu fahren. Als gäbe es nichts anderes, nichts Wichtigeres mehr.
Ich war an diesem Morgen bereits um sieben Uhr in der Klinik gewesen, um zumindest notdürftig die allerdringendsten Pendenzen abzutragen – ich war in den vergangenen Wochen zu häufig früher gegangen oder hatte mir sogar freigenommen, das rächte sich mittlerweile empfindlich.
Viel hatte mein frühmorgendlicher Einsatz allerdings nicht bewirkt, ich hatte lediglich an der Oberfläche meiner sich anstauenden Arbeiten gekratzt, und auf meiner Station wuchs, wie ich im Rahmen einer hastigen Stippvisite feststellen musste, der Unmut über mein wiederholtes unerklärliches Fernbleiben mit jedem Tag. Jelika Bakovic von der Pflege hatte mich angekläfft, sobald sie meiner ansichtig geworden war, und hatte deutlich gemacht, dass sie sich an die Geschäftsleitung wenden würde, wenn ich noch weiter schwänzen und die Station ihrem Schicksal überlassen würde.
Und das, nachdem mich erst am Vortag meine ältere Tochter Jana beim Abendessen aufs Korn genommen und mich mit teenagertypisch aggressivem Unterton gefragt hatte, was denn mit mir los sei und ob es Probleme zwischen mir und Papa gebe – beim Abendessen zu dritt notabene, denn Marc hatte seit einigen Tagen wieder damit angefangen, abends mit halbgaren Ausreden stundenlang wegzubleiben.
Ich hatte mir alle Mühe gegeben, die kritische Anklage meiner Älteren zu besänftigen. Aber es waren die weit aufgerissenen, ängstlichen Augen von Mia, meiner Jüngeren gewesen, die mich verfolgten. Weil sie meine eigene Angst widerspiegelten.
Zuerst meine eigene Tochter, dann Jelika. Es war zu viel gewesen, mehr, als ich, dünnhäutig, wie ich mich fühlte, ertragen konnte.
Ich hatte Jelika ungeachtet meines schlechten Gewissens scharfzüngig Paroli geboten und mich dann übellaunig in Richtung der geschlossenen Geriatrie-Station verzogen, um Anna abzuholen.
Und nun sassen wir miteinander im Auto, und ich setzte eben den Blinker, um die Autobahn an der Ausfahrt Thun Süd zu verlassen.
«Geht es dir gut, Anna?», fragte ich, während ich auf sechzig Stundenkilometer abbremste.
«Sicher, warum denn auch nicht?», erwiderte sie knapp.
«Du bist so schweigsam», gab ich zu bedenken.
Anna strich sich mit einer zerbrechlichen Hand die weissen Haare zurück.
«Ich bin müde», sagte sie.
Und das glaubte ich ihr aufs Wort, denn so sah sie auch aus. Die letzten Tage, das begriff ich jetzt, waren eine grosse Belastung für sie gewesen. Sie war eine alte Frau, auch wenn sie sich tapfer und aufrecht hielt.
Folge 64
«Ich möchte nach Hause», sagte Anna, und klang dabei erschöpft. «Ich mag nicht mehr in dieser Klinik sein.»
«Das verstehe ich», erwiderte ich mitfühlend. «Lass uns noch das Gespräch heute abwarten. Ich möchte ganz sicher sein, dass Max Weber nicht der Auftraggeber dieser kriminellen Händel ist. Und dafür will ich ihm noch ein wenig auf dem Zahn fühlen.»
«Ich bin sicher, er sagt die Wahrheit», meinte Anna.
Ich nahm im Kreisel die Ausfahrt in Richtung Allmendingen. «Ich im Grunde auch. Aber irgendjemand muss ja dahinterstecken. Und wenn es nicht Max Weber ist, dann, so glaube ich, weiss er doch, wer es sein könnte. Seine Reaktion gestern kam mir auffällig vor, seine Mimik und Gestik, und dass er uns am Ende so überstürzt loswerden wollte. Und da ist irgendetwas, was er gesagt hat, das mich gestört hat, das nicht aufgeht. Nur komme ich nicht darauf, was es war – und das ist mehr als ärgerlich. Ich hoffe, wir kommen heute weiter.»
Anna sagte nichts. Sie lehnte nur den Kopf an die Fensterscheibe, und ihr Blick verlor sich in der Ferne.
Wütend presste ich auf den Klingelknopf. Lange diesmal, sehr lange, anhaltend, dezidiert.
«Das darf doch nicht wahr sein!», stiess ich hervor, nachdem wir erneut erfolglos ins Innere des Hauses gehorcht hatten, weil auch dieses Mal die erwarteten schweren Schritte und das Klacken des massiven Gehstocks ausgeblieben waren. «Hat er unsere Abmachung vergessen? Oder war die nur ein Vorwand, um uns in Sicherheit zu wiegen, und nun hat er sich abgesetzt? Nach Brasilien oder so?»
Anna sah blass und besorgt aus. Sie drängte sich an mir vorbei und drückte ihrerseits fest auf den Klingelknopf.
Nichts.
«Das ist nicht gut», meinte sie mit gefurchter Stirn.
«Allerdings nicht. Warte hier, ja? Ich bin gleich zurück.»
Mit raschen Schritten ging ich um das Haus herum, durch die Gartenlaube, spähte hier und da in Fenster, suchte nach einer Hintertür.
Nach wenigen Augenblicken war ich zurück – gross war das Haus ja nicht.
«Es brennt nirgends Licht», rapportierte ich, «und ich habe keine unverschlossenen Türen oder Fenster gefunden. Aber in der Garage da hinten», ich deutete nach rechts, «steht ein altersschwacher blauer Kleinwagen. Der muss Max Weber gehören. Vielleicht wurde er abgeholt, vielleicht ist er zu Fuss unterwegs, auf einem Spaziergang womöglich.»
Zweifelnd blickte ich in den nasskalten Nieselregen, der sich sprayartig über die zinngrau verhangene Landschaft verteilte.
«Oder», schloss ich grimmig, «er ist da drin, aber macht uns die Tür nicht auf.»
Annas Gesichtsfarbe war noch blasser geworden. «Vielleicht ist er nicht in der Lage, uns zu öffnen. Wir müssen diese Tür aufbekommen.»
Ich seufzte. «In Spielfilmen ist das jeweils der Moment, in denen kräftig gebaute Männer sich mit Inbrunst gegen die Türe werfen, bis sie aufspringt. Leider sind aktuell gerade keine kräftig gebauten Männer verfügbar, und ich hänge an meinem Schultergelenk und möchte es so lassen, wie es ist. Was meinst du, rufen wir die Polizei?»
«Ich weiss nicht recht», entgegnete Anna, und ihre Stimme zitterte. «Was, wenn er einfach ausgegangen ist?»
Ich spähte umher.
«Im Nachbarhaus da drüben brennt Licht», sagte ich und wies mit dem Kinn nach links, wo das deutlich grössere, ebenfalls aus altem, dunklem Holz gefertigte Haus stand – der ehemalige Bauernhof. «Ich schaue mal, ob ich jemanden finde, der mir Auskunft geben kann. Willst du im Auto warten?»
Anna schüttelte den Kopf, und während ich rasch die zwanzig, dreissig Meter Strecke zum benachbarten Hof zurücklegte, versuchte sie es erneut energisch mit Max Webers Klingel.
Vor dem Nebenhaus stand ein blitzblank polierter, türkisfarbener Fiat 500. Ein fröhliches, sympathisches Gefährt – ich hoffte, die Nachbarschaft würde sich als ebenso sympathisch und zudem hilfsbereit erweisen. Fehlte noch, dass hier ein zweiter Grantsack nach Art von Max Weber logierte.
Ich trabte um den kleinen Fiat herum und drückte dann, an der schön dekorierten Haustür angekommen, hoffnungsvoll auf den Klingelknopf.
Ich musste nicht lange warten.
Die Frau, die mir die Tür öffnete, war blutjung – Anfang zwanzig vielleicht? Sie war grösser als ich, weidenschlank, und trug ihr langes, seidiges dunkelbraunes Haar in einem nachlässigen Knoten auf der Krone ihres Kopfes. Sie hatte ein langes, safrangelbes Kleid mit Ethno-Verzierungen an, das ihr, auffällig und exotisch, wie es war, hervorragend stand, ergänzt durch einen dicken, überlangen Wollschal, den sie mehrfach um den zarten Hals geschlungen hatte.
«Ja bitte?» Eine melodische Stimme, ein freundlicher, neugieriger Blick.
Es sah aus, als hätte ich für einmal Glück gehabt, was die Sympathie anging.
«Bitte verzeihen Sie die Störung», begann ich. «Mein Name ist Kassandra Bergen. Ich und eine Bekannte sind mit Ihrem Nachbarn verabredet, aber er öffnet uns die Tür nicht. Wir machen uns Sorgen, ob ihm etwas passiert sein könnte. Kennen Sie ihn?»
«Max Weber?» Ihre grossen, hellgrünen Augen weiteten sich. «Natürlich kenne ich ihn. Und er macht Ihnen die Tür nicht auf, sagen Sie? Seltsam. Er müsste zuhause sein. Er ist fast immer zuhause.»
«Sie kennen sich gut?»
Folge 65
Die junge Frau schüttelte den Kopf. «Nicht wirklich gut. Ich wohne erst seit einem halben Jahr hier – ich durfte das Haus übernehmen, als meine Grosstante krankheitshalber ins Pflegeheim musste. Max Weber ist ein netter alter Herr, im Grunde, aber sehr einsam, sehr zurückgezogen. Ich habe versucht, mich ein wenig um ihn zu kümmern – soweit er es zuliess. Darum geht es ja, wenn man aufs Land zieht, nicht wahr?» Sie strahlte mich an. «Um den Zusammenhalt.»
«Sicher», murmelte ich, und fügte dann hinzu: «Haben Sie einen Schlüssel zu seinem Haus?»
Bedauernd schüttelte sie den Kopf. «So weit ging sein Vertrauen nun doch wieder nicht. Aber warten Sie…»
Nachdenklich legte sie den Kopf schräg. «Täusche ich mich, oder hat er mal erwähnt, dass er seinen Hausschlüssel irgendwo deponiert hat? In einem Versteck?» Angestrengt massierte sie ihre Schläfen. «Ich erinnere mich nicht.»
«Würden Sie», drängte ich mit schlecht verhohlener Ungeduld, «rasch mit mir nach drüben kommen und schauen, ob Sie den Schlüssel finden? Vielleicht hilft es Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge, wenn Sie vor der Tür stehen.»
Zweifelnd biss sie sich auf die volle Unterlippe.
«Ich weiss nicht, ob es Max recht wäre», meinte sie.
«Falls Max», gab ich zynisch zurück, «mit gebrochenem Schenkelhals neben seinem Bett liegt und sich vor Schmerzen windet, wäre es ihm ganz sicher recht.»
Das schien sie zu überzeugen. Rasch warf sie sich einen überweiten Mantel aus hellbraunem Teddyplüsch über und schlüpfte in schwarze, fransenverzierte Cowboystiefel. Sie zog die Tür hinter sich zu – sie schloss nicht ab, fiel mir auf, aber vielleicht machte man das so, hier auf dem Land – und folgte mir mit langen Schritten.
«Übrigens, ich heisse Alannah», sagte sie im Gehen. «Alannah Meissner.»
Ich zog eine Augenbraue hoch. «Mochte Ihre Mutter Alannah Myles?», fragte ich.
Sie rollte die Augen. «Sie hat ‹black velvet› rauf und runter gehört. Ich habe diesen Song dermassen satt.»
Ich grinste, wurde dann aber wieder ernst, als wir bei Max Webers Haus ankamen und mein Blick auf Anna fiel.
Sie hatte die dünnen Arme um sich geschlungen und zitterte trotz ihres steifen Wollmantels. «Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl», sagte sie.
«Dies hier ist Alannah Meissner», stellte ich vor, «und das ist Anna Dubach. Alannah glaubt, dass Max Weber hier irgendwo einen Schlüssel versteckt haben könnte.»
«Nur weiss ich nicht, wie ich darauf komme, und wo der Schlüssel sein könnte», erwiderte Alannah hilflos und blickte sich um. «Hat er mal was erwähnt? Wenn ich es nur wüsste. Ich bin dermassen zerstreut!»
«Wir helfen dir suchen», erwiderte ich.
Und das machten wir. Wir wendeten die Fussmatte, drehten jeden Stein, jeden der zahlreichen leeren, erdverkrusteten Blumentöpfe um, spähten in den Briefkasten und hinter Fensterläden.
Wir wollten schon aufgeben, als Anna schliesslich Glück hatte – sie fand den Schlüssel im hohlen Innenraum eines abgeschossenen Gartenzwergs aus Keramik.
«Ausgerechnet», sagte ich, nahm ihr den Schlüssel ab und stiess ihn ohne zu zögern ins Schloss.
Die Tür schwang auf.
Vorsichtig streckte ich den Kopf ins Innere des Hauses. «Herr Weber? Hallo!»
Als eine Antwort ausblieb, trat ich in den engen, dunklen Korridor. «Hallo, Herr Weber! Hier sind Kassandra Bergen und Anna Dubach! Wir hatten uns verabredet!»
«Lass mich durch, das bringt doch nichts», meinte Anna, ihre Stimme nun wieder entschlossen und kräftig, und stiess mich beiseite. «Wo ist sein Schlafzimmer, Frau Meissner?»
«Ich glaube, im oberen Stock», erwiderte Alannah.
Anna stieg vorsichtig, sich am Geländer festklammernd die teppichbezogenen Stufen in den ersten Stock hinauf, ich folgte ihr auf dem Fusse.
Sie stiess eine Tür aus hellem Holz auf.
Das Schlafzimmer. Leer. Das Bett war unberührt.
Ich sah mich weiter um, entdeckte ein altmodisches Badezimmer mit hellgelben, glänzenden Keramikfliesen an den Wänden. Ebenfalls leer.
Ein weiterer Raum war als Arbeitszimmer hergerichtet, mit einem wuchtigen, dunklen Schreibtisch und vollgestopften Bücherregalen.
Keine Spur von Max Weber.
«Schauen wir uns unten um», schlug ich vor und war als Erste unten im Erdgeschoss. Mit einem raschen Blick überprüfte ich das Wohnzimmer, das ich bereits kannte, und die ebenfalls hellgelb geflieste Küche. Im Waschbecken stand eine benutzte Kaffeetasse.
Kein Mensch war zu sehen.
«Und was ist das da?», fragte ich Alannah mit Blick auf eine weitere, geschlossene Tür, die weiter hinten vom Korridor abging.
«Ich weiss nicht, da war ich nie drin», meinte sie.
Entschlossen riss ich die Tür auf.
Der Raum hinter der Tür lag im Dunkeln, durch die Ritzen der geschlossenen Läden am einzigen Fenster sickerte ein Faden Tageslicht herein. Ich konnte nicht mehr als schemenhafte Umrisse erkennen.
Nervös tastete ich die Wand nach einem Lichtschalter ab.
Noch ehe ich ihn fand und drückte, wusste ich, was kommen würde. Das Atmen fiel mir schwer.
Folge 66
Grelles Licht aus einer hässlichen Deckenlampe mit Häkelschirm beleuchtete die Szene. Ein kleiner, schmaler Raum, karg möbliert mit einem einfachem Einzelbett mit altväterlichem Nachttisch daneben.
Auf dem Bett lag, vollständig bekleidet, steif und unbeweglich wie eine ausrangierte Schaufensterpuppe Max Weber.
Ich trat in den Raum, durchmass ihn mit wenigen Schritten, dann sank ich neben dem Bett auf die Knie.
Meine Hände schalteten ohne mein bewusstes Zutun auf Arztmodus, tasteten nach dem Puls, zuerst am Handgelenk, dann am Hals. Legten sich auf die Brust, suchten nach einer Atemexkursion. Vergeblich, ich wusste es. Webers Haut fühlte sich kalt an, eiskalt und starr.
Ich blickte fassungslos in sein Gesicht, das bereits von lebloser, wächserner Maskenhaftigkeit gezeichnet war. Eine Welle von Übelkeit überrollte mich, mein Herz raste.
«Ist er tot?», fragte Anna hinter mir leise, fast sachlich. Ihre Stimme schien von weit her zu kommen.
«Ja», sagte ich nur, und versuchte, Luft zu holen, ganz tief, um diese grauenhafte Enge in meinem Brustkorb loszuwerden.
Ich hörte, wie Alannah im Türrahmen aufschluchzte.
«Komm», sagte Anna, trat hinter mich und fasste mich an der Schulter. «Du kannst hier nichts mehr tun.»
Es war gespenstisch, wieder auf diesem hart gepolsterten Sofa zu sitzen, in diesem staubigen, düsteren Wohnzimmer. Die fehlende Gegenwart von Max Weber riss eine klaffende Lücke in den freudlosen Raum, klagte an.
Alannah hatte sich auf dem breiten Sessel, in dem Weber vom Vortag gesessen hatte, zusammengekauert, das Kinn auf die zarten, eng an den Körper gezogenen Knie gestützt. Ihre Augen waren geschwollen, rot gerändert. Sie hatte den alten Mann offenbar gerngehabt.
«Es ist so furchtbar», schniefte sie. «Einfach nur furchtbar.»
Anna neben mir sass stocksteif da, in sich gekehrt, und sagte kein Wort.
«Ich habe Max gesagt, er solle zum Arzt gehen», fuhr Alannah mit erstickter Stimme fort. «Er war doch nicht mehr gesund, besonders nach diesem Sturz neulich. Zunehmend unsicher auf den Beinen, taumelig – das Herz vielleicht? Es muss so gewesen sein. Hätte er doch auf mich gehört, der alte Sturkopf. Armer, armer Max.»
Ich spürte, wie ich meine Fassung wiedergewann, wie die Schwäche, die mich in dem kleinen Gästezimmer, in dem Max Weber seinen Tod gefunden hatte, übermannt hatte, sich verlor.
Ich streckte meinen Rücken. Dann stand ich auf.
Alannah hob den Kopf.
«Was machen wir jetzt?», fragte sie leise. «Was macht man, wenn man einen Toten findet? Ruft man da die Ambulanz? Oder gleich den Bestatter?»
«Nein», sagte ich. «Wir rufen die Polizei. Das war nicht das Herz, wetten? Das war Mord.»
Kapitel 18
Es war nicht das erste Mal, dass ich einen verdächtigen Todesfall miterlebte. Ich war nicht unvorbereitet, ich kannte das Procedere. Entsprechend ruhig blieb ich im Angesicht der beiden Uniformierten der nächstgelegenen Polizeistelle, die knappe zehn Minuten nach meinem Anruf vor Ort erschienen.
Doch, ich sei sicher, versicherte ich den zwei männlichen Beamten, dass Max Weber seit Stunden tot sei. Doch, es lägen ohne jeden Zweifel sichere Todeszeichen vor, Totenstarre, Totenflecken – doch, ich wüsste sehr wohl, worauf ich zu achten hätte. Nein, ich hätte keine Leichenschau vorgenommen, diese würde ich vorzugsweise dem Rechtsmediziner überlassen. Doch, für mich stehe absolut fest, dass dies zumindest ein unklarer, wenn nicht sogar ein nicht natürlicher Todesfall sei, weil infolge der Umstände von einer äusseren Einwirkung ausgegangen werden müsse. Doch, es stehe für mich fest, dass eine Obduktion unumgänglich sei und der Staatsanwalt beigezogen werden müsse. Ja, das sei für mich definitiv ein agT, ein aussergewöhnlicher Todesfall, und ich würde darauf bestehen, dass eine Untersuchung eröffnet werde.
«Die Nachbarin des Verstorbenen, Frau Meissner, hat von vorbestehenden gesundheitlichen Beschwerden berichtet», gab der Ältere der beiden Uniformierten, ein drahtiger Mittvierziger mit krausem Haarschopf in neutralem Tonfall zu bedenken. «Sie vermutet, dass Herr Weber Herzbeschwerden gehabt haben könnte. Wieso schliessen Sie einen natürlichen Todesfall aus? Haben Sie konkrete Hinweise auf eine Fremdeinwirkung gefunden? Verletzungen, Waffen? Oder leere Tablettenblister, einen Abschiedsbrief, die einen Suizid nahelegen würden?»
«Nein, nichts dergleichen» gestand ich ein. «Aber Frau Anna Dubach und ich haben gestern ein sehr aufschlussreiches Gespräch mit Herrn Weber geführt. Es ging um einen lange verschollenen Saphirring, der mutmasslich fast eine Million Schweizerfranken wert ist, um Einschleichdiebstähle und einen tätlichen Angriff auf Frau Dubach, und für mich steht ausser Frage, dass Herr Weber etwas darüber wusste, wenn er nicht sogar direkt an den Vorgängen beteiligt war. Wir haben unser Gespräch gestern Nachmittag unterbrochen, in der Absicht, heute wiederzukommen. Und da finden wir Herrn Weber tot vor, urplötzlich überraschend verstorben. Käme Ihnen das nicht eigenartig vor?»
Der Uniformierte verzog das Gesicht, nickte wortlos und zückte sein Mobiltelefon.
Eine gute halbe Stunde später trafen zuerst ein Team des kriminaltechnischen Dienstes, dann unmittelbar danach ein Arzt vom Institut für Rechtsmedizin ein.
Fortsetzung folgt
Folge 67
Wir wurden kurz befragt, Alannah musste erneut die Identität des Verstorbenen bestätigen. Dann wurden wir alle kurzerhand aus Max Webers Haus hinauskomplimentiert, verbunden mit der Auflage, uns in unmittelbarer Nähe zur Verfügung zu halten.
Alannah lud uns in ihr Haus ein, und ich war dankbar, als sie uns in ihrem warmen, behaglichen, wenn auch unaufgeräumten und leicht gammeligen Wohnzimmer mit Milchkaffee und Oreo-Keksen aus einer angebrochenen Packung versorgte.
Alannah hatte offenkundig einige Möbelstücke ihrer greisen Grosstante übernommen, diese allerdings mit ihren eigenen, kostengünstigen IKEA-Möbeln kombiniert und mit Batiktüchern, selbstgemalten Bildern und einer Unmenge von Zimmerpflanzen aufgewertet; eine ulkige Mischung, welche die sprühende Persönlichkeit der jungen Frau aufs Trefflichste illustrierte.
Ich wärmte mir die Finger an dem schweren Steingutbecher mit Kaffee, badete in dem warmen, hellen Licht zahlreicher Lampen und Leuchten und betrachtete sinnierend ein Aquarell, das Alannahs Initialen trug und eine ätherische, komplizierte Spiralformation in Pastellfarben darstellte.
Es tat gut, hier zu sein, der kalten, beklemmenden Düsternis von Max Webers Haus und Erinnerungen entronnen zu sein.
Auch Anna, der Alannah fürsorglich in ein weiches, bunt verziertes Tuch aus leuchtend pinkfarbener Wolle um die Schultern gelegt hatte, schien ein wenig aufzuleben, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. Sie schwieg weiterhin, nippte wortlos an ihrem Milchkaffee und überliess es mir, mich mit Alannah zu unterhalten. Aber ihre Wangen hatten wieder ein wenig Farbe angenommen.
«Warum Max Weber wohl in diesem engen, kargen Gästezimmer übernachtet hat?», fragte ich mich laut.
«Vielleicht wegen seinem schlimmen Bein?», mutmasste Alannah, die gerade dabei war, sich grosse Mengen von Kakaopulver und Zucker in eine aufgeschäumte heisse Milch zu löffeln. «Er hatte Mühe mit Treppensteigen. Vielleicht fühlte er sich im Erdgeschoss einfach wohler.»
«Möglich», erwiderte ich.
«Warum meinst du, es sei Mord gewesen?», fragte sie aufgeregt, nachdem sie sich graziös im Schneidersitz auf einem mit Goldtroddeln verzierten indischen Bodenkissen niedergelassen hatte. «Versteh mich nicht falsch, das ist ganz schrecklich, besonders, weil ich Max gekannt habe. Aber es ist natürlich auch spannend.»
Ich lächelte über die unverhohlene Neugier der jungen Frau und fühlte mich neben ihr recht gesetzt und weise.
«Schlussendlich ist es nicht mehr als ein Verdacht», räumte ich ein. «Aber wenn auch nur der geringste Hinweis besteht, dass ein Todesfall nicht natürlich war, muss man handeln und die Sache akkurat untersuchen.»
«Gibt es jetzt eine Autopsie?», wollte Alannah wissen, und fügte dann, als ich nickte, hinzu: «Und dann findet man heraus, woran Max gestorben ist? Oder ob jemand ihn umgebracht hat? Vielleicht war es ja Gift!»
«Warten wir einmal ab, was die Rechtsmediziner herausfinden», wiegelte ich ab. «Alannah, hat Max Weber dir je etwas erzählt, was uns nützlich sein könnte? Etwas, was Licht in diese Sache bringen könnte?»
Alannah rührte kräftig in ihrer heissen Schokolade. Einige Tropfen schwappten über und fielen auf ihr Kleid. Es schien sie nicht zu kümmern.
«Ich weiss nicht sehr viel von Max», erklärte sie bedauernd. «Wir hatten ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis, aber eher oberflächlich. Ihr wisst schon – das Wetter, die Lokalpolitik, das Fernsehprogramm, wieder das Wetter.»
Nachdenklich legte sie ihren Kopf schräg. «Max war kein glücklicher Mann. Er hat angetönt, dass er sich mit seinem Sohn verkracht hatte, vor Jahren schon. Irgendetwas Berufliches war die Ursache – er wollte nicht mehr darüber sagen. Die beiden hatten seit langer Zeit keinen Kontakt mehr, und das, obwohl der Sohn Kinder hatte, Max also Grossvater war. Ich habe versucht, ihm gut zuzureden, ihm aufzuzeigen, dass Familie das Wichtigste im Leben sei, aber er wollte nichts darüber hören. Er war sehr einsam, wollte es aber auch nicht anders haben. Er zog sich absichtlich zurück, igelte sich ein.»
«Gab es Freunde, Leute, die regelmässig vorbeikamen? Besucher?», hakte ich nach. Sie schüttelte den Kopf. «Nicht, dass ich davon wüsste. Aber das will nichts heissen. Ich bin ja nicht immer hier.»
«Gibt es ein Restaurant in der Nähe, in dem er sich häufig aufgehalten hat? Eine Stammtischrunde?»
«Nein. Ab und zu hat er sich bei Vinopaolo, der Vinothek drüben im Dorf», sie wies mit dem Daumen über ihre Schulter, in Grobrichtung des Dorfkerns, «eine gute Flasche Rotwein gegönnt. Die hat er dann allein zuhause getrunken, ohne Gesellschaft. Etwas trist, nicht wahr?»
Ich holte tief Luft. «Hat Max Weber je etwas von einem Ring erzählt?»
Alannah nahm einen langen Schluck von ihrer Schokolade, wischte sich dann den Mund mit der Handwurzel sauber, eine nachlässige, charmante Geste.
«Ein Ring? Was für ein Ring? Das klingt spannend.»
Ich überging ihre neugierige Frage geflissentlich. «Hat er Annas Namen erwähnt? Sie hiess früher Anna Haldemann.»
Folge 68
Die junge Frau hob die Achseln. «Tut mir leid, aber mir gegenüber hat er nie etwas erwähnt. Ich würde furchtbar gern helfen, etwas Wichtiges beisteuern, aber ich weiss wirklich nicht viel. Eins kann ich allerdings mit Sicherheit sagen: Max war belastet, bedrückt, das habe ich gespürt. Gerade in den letzten Wochen. Ich nahm ihn nervöser wahr als sonst, fahrig, reizbar – sogar mir gegenüber, dabei mochte er mich immer gut leiden. Er kam mir misstrauisch vor, noch verschrobener als sonst, fast schreckhaft. Und da war dieser Sturz vor gut einer Woche.»
«Was war damit?», wollte ich wissen. «Nun, auf einmal hinkte Max und ging am Stock – der alte Stock seines Vaters übrigens, stellt euch das vor, den hat Max nach dessen Tod behalten, so wie er fast alles von ihm behalten hat. Das ist doch nicht gesund, oder? Ich habe ihn auf sein Hinken angesprochen, und Max meinte, er sei in der Nacht auf der Treppe gestolpert und einige Stufen hinuntergestürzt.»
«Ist er zum Arzt gegangen?»
«Eben nicht!», ereiferte sich Alannah. «So etwas gehört doch geröntgt! Aber Max wollte nichts davon wissen, egal, wie sehr ich ihm zuredete. Ein wenig von der grünen Salbe, meinte er, dann komme das schon wieder gut. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte.»
Ich grinste. «Die starke grüne Salbe ist ein Arzneimittel, das im Grunde für Tiere bestimmt ist, und zwar für Grosstiere, Kühe zum Beispiel. Aber gerade in ländlichen Gebieten schwören viele darauf, dass es sich auch für Menschen bestens als Rheumamittel eignet. Ich persönlich würde die Finger davon lassen.»
Alannah schüttelte ungläubig den Kopf. «Auf jeden Fall hat er sich nach diesem Sturz verändert, fand ich. Er wurde noch grantiger, noch misstrauischer und abweisender. Und er war unruhig, schlief schlecht, wie er mir erzählte. Oh, mein Gott!»
Impulsiv schlug sie eine Hand vor den Mund.
«Was?», fragte ich nach.
Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie mich an. «Ich habe ihm ein Beruhigungsmittel gegeben, weil er nicht mehr zur Ruhe kam, kaum mehr Schlaf fand. Ein altes Medikament, noch von meiner Grosstante – ich habe es in ihrem Arzneimittelschränkchen gefunden. Es war angebrochen, aber das Haltbarkeitsdatum war noch nicht überschritten, und ich dachte, vielleicht würde es Max nützen. Oh, mein Gott», wiederholte sie, nun fast tonlos. «Was, wenn die Tropfen ihn umgebracht haben? Vielleicht hat er eine Überdosis genommen? Dann wäre ich schuld an seinem Tod!»
«Wie hiess das Medikament?», fragte ich scharf.
Sie starrte in eine Zimmerecke, sichtlich angestrengt nachdenkend. «Beno- irgendwas? Es war flüssig.»
«Benocten Tropfen?», vergewisserte ich mich.
«Ja, genau so hiessen sie!»
Ich fischte mein Mobiltelefon aus meiner Handtasche und öffnete das elektronische Arzneimittelkompendium.
«Ich glaube nicht, dass dieses Medikament schuld an seinem Tod sein kann», erwiderte ich schliesslich, nachdem ich die Fachinformation studiert hatte. «Hier heisst es, dass Intoxikationen selten lebensbedrohend verlaufen – offenbar ist die Substanz nicht besonders stark. Ich glaube, du musst dir keine Sorgen machen. Aber es ist wichtig, dass wir die Polizei darüber informieren, in Ordnung?»
Sie nickte mit zusammengepressten Lippen.
Exakt in diesem Moment klingelte mein Mobiltelefon. Ich nahm den Anruf an – es war der ältere der beiden Beamten von zuvor. Der zuständige Regionalfahnder sei eingetroffen, liess er mich wissen, und mache sich gerade auf dem Weg zu uns.
Ich stellte den leeren Steingutbecher mit einer Geste des Dankes in Alannahs Richtung auf den Couchtisch und stand auf, ein wenig nervös, aber auch erleichtert. Endlich würde ich diesen Fall einem Experten übergeben können.
Meine Vorfreude auf die zu erwartende Entlastung indes hielt nicht lange an. Nur exakt bis zu dem Moment, als ich den zuständigen Regionalfahnder erblickte.
«Ach Himmel, nein», entfuhr es mir leise.
Aber nicht leise genug. Der Blick, den der Mann mir zuwarf, machte deutlich, dass er mich gehört hatte.
Mehr noch: dass auch er mich wiedererkannte.
«Nun denn», meinte Regionalfahnder Riesen leutselig, nachdem wir uns alle vier auf Sofa und Sessel niedergelassen hatten, und zückte seinen Notizblock.
«Meine Kollegen haben mir berichtet, dass Sie einige sehr interessante Andeutungen gemacht hätten, Frau… Bergen, nicht wahr?»
Ich nickte verdrossen.
«Frau Kassandra Bergen?», vergewisserte er sich.
Ich nickte noch verdrossener. Ich wusste, was jetzt folgen würde.
«Wir kennen uns, nicht wahr? Auch damals handelte es sich um einen agT. Das Opfer hiess, warten Sie… Adrian Wyss, nicht wahr? Und auch da waren Sie an vorderster Front mit dabei. Eine der Ersten am Schauplatz. Wie das Leben doch so spielt.»
Ich seufzte.
Tatsächlich waren Regionalfahnder Riesen und ich in einer denkwürdigen Nacht vor vielleicht sieben oder acht Jahren aufeinandergetroffen, als ich zufällig und gegen meinen Willen in den Fall des Berner Starpsychiaters Adrian Wyss verwickelt worden war.
Folge 69
Mir waren die Stunden jener Zeugenbefragung im Grandhotel Giessbach in lebhafter und äusserst unangenehmer Erinnerung. Ich hatte den Fahnder als harten Hund in Erinnerung, als gnadenlosen Inquisitor, der mich unerbittlich ins Kreuzverhör genommen und keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er mich für die Hauptverdächtige hielt.
Er hatte mein Verhältnis zur Polizei damals auf Jahre hinaus getrübt und war massgeblich dafür verantwortlich, dass ich in der Folge eine beklagenswerte Neigung entwickelt hatte, meine Fälle möglichst im Alleingang und ohne Hilfe der Behörden zu verfolgen.
Ich musterte mein Gegenüber unauffällig. Sein nach wie vor blondes Haar begann sich über der Stirn deutlich zu lichten, und über seinem Ledergürtel wölbte sich ein kleiner Schmerbauch. Er war schon damals massig gewesen, hatte aber inzwischen noch an Muskeltonus und Haltung verloren. Allerdings, so argwöhnte ich nach einem Blick in seine kalten, hellen Augen, hatte dies seine Persönlichkeit keineswegs zur warmherzigen Gemütlichkeit hin verbessert.
«Herr Riesen», begann ich in neutralem Tonfall, fest entschlossen, mich nicht auf verbale Scharmützel mit dem Mann einzulassen, «ich bin mir fast sicher, dass Max Weber nicht einem natürlichen Tod zum Opfer gefallen ist. Ich vermute eine Fremdeinwirkung, auch wenn ich, das gebe ich zu, nicht genau weiss, wie diese erfolgt sein könnte. Aber die Umstände seines Todes, unsere», ich wies mit einer vagen Handbewegung in Richtung von Anna, «letzten Begegnungen mit dem Verstorbenen und die Vorgeschichte legen das nahe. Darf ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen? Es könnte eine Weile dauern.»
Regionalfahnder Riesen lehnte sich in seinem Sessel zurück.
«Aber bitte sehr», meinte er mit jovialem Gestus, «nur zu.»
«So», machte Riesen, nachdem ich meine Ausführungen beendet hatte, und legte seinen Notizblock beiseite.
Anna wirkte gleichgültig, in eigene Gedanken versunken. Natürlich - ihr war nichts an der Geschichte neu gewesen. Alannah indes hatte meinen Ausführungen mit weit aufgerissenen Augen und unverhohlenem Staunen gelauscht.
Immerhin eine, der meine Geschichte Eindruck machte, dachte ich. Riesen hingegen sah wenig ergriffen drein.
«Sie denken also, dass der verstorbene Herr Weber auf bislang unbekannte Weise in die fraglichen Versuche verwickelt sein könnte, Frau Dubach den teuren Saphirring abzunehmen, und dass dieser Umstand ihn das Leben gekostet haben könnte. Irgendwie», fügte er ein wenig süffisant hinzu.
Ich nickte. «Ich weiss, das ist wenig konkret. Aber ich erhoffe mir, dass die Obduktion uns Aufschluss über die Todesursache geben kann und damit mehr Klarheit schafft.»
Riesens Augen verdunkelten sich merklich. «Uns?», fragte er mit seidenweicher Kälte.
«Ihnen», korrigierte ich gehorsam.
Nicht provozieren lassen, sagte ich mir. Nicht provozieren lassen. Ich wollte seine Kooperation, keinen Machtkampf.
«Ihnen ist natürlich klar», fuhr Riesen fort, «dass die Polizei sich nicht auf blosse Spekulationen abstützen kann. Reine Indizien zu unbewiesenen Konstrukten zusammenzufügen, ist das Privileg von Amateurdetektiven.»
Reiss dich zusammen, Frau, herrschte ich mich innerlich an. Du bist Psychiaterin, du bist den Umgang mit gekränkten Narzissten gewohnt. Du kannst das.
«Ich verstehe natürlich», erwiderte ich freundlich, «dass eifrige Möchtegern-Ermittler für die Polizei ein lästiges Ärgernis sein können. Deshalb ist es mir ein Anliegen, die Angelegenheit möglichst vollständig in Ihre versierten Hände zu legen. Sie sind der Profi. Aber vielleicht können ich und Frau Dubach Ihnen wertvolle Hinweise geben.»
So, nimm das, dachte ich. Paradoxe Interventionen waren meine Spezialität.
Riesen musterte mich eine Weile wortlos. Sein forschender Blick liess jede Wärme vermissen. «Wir wissen beide», sagte er dann, «dass Ihre Version der Geschichte sehr hypothetisch ist. Und zudem wenig wahrscheinlich. Dass eine Geschichte, die fünfzig Jahre zurückliegt, jemanden heute zu einem Mord animiert, wie auch immer der aussehen sollte - äusserst unwahrscheinlich, finden Sie nicht auch?»
«Sie sagten es vorhin selbst, Herr Riesen: Wie das Leben so spielt. Bisweilen nimmt es unerwartete Wendungen. Und der Ring, dieser wahrscheinlich sehr, sehr wertvolle Kashmir-Saphir», ich betonte es mit Nachdruck, «ist trotz der weit zurückliegenden Vorgeschichte sehr gegenwärtig und damit für Kriminelle äusserst attraktiv, nicht wahr? Sind nicht Gier und Gewinnsucht die häufigsten Motive für Verbrechen?»
Riesen ging nicht auf die Frage ein. «Mir ist immer noch nicht ganz klar, wie Sie in diese ganze Geschichte passen, Frau Bergen. Ein blosser Freundschaftsdienst?»
«Ja. Wie ich schon sagte: Herr Martin Rychener - auch ihn haben Sie damals im Grandhotel Giessbach kennengelernt - ist mit dem Sohn von Frau Dubach befreundet, und dieser hat uns um Hilfe gebeten.»
«Und da sind Sie sofort eingesprungen? Haben Ihre zweifellos zahlreichen Verpflichtungen beiseitegeschoben und sich in zeitraubende Ermittlungen», er betonte das Wort mit frostiger Ironie, «gestürzt? Aus reiner Nächstenliebe?»
Ich würde den Teufel tun und ihm meine wahren Motive erläutern. Mein Privatleben ging den blasierten Schnösel nichts an. Also beschränkte ich mich auf ein kühles Nicken.
«Bewundernswert», sagte er. Seine Miene indes sagte etwas ganz anderes.
Er machte sich einige Notizen auf seinem Block.
Folge 70
Ich warf einen kurzen Seitenblick auf Anna. Es wäre natürlich, so fand ich, durchaus hilfreich gewesen, wenn sie meine Worte bestätigen, meine Rolle legitimieren würde. Aber sie tat nichts dergleichen. Mit zusammengepressten Lippen starrte sie auf ihre Knie, völlig versunken, als würde sie auf etwas lauschen, das nur sie hören konnte.
Was war nur mit ihr los?
«Herr Riesen», hob ich an, weil ich das fruchtlose Getändel satthatte, «ich verstehe Ihre Zweifel und Ihren Unmut. Aber hier geht es nicht um mich, ich als Person bin vollkommen nebensächlich. Es geht darum, einen unklaren Todesfall zu untersuchen, einen Mord auszuschliessen - oder nachzuweisen. Darf ich mich darauf verlassen, dass der Tod von Max Weber mit der gebotenen Sorgfalt untersucht werden wird?»
Wir starrten einander in die Augen.
«Aber selbstverständlich», erwiderte Riesen dann betont verbindlich. «Denn wissen Sie, Frau Bergen: Sie haben Recht. Ich bin ein Profi. Und ganz egal, was ich von den beteiligten Zeugen halten mag - ich mache meine Arbeit absolut gründlich.»
«Davon bin ich überzeugt. Haben Sie noch weitere Fragen an mich?», fragte ich.
Er schüttelte langsam den Kopf, mich nicht aus den Augen lassend.
«Nicht für den Moment», sagte er dann. «Warten wir zuerst einmal die Ergebnisse der Autopsie ab.»
«Werden Sie mich über die Ergebnisse informieren?»
Jetzt breitete sich ein Lächeln über seine Züge. «Leider, Frau Bergen, bin ich nicht ermächtigt, Zeugen über die laufenden Ermittlungen zu informieren. Aber ich werde mich zweifelsohne an Sie wenden, wenn ich Informationen von Ihnen brauche. Halten Sie sich zu meiner Verfügung, ja? Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, etwas Hilfreiches», das letzte Wort betonte er süffisant, «dann dürfen Sie mir gerne Bescheid geben. Das gilt für Sie alle. Hier, bitte sehr, meine Karte.»
Er griff in seine Jackentasche und zog drei Visitenkarten hervor, die er an Anna, Alannah und mich verteilte.
Ich steckte meine achtlos in die Handtasche. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie benutzen würde, strebte gegen null.
«Herr Riesen?» Auch Alannah war aufgesprungen und sah den Regionalfahnder, der sich ebenfalls erhoben hatte, mit grossen Augen an.
«Ja, bitte sehr?» Seine Stimme klang nun beinahe weich.
«Dürfte ich Sie kurz sprechen?», bat sie ihn ängstlich. «Es geht um ein Medikament, das ich Herrn Weber früher einmal gegeben habe - ich habe es nur gut gemeint, aber nun habe ich furchtbare Angst, dass ich seinen Tod verursacht haben könnte. Sie müssen das unbedingt wissen, finde ich.»
«Aber sicher», erwiderte Riesen väterlich.
Erstaunlich, was ein schönes junges Gesicht und eine Aura charmanter Hilflosigkeit bei ihm bewirken konnten, fand ich bitter.
«Setzen wir uns doch noch einmal hin, Frau Meissner», schlug Riesen vor.
«Und Sie», er warf mir einen abweisenden Blick zu, «dürfen gehen.»
Ich nickte stumm, nahm Anna am Ellbogen und führte sie aus dem Raum.
Kapitel 19
«Das wird schwierig», fasste ich zwei Tage später grimmig zusammen.
Martin Rychener wiegte bedächtig den Kopf. «Dass ausgerechnet dieser Riesen den Fall hat übernehmen müssen. Den konnte ich damals schon nicht ausstehen. Ekliger Typ.» Wir sassen zusammen in der Cafeteria der Klinik Eschenberg, auf einen raschen Kaffee während der Nachmittagspause.
Ich hatte mich als mustergültige Oberärztin erwiesen, war tags zuvor ungeachtet dessen, dass ich am Mittwoch üblicherweise frei hatte, in die Klinik gekommen, hatte heldenhaft sämtliche angehäuften Pendenzen abgetragen und zudem die mehr als missmutige Jelika von der Pflege mit einer üppigen Packung teurer Pralinen besänftigt, um auch in Zukunft auf ihre Gunst zählen zu können. Damit war ich zumindest einigermassen rehabilitiert und durfte mich in der Klinik wieder blicken lassen, ohne Vergeltungsmassnahmen und Schmähungen befürchten zu müssen.
«Das Schlimmste ist ja, dass Riesen völlig korrekt handelt», beklagte ich mich. «Als Zeugin habe ich keinerlei Anrecht, über den Stand der Ermittlungen informiert zu werden. Und das», ich rührte heftig in meinem Latte macchiato, «macht mich einfach verrückt. Was der Kerl ganz genau weiss. Er lässt mich bewusst auflaufen, mit Hochgenuss.»
«Schaffst du es, die Sache trotz deiner Antipathie gegen den Mann in Riesens Hände zu legen und den Fall damit loszulassen?», fragte mich Martin. «Immerhin hat sich die Geschichte mit dem Tod von Max Weber deutlich verschärft. Hältst du es aus, die Zügel aus der Hand zu geben?»
Ich warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
«Das dachte ich mir», erwiderte Martin seufzend.
«Ich bin wütend», erklärte ich ihm nachdenklich. «Zu Beginn, als ich Max Weber tot in diesem kümmerlichen Gästeraum gefunden habe, da fühlte ich mich furchtbar. Erschüttert, haltlos, überwältigt. Aber jetzt, nach einer Weile, ist nur Wut übriggeblieben. Da denkt jemand, er könne sich einfach nehmen, was er haben will, Martin, und alles aus dem Weg räumen, was seinen Zwecken zuwiderläuft. Ich weiss es einfach, ich bin mir absolut sicher, dass hinter diesem Tod ein Mensch mit finsteren Absichten steckt. Und das kann ich nicht dulden. Du etwa?»
Folge 71
«Wir können uns nicht sicher sein», erinnerte Martin sanft. «In dieser Sache hat Riesen Recht: Unser Konstrukt ist spekulativ.»
«Der Verdacht allein genügt», beharrte ich. «Mir zumindest.»
Martin schüttelte resigniert den Kopf. «Auf mich kannst du zählen, das weisst du», sagte er dann schlicht.
Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln.
«Zum Glück», gab ich dann zu bedenken, «haben wir Alannah auf unserer Seite. Ihr gegenüber, da bin ich sicher, wird Riesen nicht ganz so zugeknöpft sein – vielleicht wird er seine Geheimhaltungspflicht sogar ein wenig zurechtbiegen, wenn sie wieder Kälbchenaugen macht und ihn anhimmelt. Und sie hat mir zugesichert, mich sofort zu informieren, sobald sie Neues von ihm erfährt. So kann ich trotzdem einen Finger im Teig behalten.»
«Diese Alannah scheint ein nettes Mädchen zu sein.»
«Sehr. Auf gewisse Weise freut es mich, dass sie Max Weber in seinen letzten Lebensmonaten begleitet hat, dass sie ihm eine Stütze war. Sie ist ein freundlicher, strahlender Mensch, ich bin sicher, sie hat am Ende ein wenig Licht in sein verknöchertes, einsames Leben gebracht. Und wir können uns glücklich schätzen, dass es sie gibt – ohne sie hätten wir gar keine Informationen. Sie hat mir immerhin das eine oder andere über Max Weber erzählen können, und wenn sie jetzt noch bereit ist, Riesen für uns auszuhorchen…» Ich lächelte zufrieden.
«Was meint Anna zu alledem?», forschte Martin weiter.
Ich runzelte die Stirn. «Nichts. Sie ist wie abwesend, Martin. In sich gekehrt, schweigsam. Ich begreife nicht, was in ihr vorgeht. Max Webers Geständnis muss viel in ihr ausgelöst haben, und sein abrupter Tod hat sie sichtlich erschüttert. Vielleicht erinnert er sie auch an ihre eigene Sterblichkeit? Die beiden sind ja ungefähr gleich alt. Ich mache mir Sorgen um sie», gestand ich. «Bei alten Menschen genügt ja oft eine Banalität, eine Fraktur, sogar ein Harnwegsinfekt, um sie aus der Bahn zu werfen. Was Anna in letzter Zeit erlebt hat, geht weit über einen Harnwegsinfekt hinaus. Was, wenn die Ereignisse der letzten Wochen bei ihr den befürchteten Knick bewirkt haben, der das Ende einläutet? Das macht mir Angst. Ich fühle mich, als würde ich auf rohen Eiern balancieren. Jeden Augenblick könnte etwas kaputtgehen.»
«Und Anna will nicht wissen, wie Max Weber zu Tode gekommen ist? Vorher war sie doch sehr engagiert.»
Ich zuckte mit den Schultern. «Mir kommt es vor, als würde der Fall sie kaum mehr interessieren. Als wäre es ihr egal, ob wir ihn weiterverfolgen. Ich verstehe es nicht. Ich verstehe sie nicht. Zeitenweise habe ich mich ihr sehr nahe gefühlt – als wäre sie meine Zukunft, als wäre ich ihre Vergangenheit. Als würden uns nicht mehr als diese dreissig Jahre trennen. Aber jetzt», ich verwarf die Hände, «kommt es mir vor, als würde ihr Alter sie zu etwas Fremdem, Unerreichbarem machen. Als wäre da eine undurchdringliche Grenze zwischen uns, als käme sie von einem anderen Stern. Als würden die Regeln, nach denen sie funktioniert, sich völlig von meiner Lebensrealität unterscheiden. Es ist mir ein Rätsel, Martin.»
«Ich werde Eric fragen, wie er sie erlebt», versprach Martin.
«Und sonst?», fuhr er dann nach einigen Momenten einträchtigen Schweigens fort. «Was unternehmen wir ausserdem?»
Ich hob vielsagend den Zeigefinger. «Ich habe den Hoteldirektor des Grand Blanc angerufen, diesen Luc Zurbuchen. Es war nicht ganz einfach, ihn von der Dringlichkeit meines Anliegens zu überzeugen, aber ich habe ganz schön dick aufgetragen und von einer Angelegenheit von enormer Tragweite gesprochen. Damit habe ich ihn rumgekriegt, er wird versuchen, Namen und aktuelle Wohnadresse von Max Webers Sohn für mich herauszufinden.»
«Du willst mit Webers Sohn reden?», fragte Martin unnötigerweise.
«Natürlich. Er ist mein Hauptverdächtiger, wenn auch unbekannterweise. Wäre der Ring in der Familie geblieben, hätte er ihn jetzt offiziell geerbt, oder?»
«Regionalfahnder Riesen wird nicht erfreut sein, wenn er erfährt, dass du herumschnüffelst», erinnerte mich Martin.
«Regionalfahnder Riesen kann mich mal», versetzte ich, «wir leben in einem Land, in dem die Redefreiheit hochgehalten wird. Er mag in dieser Sache unter Schweigepflicht stehen, ich tue es nicht. Und ich mache, was mir passt.»
«Ich bin mit von der Partie», entgegnete Martin fest. «Ich will nicht, dass du dich allein einem potentiellen Mordbuben stellst. Du weisst, ich habe gerade viel um die Ohren – diese Geschäftsleitungsretraite von nächster Woche ist zentral für mich, ich muss mich unbedingt vorbereiten. Aber trotzdem, ich werde mir die Zeit nehmen und dich begleiten. Das ist noch wichtiger als die Frage, ob ich der zukünftige Chefarzt der Klinik Eschenberg werde.» Er verzog das Gesicht.
Ich lächelte dankbar. «In Ordnung. Dann kannst du gleich meinen neuen Spezialeffekt miterleben.»
«Spezialeffekt?», echote Martin beunruhigt. «Was meinst du damit?»
«Du wirst schon sehen», entgegnete ich abschliessend und nahm den letzten, erkalteten Rest Kaffee.
Schon am Folgetag war es so weit, und ich sass auf dem Beifahrersitz von Martins Wagen und liess mich von ihm durch den dichten Feierabendverkehr chauffieren.
Marc und meinen Töchtern gegenüber hatte ich behauptet, ich würde nach der Arbeit mit einer alten Schulfreundin einen Aperitif trinken gehen. Eine weitere Lüge. Es wurde mir zur Gewohnheit, und das war nicht gut. Das schlechte Gewissen nagte an mir.
Folge 72
Jana und Mia hatten erfreut zur Kenntnis genommen, dass heute Abend ihr Papa ein ayurvedisches Menu für sie kochen würde, weil ich nicht rechtzeitig zu Hause wäre. Das machte nichts besser. Warum akzeptierten sie seine Küchenexperimente aus dem vermaledeiten Kochkurs bereitwillig, während sie meine regelmässig ausbuhten? Es schien mir ein schlechtes Omen zu sein, dass der spürbare Einfluss von Lindas Hand von meinen Kindern so bereitwillig aufgenommen wurde. Als würde meiner erbitterten Konkurrentin hier von meiner eigenen Familie die Tür geöffnet und Platz gemacht. Als wäre ich überflüssig, ersetzbar. Es war beklemmend.
Vor wenigen Minuten hatte Martin die Autobahnausfahrt Kerzers genommen und war ein Stück durchs Dorf gefahren. Nun hatten wir die Ortsgrenzen gerade hinter uns gelassen. Eine lange, schnurgerade Strecke führte uns durch landwirtschaftliches Gebiet. So weit das Auge reichte, erblickten wir grossflächige Felder, die langsam von der sich herabsenkenden Dämmerung eingehüllt wurden. Ich erinnerte mich: Das Seeland war das wichtigste Gemüseanbaugebiet der Schweiz.
«Du bist ganz sicher, was die Adresse angeht?», fragte Martin mit zweifelndem Blick. «Das sieht hier alles sehr ländlich aus. Nicht wie der wahrscheinlichste Aufenthaltsort eines ehemaligen Berner Hoteldirektors.»
Ich nickte. «Luc Zurbuchen war sich sicher, dass seine Auskunft stimmt. Alexander Weber wohne hier draussen, schon seit mehreren Jahren. Und warum auch nicht? Landluft sei gesund, sagt man, und dass er nach dem hektischen Leben als Hoteldirektor Ruhe und Abgeschiedenheit gesucht hat, ist verständlich, finde ich. Da, hier rechts, ja?»
«Ich sehe es, Kassandra, danke herzlich», erwiderte Martin trocken, betätigte aber folgsam den Blinker und bog dann nach rechts ab, auf ein schmales Strässchen.
«Das ist ein landwirtschaftlicher Betrieb», sagte er dann und musterte stirnrunzelnd das Bauernhaus, die Scheunen und Gewächshäuser, auf die wir langsam zurollten. «Sind wir tatsächlich richtig hier?»
«Gemäss deinem Navigationsgerät sehr wohl. Nicht, was ich erwartet habe, aber sei’s drum. Steigen wir aus, ja?»
Nach der angenehmen Wärme in Martins liebevoll gepflegtem BMW schlug mir die kalte Abendluft harsch entgegen. Eine eisige Windbö wehte über die weiten Ebenen und fuhr mir bösartig in den Kragen. Ich zog den Kopf ein und steckte die Hände in meine Manteltaschen.
«Du hast uns angekündigt?», vergewisserte sich Martin, der ebenfalls ausgestiegen war und nun den Wagen abschloss.
«Ja. Es schien mir klüger zu sein. Wir vergeben uns damit einen allfälligen Überraschungseffekt, aber ich wollte es nicht darauf ankommen lassen und den langen Weg umsonst machen. Und ich werde andere Wege finden, den Mann zu überraschen.»
«Kassandra», knurrte Martin, während er seinen Mantelkragen hochklappte, um sich vor dem Wind zu schützen. «Ich wünschte wirklich, du würdest mir sagen, was du mit diesem Spezialeffekt meinst. Ich hasse es, wenn ich nicht weiss, was du vorhast. Sei vorsichtig, ja?»
«Gemach, gemach», wiegelte ich ab, «ich habe alles im Griff.»
Dann blickte ich mich suchend um, um mich zu orientieren, und marschierte dann auf ein gedrungendes Gebäude mit erleuchteten Fenstern zu, das mir am ehesten nach einem Wohnhaus aussah.
«Bitte sehr», sagte Alexander Weber, und wies uns mit nervöser Geste in ein mit Spielzeug vollgemülltes Wohnzimmer.
Ein Junge im Kindergartenalter sauste mit einem kapitalen Plastikbagger im Arm knapp an mir vorbei, verfolgt von einem weiteren, deutlich kleineren Jungen, der mühsam versuchte, auf seinen dicken Beinchen mit dem grossen Bruder Schritt zu halten. «Hannes, warte doch auf mich!», quengelte der Kleine.
Eine bodenständige, kräftige Frau von vielleicht Mitte dreissig mit halblangem dunkelblondem Haar folgte den beiden Jungen auf dem Fuss.
«Hannes, Noah, ab ins Spielzimmer jetzt!», befahl sie streng. «Papa will in Ruhe mit seinem Besuch reden!»
Während sie Martin und mich passierte, warf sie uns einen entschuldigenden Blick zu. Dann verschwand sie mit ihren beiden Söhnen in einem schmalen Gang.
«Setzen wir uns doch», schlug unser Gastgeber vor und deutete auf ein Ecksofa in kobaltblauem Wildlederimitat.
Ich sammelte rasch einige wild durcheinandergeworfene Wimmelbilderbücher zusammen und stapelte sie auf den Couchtisch, ehe ich mich auf die dadurch freigewordene Sofafläche niederliess.
«Ein wenig chaotisch», meinte Weber verlegen.
«Aber nein», meinte ich tröstend, wenn auch unaufrichtig. «So sind Kinder halt, das kennen wir bestens. Tolle Jungs haben Sie da, Herr Weber! Aufgeweckt und lebendig!»
Irgendwo aus der Tiefe der Wohnung hörte man lautes Scheppern, ein hochfrequentes Kreischen und dann die unverkennbaren Geräusche eines wilden Handgemenges.
Weber verzog das Gesicht. «Ach ja», meinte er nur.
«Unser herzliches Beileid zum Tod Ihres Vaters, Herr Weber», sagte ich anteilnehmend, entschlossen das Thema wechselnd. «Es muss für Sie ein schwerer Schlag gewesen sein.»
Weber fuhr sich durch das schüttere dunkelbraune Haar. «Danke, vielen Dank. Aber bitte nennt mich doch Alex», sagte er.
Martin und ich stellten uns mit Vornamen vor und schüttelten seine Hand.
Folge 73
Alex Weber hatte die Grösse von seinem Vater geerbt, nicht aber die wuchtige Statur und die groben Gesichtszüge. Ganz anders als Max Weber wirkte sein Sohn sensibel, ein wenig schüchtern. Er war schlank, eher feingliedrig gebaut, und hielt sich nicht ganz gerade, so als wollte er sich für seine Grösse entschuldigen.
«Ihr habt meinen Vater gekannt?» Auf seinem Gesicht flackerte Trauer auf. Unter den Augen lagen tiefe Schatten, Zeugen langer, dunkler Nächte ohne Schlaf.
«Nicht gut», gab ich zu. «Wir haben ihn erst gerade kennengelernt. Aber kurz vor seinem Tod haben ich und eine Freundin von mir ein langes, intensives Gespräch mit deinem Vater geführt. Dass er danach so abrupt gestorben ist, hat uns erschüttert und beschäftigt. Habe ich richtig verstanden, dass die Beziehung zwischen dir und deinem Vater problematisch war?»
Alex liess den Kopf sinken. Er schwieg. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, spürte aber die Anspannung und den pulsierenden Schmerz, die von ihm ausgingen.
«Es tut mir leid», sagte ich leise, «wenn ich dich verletzt habe. Ich wollte nicht unsensibel sein.»
Er schüttelte den Kopf.
«Nein», sagte er dann mühsam, «es ist schon gut. Reden ist gut. Vater und ich, wir haben nie geredet. Das war das Schlimmste. Reden ist gut.»
Er hob den Kopf, und ich sah verräterische Tränen in seinen Augen schimmern.
Ich spürte Mitgefühl in mir aufwallen. Die Trauer dieses Mannes, so entschied ich, war echt. Darin zumindest war ich mir sicher.
«Mein Vater war Hoteldirektor, über viele Jahrzehnte, das wisst ihr, oder?», fragte er.
Wir nickten, und er fuhr fort. «Das weisse Kreuz, das alte Berner Hotel war das Zentrum unserer Familiengeschichte, Sinn und Zweck unser aller Existenz. Alles war dem Betrieb untergeordnet, nichts anderes zählte. Es war eine Frage der Ehre, über Generationen hinweg. Mein Vater hatte das Zepter von seinem Vater übernommen, und er führte ein eisernes Regiment, nach alter Art, so, wie es immer gewesen war. Bodenständige Schweizer Qualität, das war sein Credo. Aber er hatte kein Gespür dafür, dass die Zeiten sich wandelten. Vater hatte den Anschluss an die Moderne verpasst, an die Digitalisierung, an Gäste mit neuen, gehobenen Ansprüchen und junge, ehrgeizige Arbeitskräfte mit eigenen Ideen.»
Müde strich sich Alex mit beiden Händen über das Gesicht. «Ich war sein einziges Kind. Damit stand mein Weg von Anfang an fest: Ich würde das Hotel weiterführen, die Familientradition, ich würde die Ehre der Webers hochhalten. Vater führte sich auf, als wäre ich ein Thronfolger, als müsste ich dankbar sein, für diese hohe Ehre ausgewählt worden zu sein – die hohe Ehre, bei Gott, diesen maroden, staubigen, verlotterten alten Kasten zu übernehmen, ihm mein Leben zu opfern. Meine Meinung war nie gefragt.»
Bitter schüttelte er den Kopf. «Und ich war nicht entschlossen genug, mich zu wehren. Auch meine Mutter hatte Vater nichts entgegenzusetzen gehabt, auch sie konnte sich nicht für mich starkmachen, obwohl sie genau wusste, dass ich mir etwas anderes für mein Leben wünschte. Ihr habt ihn kennengelernt, ihr wisst es vielleicht: Mein Vater hatte eine ungeheuer dominante Persönlichkeit, einen eisernen Willen, etwas Magnetisches, Zwingendes. Er hat nie gefragt, er hat befohlen. Und ich habe den Kopf gebeugt und mich untergeordnet.»
Alex lachte auf, ein resigniertes, freudloses Lachen. «Ich unterwarf mich meinem Schicksal, weil es das Einfachste zu sein schien. Ich hatte die Hotelfachschule gemacht, ich hatte im Betrieb mitgearbeitet, ohne Freude, ohne Enthusiasmus, aber ich kannte das Handwerk, von allem Anfang an. Ich war gerüstet. Und ein Hotel zu führen, das klang doch immerhin nach etwas, das hatte Stil. Das fand zumindest meine erste Frau Susanne. Sie fand es schick, Direktorengattin zu sein. Weniger schick allerdings fand sie es, als die Schwierigkeiten kamen. Die endlos langen Arbeitszeiten, die finanziellen Sorgen, die schlechte Auslastung, die Personalprobleme. Das hatte sie sich anders vorgestellt. Sie begann zu nörgeln, zu fordern, mir Vorwürfe zu machen. Parallel dazu schaffte mein Vater es nicht, sich ernstlich vom Hotel zu lösen. Alle paar Tage tauchte er im Betrieb auf, markierte den Patron, marschierte durch die Gänge, stauchte das Personal zusammen und hielt mir lange, pompöse Vorträge darüber, was ich gefälligst anders machen solle. Ich fühlte mich wie zerrieben, von allen Seiten bedrängt, rastlos, freudlos.»
«Das muss furchtbar gewesen sein», sagte Martin leise.
Alex warf ihm einen dankbaren Blick zu. «Ja, das war es. Das war es allerdings.»
Er räusperte sich. «Ich habe das zwei Jahre durchgehalten, und es waren die zwei längsten Jahre meines Lebens. Ich habe mich von Woche zu Woche gehangelt, von Tag zu Tag, schliesslich von Stunde zu Stunde, mit letzter Kraft. Ich machte weiter, bis es nicht mehr ging. Der sprichwörtliche Krug, der zum Brunnen geht, bis er bricht.» Sein Blick verlor sich in der Dunkelheit jenseits der Fensterscheibe.
«Man hat mir gesagt», fuhr er dann sachlicher fort, gefasster, «ich hätte ein Burnout. Ich fand diesen Begriff sehr passend, denn so fühlte ich mich: Ausgeräuchert, hohl und verkohlt, wie nach einem Grossbrand. Am Boden, zerrieben, kaputt. Ich hatte einen Zusammenbruch, ich wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, ich blieb einen knappen Monat lang. In dieser Zeit hat Susanne mich verlassen. Das Leben mit mir, so sagte sie mir kühl, sei nicht, was sie sich vorgestellt hätte. Nun gut. Auch ich hatte es mir anders vorgestellt.» Ein sarkastisches Lächeln spielte um seine Mundwinkel.
Folge 74
«Es war klar», fuhr er fort, «dass ich der Führung des Hotels nicht mehr gewachsen war. Der Betrieb stand still. ‹Aus familiären Gründen geschlossen.› Ich konnte nicht mehr, ich wollte nicht mehr. Ich suchte einen Käufer, oder besser: Ich liess einen suchen, während ich mein Bestes tat, um mühsam und wacklig wieder auf die Beine zu kommen. Und dann passierte mir etwas Wunderbares: Mir wurde von meiner Therapeutin ein Familienplatz empfohlen, eine Krisenintervention in einer Gastfamilie. Ich fand die Idee anfangs absurd – ich, ein Mann Anfang vierzig, ehemaliger Hoteldirektor, als Hilfskraft in einem landwirtschaftlichen Betrieb? Aber allen Widerständen zum Trotz willigte ich ein. Ich kam zu der Familie Studer nach Kerzers. Gesunde, herzliche, erdverbundene Menschen, ein älteres Ehepaar. Gemüse- und Fruchtbauern, unermüdliche Arbeitstiere und Idealisten, die schon vor Jahrzehnten mit biologischem Anbau zu experimentieren begonnen hatten, als niemand sonst sich darum geschert hatte. Studers waren grossartige Menschen. Unter ihrer Hand begann mein Heilungsprozess, der weiter ging, als ich je zu hoffen gewagt hätte. Sie gaben mir den Mut, mich zu fragen, was ich wollte, wer ich war, statt mich reflexhaft dem zu beugen, was andere von mir erwarteten. Und», jetzt lächelte er, das erste helle, sonnige Lächeln, das ich an ihm zu sehen bekam, «Studers hatten eine Tochter, Melanie. Meine heutige Frau.»
Ich erwiderte sein Lächeln. «Und so hast du für dich einen neuen Weg gefunden? Als Biobauer?»
Er zuckte grinsend mit den Schultern und wirkte auf einmal recht jung. «Sieht so aus, oder? Melanie hat den Betrieb von ihren Eltern übernommen – die beiden helfen immer noch mit, wo sie können, aber die Chefin ist jetzt meine Frau. Und ich blieb. Ich liess mich von Susanne scheiden – eine besonders hässliche Scheidung. Susanne war gar nicht glücklich mit meinem neuen Lebensweg – dann heirateten Melanie und ich. Ich lernte das Handwerk, von Grund auf. Ich hatte früher immer gedacht, es müsse schrecklich sein, in der Landwirtschaft zu arbeiten – sich den Launen des Wetters, der Jahreszeiten beugen zu müssen, immer angebunden zu sein, immer draussen, in Wind und Regen und Kälte. Ich hatte Unrecht. Es ist genau das Richtige für mich. Hier kann ich atmen. Hier kann ich sein, wer ich bin.»
«Und was», fragte ich vorsichtig, «sagte dein Vater zu alledem?»
Alex seufzte trübe. «Solange das Hotel faktisch noch mir gehörte, hatte Vater noch Hoffnung, auch wenn meine Schwäche, wie er sagte, ihn anwiderte. Er hoffte, dass ich mich zusammenreissen würde. Er redete auf mich ein, er belagerte mich, bekniete mich, mitleidlos, endlos. Streckenweise musste ich ihm den Kontakt verweigern, um mich zu schützen. Es war erbärmlich – mein eigener Vater! An dem Tag, als das Hotel überschrieben wurde, brach für ihn eine Welt zusammen. Er erschien uneingeladen am formellen Überschreibungstermin, er machte eine Szene – es war grauenhaft. Ich stand kurz davor, die Polizei zu rufen. Nach diesem Tag hat der Alte mich aus der Familienbibel gestrichen, gründlich und abschliessend. Er hat nie mehr ein Wort mit mir geredet. Melanie», er seufzte, «hat versucht, ihrerseits eine Brücke zu ihm zu bauen, als Noah, unser zweiter Sohn gerade zwei Monate alt war. Ohne mein Wissen packte sie unsere beiden Söhne ein und fuhr zu meinem Vater, um ihm seine Enkelkinder vorzustellen.»
«Und?», fragte Martin ahnungsvoll.
«Er hat sie mit Schimpf und Schande davongejagt.»
Bedrücktes Schweigen senkte sich über das unordentliche Wohnzimmer. Eine Weile sagte niemand etwas.
«Und jetzt ist Vater tot», sagte Alex dann. «Einfach so.»
Seine Stimme klang ruhig, distanziert. Ein wenig traurig. Aber ich spürte in seinen Worten keinen Hass, keinen Zorn.
Dann hob Alex den Kopf und sah Martin und mich an.
«Warum seid ihr zu mir gekommen?», wollte er wissen. «Versteht mich nicht falsch, es ist nett, dass ihr hier seid. Es tut gut, erzählen zu können, mit jemandem reden zu können, der ihn gekannt hat. Es fühlt sich an wie eine zarte Faser, eine minimale Verbindung zu dem Mann, der einmal mein Vater gewesen ist. Der mein Vater hätte sein sollen. Aber was wollt ihr von mir?»
«Ich dachte mir», hob ich sanft an, «dass du vielleicht wissen möchtest, was er uns am Tag vor seinem Tod erzählt hat.»
Auf einmal schien Alex wieder nervös. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. «Hat er über mich gesprochen?»
Ich schüttelte bedauernd den Kopf. «Er hat über Erich erzählt. Seinen Bruder. Über dessen Tod.» Ich schärfte alle meine Sinne, öffnete alle Kanäle, um nichts zu verpassen, auch nicht die winzigste Regung.
Alex sah mich verblüfft an. «Erich? Aber das ist doch schon ewig her. Wie kam er denn darauf, über Erich zu reden? Das Thema war bei uns zuhause immer tabu.»
Die Verblüffung wirkte echt.
«Die Freundin, die ich erwähnte», fuhr ich fort, ihn ganz genau im Auge behaltend, «heisst Anna. Anna Dubach, geborene Haldemann.»
Ich liess den Satz bedeutungsschwanger im Raum hängen.
Alex blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, als wartete er auf eine Fortsetzung.
Als keine kam, meinte er verunsichert: «Wer ist diese Anna? Sollte ich sie kennen?»
«Der Name sagt dir nichts?», fragte ich, nicht ohne Schärfe.
«Nein, leider nicht.»
Folge 75
Er schaute verwirrt drein. Ich konnte in seiner Stimme, seiner Mimik und Gestik keine Anzeichen für eine Täuschung erkennen. Nun gut.
«Anna war vor fünfzig Jahren die Verlobte von Erich Weber. Oh», sagte ich dann und rieb mir angelegentlich die Nase, «meine Nase juckt. Kann das Heuschnupfen sein, so früh schon im Jahr? Wohl eher nicht, oder? Moment schnell, ich brauche ein Taschentuch.»
Unter den verständnislosen Blicken von Martin und Alex zog ich meine Handtasche zu mir heran, tauchte meine Hand hinein und wühlte in ihrem Inneren herum.
«Wo habe ich denn die Papiertaschentücher?», murmelte ich. «Ach hier!»
Triumphierend zog ich meine Hand mit dem frischen Taschentuch darin hervor.
An meinem rechten Ringfinger steckte ein wuchtiger Fingerring mit einem grossen, leuchtend blauen Edelstein in der Mitte.
Ich machte eine grosse Schau daraus, mir umständlich und auffällig die Nase zu putzen, und beobachtete dabei Alex ganz genau.
Der Mann war irritiert und, das schien offensichtlich, zweifelte angesichts meines unerklärlichen Verhaltens an meinem Geisteszustand. Sein Blick streifte kurz den Ring und schweifte dann weiter, blieb fragend und ein wenig bang an meinem Gesicht hängen.
Der Ring, das war eindeutig, interessierte Alex Weber nicht im Geringsten. Er sagte ihm nichts.
Mist.
Ich liess meine Hände sinken. «Hast du eine Vorstellung darüber, woran dein Vater gestorben sein könnte?», fragte ich Alex unvermittelt.
«Wie?», fragte er konsterniert.
«Hast du einen Verdacht bezüglich der Todesursache?», ergänzte Martin. «Hast du allenfalls daran gedacht, dass etwas anderes als eine natürliche Ursache dahinterstecken könnte?»
Alex war jetzt völlig verstört. «Nein, wieso denn? Der Polizist, der den Tod meines Vaters untersucht, hat mich erst heute Morgen angerufen und mir berichtet, dass die Autopsie der Leiche meines Vaters», Alex schluckte hörbar, «ohne auffälligen Befund gewesen sei. Damit werde die Untersuchung offiziell abgeschlossen. Was meint ihr mit nicht natürlicher Ursache?»
Martin fasste sich als Erster. «Nichts, Alex, nichts», beschwichtigte er in betont beruhigendem Tonfall. «Das war nur so ein dummer Gedanke.»
Kapitel 20
«Sag mir bitte, dass das nicht der echte Ring ist», forderte Martin mit gepresster Stimme, als wir wieder im Auto sassen und er auf die Hauptstrasse abbog.
«Natürlich nicht», blaffte ich. «Der wird immer noch im Labor untersucht. Ich habe den hier bei einem online-Schmuckanbieter gefunden. Er war nicht billig – fast zweihundert Franken, zuzüglich der Gebühr für die Expresslieferung», fügte ich ein wenig trotzig hinzu. «Aber das war es mir wert. Er sieht dem Original erstaunlich ähnlich, finde ich.»
Martin seufzte. Das erleuchtete Display seines Navis warf im Dunkeln einen kalten Schimmer auf sein Gesicht.
«Der Plan war gut», gab er zu. «Auf diese Weise eine Reaktion zu provozieren, hätte funktionieren können.»
Ich erlaubte mir ein schräges Grinsen. «Ich habe die Idee im Grunde vom CERN. Das Konzept, maximal beschleunigte Protonenpakete aufeinanderprallen zu lassen und dann zu schauen, was passiert, lässt sich durchaus auch auf eine Ermittlungssituation anwenden.»
«Aha, der Exkurs in die Physik ist nicht spurlos an dir vorbeigegangen, Kassandra, beachtlich. Aber es hat nicht funktioniert. Alex weiss nichts von dem Ring, darauf würde ich wetten.» «Weder von dem Ring noch von Anna. Er wirkte absolut authentisch auf mich. Seine Geschichte ist tragisch, das Zerwürfnis zwischen ihm und seinem Vater erschütternd – eine Chronik verpasster Möglichkeiten und mit unnützem Widerstand vergeudeter Energie. Aber Alex Weber ist nicht unser Mörder», schloss ich dumpf.
«Mehr noch», fügte Martin trocken hinzu. «Wir haben nicht einmal einen Mord. Riesen hat die Untersuchung abgeschlossen.»
Ich stiess heftig die Luft aus meinen Lungen. «Wir können ja von Glück sagen, dass wir das von Alex erfahren haben. Offenbar haben nahe Angehörige das Privileg, solche Informationen zu erhalten – mir hätte Regionalfahnder Riesen das nie im Leben verraten. Aber wie ist das möglich, Martin? Wie kann die Autopsie ohne Befund sein?»
«Entweder wir haben uns getäuscht, und Max Weber ist doch an einer natürlichen Ursache gestorben, an einem Herzinfarkt oder einem Hirnschlag, womöglich sogar stressbedingt.»
«Oder?», fragte ich beklommen.
«Oder wir haben es hier mit einem sehr klugen Täter zu tun, der gerade den perfekten Mord begangen hat. Und diese Alternative», schloss er scharf, «macht mir Angst.»
Martin, so sinnierte ich das Wochenende über, war nicht der Einzige, dem die Situation Bauchschmerzen bereitete.
Marc und ich hatten für den Sonntagvormittag eine befreundete Familie zum Brunch eingeladen, für mich ein beruhigendes Symbol familiärer Eintracht und Normalität, die meine Sorgen ein wenig besänftigte.
Den halben Samstagnachmittag über stand ich in der Küche, knetete Zopfteig, stellte selbst Joghurt und Granola her, um gegen den glänzenden Überraschungserfolg, den Marcs Gemüsecurry vom Vortag bei Jana und Mia erzielt hatte, anzukämpfen und einmal mehr meinen Wert als Herzstück dieser Familie in Beweis zu stellen, während Marc bestens gelaunt und auffallend herausgeputzt zu seinem dritten Kurstag mit Linda aufgebrochen war.
Folge 76
Wütend klatschte ich den Zopfteig auf die Tischplatte, als wäre er schuld an meiner Lage. Ich knetete und knetete, als ginge es um das liebe Leben.
Aber ich war nicht recht bei der Sache. Meine Gedanken schweiften immer wieder zu unserem Fall ab.
Seit Wochen versuchten wir vergeblich, Licht ins Dunkel zu bringen, forschten wir hier und dort, mit kümmerlichem Resultat. Dieser Fall kam mir vor wie eine Schnitzeljagd, und wir, so schien es, verpassten die wichtigen Hinweise, irrten ziellos wie aufgescheuchte Hühner umher.
Was hatten wir denn überhaupt vorzuweisen, nach all den Wochen der Nachforschungen?
Wir hatten den wahren Wert von Annas Ring aufgedeckt, und damit ein handfestes Motiv für die schattenhaften Angriffe auf die alte Dame gefunden, dies konnte ich uns zugutehalten.
Aber sonst?
Erich Webers Tod vor einem halben Jahrhundert war einem tragischen Unfall geschuldet gewesen, einem Zerwürfnis zwischen Brüdern. Und wenn auch die Ausläufer dieses Zerwürfnisses, der ätzenden Bitterkeit, Sturheit und Rechthaberei bis in die Gegenwart hineinwuchsen und mehrere Leben vergiftet hatten, so hatte ich doch nach wie vor nicht die geringste Ahnung, wie in diesem Zusammenhang die sehr konkreten, handfesten Übergriffe auf Anna Dubach zu verstehen waren. Nichts passte zusammen.
Und woran war Max Weber gestorben? Wie konnte es sein, dass die rechtsmedizinische Untersuchung keine Hinweise auf eine Fremdeinwirkung gezeigt hatte, wo ich doch so unverkennbar die Handschrift einer bösartigen Präsenz hinter diesem Todesfall spürte? Ich verstand es einfach nicht. Wie konnte man einen Menschen umbringen, ohne Spuren zu hinterlassen?
Ein geheimnisvolles Gift, das in der toxikologischen Untersuchung unentdeckt geblieben war? Konnte man einen Menschen so ängstigen, dass er an einem Herzschlag starb? Ein tödlicher Schrecken, maskiert als natürliche Todesursache?
Mir schwirrte der Kopf. War es denkbar, dass der verschwommene Unbekannte, den ich hinter dem Geschehen witterte, geschafft hatte, was Generationen von Kriminellen umsonst versucht hatten? Den perfekten Mord zu begehen?
Oder haschte ich einem Phantom nach? War ich auf Geisterjagd? Lag ich falsch, klammerte ich mich an eine fixe Vorstellung?
Ich fühlte mich insuffizient, auf ganzer Linie. Als Ehefrau und Mutter – der Zopfteig war klumpig, wetten, dass Linda das besser hinbekommen hätte? –, als Ärztin, die ihre Pflichten in der Klinik nur noch halbherzig erfüllte, und besonders als selbsternannte Ermittlerin. Ich hatte alles auf einmal gewollt, aber machte nichts richtig, nichts gut genug. Ich hatte mich selbst ins Abseits manövriert. Ich war, so gestand ich mir ein, überfordert.
Und Martins Worte hallten bitter in meinem Kopf nach. Was, wenn das aufreibende Gespräch mit Anna und mir Max Webers verfrühten Tod verursacht hatte? Was, wenn im Grunde wir schuld daran waren, dass er nicht mehr lebte? Wollte ich diese Möglichkeit einfach nicht wahrhaben, und suchte ich aus diesem Grund so verzweifelt nach einem Täter?
War ich nicht nur eine schlechte Ermittlerin, sondern ein Todesengel?
Ein stechender Schmerz braute sich in meinem Kopf zusammen.
War es an der Zeit, nachzugeben? Aufzugeben?
Nein. Ich war nicht bereit, loszulassen. Noch nicht.
Ich musste dranbleiben. Einen Schritt weitergehen. Allem Risiko zum Trotz.
«Ja, Weber?» «Alex? Hier spricht Ka Bergen. Vom Freitagabend. Ich hoffe, ich störe nicht?»
«Ka? Schön, von dir zu hören. Nein, du störst mich nicht. Weshalb rufst du an?»
«Hör zu, ich weiss, es klingt seltsam. Aber ich möchte einfach ganz sicher sein, dass beim Tod deines Vaters alles mit rechten Dingen zugegangen ist.»
Alex Stimme, die zu Beginn des Gesprächs noch durchaus erfreut geklungen hatte, kippte ins Misstrauische.
«Was meinst du damit? Du hast am Freitag schon Andeutungen gemacht. Aber die polizeiliche Untersuchung hat doch keine Anhaltspunkte dafür geliefert, dass mein Vater nicht an einer natürlichen Ursache gestorben sein könnte.»
«Die Polizei», erwiderte ich vorsichtig, bemüht, mich nicht in die Nesseln zu setzen, «ist nicht unfehlbar. Ich will kein Drama daraus machen, Alex, wirklich nicht, und es tut mir sehr leid, wenn ich einem Mann, der gerade erst seinen Vater verloren hat, mit meinen Fragen auf die Nerven gehe. Aber es wäre mir wohler, wenn ich noch ein wenig mehr wüsste, ehe ich meinen Verdacht ad acta lege.»
«Ich verstehe einfach nicht, was du meinst», sagte Alex, nun hörbar verunsichert. «Denkst du an einen Suizid?»
Ich seufzte. «Eher an Mord.»
«Mord?» Eine Weile herrschte entsetztes Schweigen in der Leitung. «Aber wie…»
«Alex, ich will ganz offen mit dir sein: Ich habe nichts in der Hand. Nenn es eine dunkle Ahnung, nichts weiter. Aber mir will diese Sache einfach nicht gefallen.»
Sollte ich ihm alles erzählen? Die ganzen Details?
Ich entschied mich dagegen, blieb betont vage, als ich fortfuhr. «Dieser plötzliche Tod nach dem langen, klärenden Gespräch zwischen deinem Vater und Anna Dubach über Erichs Unfall kommt mir eigenartig vor. Ich habe das Gefühl – und es ist nicht mehr als ein Gefühl, das gebe ich zu – dass da jemand nachgeholfen hat. Ich weiss nicht wer, und ich weiss nicht wie. Aber meine Intuition überschwemmt mich mit Warnsignalen.»
Folge 77
«Ich musste einige Tage nachdenken, ich habe mich erst heute entschlossen, offen mit dir zu sprechen. Es ist eine zwiespältige Situation für mich.»
Er atmete einige Male gepresst, ehe er weitersprach. «Und was willst du jetzt von mir?»
«Kontakte», entgegnete ich geschäftsmässig. «Ich will wissen, ob es Menschen im Leben deines Vaters gab, die mir etwas über ihn erzählen könnten. Ich weiss», kam ich dem aufkeimenden Protest meines Gesprächspartners zuvor, «er hat sich in den letzten Jahren stark zurückgezogen, Kontakte weitgehend vermieden. Er kam mir wie ein Einsiedler vor, ein verknöcherter alter Mann, abweisend und grollend – so, wie ich ihn kennengelernt habe, schien es undenkbar, dass dieser Mann über Jahrzehnte als professioneller Gastgeber fungiert haben soll. Aber das hat er, nicht wahr? Es gab diese andere Seite an ihm, offene, soziale Anteile, es muss sie gegeben haben. Bitte, Alex, denk ganz genau nach: Mit wem könnte dein Vater in den letzten Monaten trotz allem noch Kontakt gehabt haben? Wem könnte er Dinge erzählt haben, die wichtig für ihn waren? Gab es jemanden aus seiner Vergangenheit?»
Wieder herrschte am anderen Ende der Leitung Stille.
«Ich weiss von niemandem», erwiderte Alex dann, und es klang abschliessend, kalt.
«Mit wem habt ihr früher Kontakt gepflegt, als du noch ein Kind warst?», hakte ich nach. «Wer kam zu Besuch? Gab es alte Freunde? Verwandte? Vertrauenspersonen?»
«Ich sagte doch, ich weiss von niemandem», herrschte er mich an, und in seinem Tonfall vernahm ich eine Spur der dominanten Rauheit seines Vaters. «Ich will nicht mehr über meinen Vater nachdenken.»
«Irgendjemand», gab ich zu bedenken, «sollte es tun. Irgendjemand muss über deinen Vater nachdenken, Alex. Das sind wir ihm schuldig, trotz allem.»
Jetzt klang seine Stimme frostklirrend kalt. «Ich schulde dem Alten gar nichts.»
Ich wusste, dass der Anruf kommen würde. Es dauerte keine zwei Stunden, und es war so weit.
Mein Herz sank, als ich die Nummer des eingehenden Anrufs auf meinem Display erkannte.
Ich wappnete mich.
«Bergen, hallo?»
«Frau Bergen, wie reizend, Ihre Stimme zu hören».
Die Stimme von Regionalfahnder Riesen drang unheilschwanger süsslich aus meinem Mobiltelefon. «Jetzt raten Sie mal, warum ich anrufe.»
«Wahrscheinlich, weil Sie mit Alexander Weber gesprochen haben?», vermutete ich sachlich.
«Ganz exakt», erwiderte Riesen leutselig. «Und wissen Sie auch, was Herr Weber mir erzählt hat?»
«Machen Sie es kurz, Herr Riesen», forderte ich kühl. «Ich habe zu tun.»
«Dann will ich Sie natürlich nicht lange belästigen, Frau Doktor. Nur eines: Bei allem Verständnis dafür, dass Sie sich gerne als Amateurdetektivin aufspielen», sein Tonfall legte nahe, dass es mit seinem Verständnis in Wahrheit nicht weit her war, «muss Ihnen bewusst sein, dass es strafrechtlich relevant ist, wenn Sie falsche Anschuldigungen machen und die Rechtspflege irreführen. Wenn Sie weiterhin unbescholtene Bürger aufscheuchen, indem sie unwahre Verdächtigungen in die Welt setzen, werde ich persönlich sicherstellen, dass Sie ein für alle Mal damit aufhören.»
Ich spürte, wie mir der kalte Schweiss ausbrach. Wie die Versuchung an mir nagte, klein beizugeben, mich unter seiner Drohung zu ducken.
Nein.
«Herr Riesen», hob ich an. «Ob meine Anschuldigungen unwahr sind, muss sich zuerst noch erweisen. Und ich bin mir keiner Irreführung der Rechtspflege», jetzt war es an mir, einen zynisch-süffisanten Tonfall vorzulegen, «bewusst. Im Gegenteil, ich war es, die nach der Feststellung von Max Webers Tod überhaupt erst die Polizei gerufen hat. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiss. Wenn Sie mich nicht ernst nehmen, ist das Ihr Problem. Ich verheimliche nichts.»
Ich konnte regelrecht hören, wie Riesen der Kamm schwoll.
«Sie», schnarrte er, «veranstalten eine absurde Hexenjagd. Sie sprechen ohne die geringsten belastbaren Hinweise von Mord und quälen mit Ihren halbgaren Beschuldigungen einen trauernden Angehörigen. Sie fantasieren sich etwas zusammen.»
«Haben die Rechtsmediziner breite toxikologische Untersuchungen bei Max Webers Leichnam vorgenommen?», fragte ich kalt.
«Darüber gebe ich Ihnen keine Auskunft.»
«Sagen Sie ihnen, sie sollen es nachholen, wenn es noch nicht geschehen ist», forderte ich kühn. «Wissen Sie, damit Sie den Begriff der Rechtspflege tatsächlich für sich beanspruchen können, braucht es mehr als machoides Drohgehabe, Herr Riesen. Ich habe Alex Weber gegenüber offengelegt, dass ich nur auf ein ungutes Gefühl hin handle. Ich habe ihm Fragen gestellt, nichts weiter. Ist das heutzutage in der Schweiz verboten? Ich glaube nicht. Also machen Sie Ihre Arbeit und lassen Sie mich meine machen.»
«Sie gehen zu weit, Frau Bergen. Das wird nicht ohne Folgen für Sie bleiben.»
«Und Sie gehen zu wenig weit. Sie machen es sich zu einfach. Das ist bedauerlich. Wenn Sie sich nicht um diese Sache kümmern, muss ich es tun. Alles Gute, Herr Riesen. Bis zum nächsten Mal.»
Mit wild hämmerndem Herzschlag brach ich das Gespräch ab.
Ich verbrachte den Rest des Tages damit, gehetzt auf mein Telefon zu schielen und besorgt aus dem Fenster zu spähen, ob gerade ein Streifenwagen auf die Klinikvorfahrt einschwenkte, ob kräftige Uniformierte ausstiegen, bereit, mich unverzüglich festzunehmen. Blanke Panik schüttelte mich.
Nichts passierte.
Gegen Abend begann ich ruhiger zu werden.
Folge 78
Offenkundig hatte Riesen nur geblufft, mich einschüchtern wollen. Und war damit, wie ich mir eingestehen musste, nicht ohne Erfolg geblieben.
Abends um acht Uhr, als ich zuhause mit einem Buch in meinem Lieblingssessel sass – wieder allein, denn Marc war erneut, wie er behauptete, in der Praxis geblieben – und vergeblich versuchte, mich zu entspannen und mir einzureden, alles sei in bester Ordnung und mein Leben laufe in geordneten Bahnen, meldete der vertraute Signalton mir die Ankunft einer SMS.
Nervös schoss ich hoch.
Die Nachricht stammte von Alex Weber. Sie war äusserst knapp.
«Roland Soltermann, alter Schulfreund», stand da nur. Und eine Telefonnummer.
Kapitel 21
«Das gibt es doch nicht», wütete ich tags darauf.
«Beruhige dich, Kassandra», mahnte Martin und tätschelte mir beruhigend die Schulter. «Es ist immerhin positiv, dass Alex offenbar seine Meinung geändert und dir doch noch einen Kontakt genannt hat. Besser als nichts, oder? Es nützt nichts, wenn du dich jetzt so aufregst.»
«Auch wenn es nichts nützt, es tut mir gut», konterte ich harsch. «Es ist doch wirklich zum Durchdrehen. Kann in diesem Fall nichts einfach sein? Kann nichts einfach mal funktionieren, zur Abwechslung?»
Ich hatte eben eine zunehmend missvergnügte Stunde an PC und Telefon verbracht. Erneut, wie ich mir ein wenig verlegen vor Augen hielt, hatte ich meine Arbeitszeit in der Klinik für meine privaten Ermittlungen missbraucht. Ich hätte mich besser gefühlt, wenn diese zumindest handfeste Fortschritte eingebracht hätten. Mein schlechtes Gewissen trug einiges zu meiner Verärgerung bei.
Roland Soltermann, so schien es nach meinen ausgiebigen Recherchen, hatte einen ganz anderen Weg eingeschlagen als sein Schulfreund Max Weber. Nach der gemeinsamen Schulzeit in einer Berner Sekundarschule hatte Soltermann das Gymnasium besucht und später Architektur studiert.
Der Mittsiebziger stand offenbar nach wie vor mitten im Leben. Und ihm war gelungen, was Max Weber so eklatant missraten war: Er hatte sein erfolgreiches Architekturbüro zehn Jahre zuvor seiner Tochter übergeben, arbeitete aber, wie es schien, nach wie vor mit einem geringen Pensum beratend mit, pflegte Kundenkontakte und unterstützte seine Tochter. Die Telefonnummer, die Alex Weber mir gegeben hatte, war die des Architekturbüros gewesen.
Ich hatte mit der Tochter, Maja Hofer-Soltermann, eben noch am Telefon gesprochen. Eine liebenswürdige, vitale, offene Frau Anfang vierzig, wenn man ihrem Foto auf der Firmenwebsite Glauben schenken konnte, die in warmen Worten über ihren Vater sprach.
«Es ist nicht selbstverständlich, dass so etwas funktioniert», hatte sie mir anvertraut. «Der Seniorchef, der nach wie vor im Geschäft mitarbeitet? Für viele ein Alptraum. Aber nicht bei uns. Papa ist grossartig. Er hat es geschafft, leiser zu treten, sich abzulösen, aber doch hat er den Kontakt zum Business nie verloren. Er ist ein neugieriger, interessierter Mensch, bis heute, und das hält ihn jung. Wenn ich mal im Pensionsalter bin, will ich es genauso machen.»
«Und Sie denken, dass er bis vor Kurzem noch Kontakt mit Max Weber hatte?»
«Ich kann es mir nicht anders vorstellen. Die beiden waren dicke Freunde, all die Jahre über. Max arbeitete immer sehr lange und zu Unzeiten in seinem Hotel, vor allem an den Abenden, an Wochenenden und Feiertagen, so dass die üblichen privaten Einladungen zum Abendessen mit ihm und seiner Familie kaum je möglich waren. Stattdessen lud Max Weber uns häufig zu sich ins Weisse Kreuz ein, stahl sich ein paar Stunden, um mit uns zu essen und Zeit zu verbringen. Ich habe das als Kind immer sehr genossen. Einmal haben wir sogar Weihnachten im Hotel gefeiert, alle zusammen. Das war ungeheuer glamourös für mich. Der Weihnachtsbaum in der grossen Hotelhalle war sicher sieben Meter hoch!»
«Sie wissen, dass Max Weber sich in letzter Zeit vermehrt zurückgezogen hat? Nach der unglücklichen Hotelübergabe an seinen Sohn?»
Nun hatte ihre Stimme bedrückt geklungen. «Ja, natürlich. Eine traurige Sache. Der arme Alex. Er war immer so feinfühlig, es war nicht gut für ihn, in diese Funktion gedrängt zu werden. Er war nie ein Hotelier, tief im Herzen. Es ist grässlich, dass Vater und Sohn sich in der Folge so entzweit haben. Ich muss mich unbedingt wieder einmal bei Alex melden…»
«Und trotzdem hatte Ihr Vater noch weiterhin Kontakt mit Max Weber?», hatte ich wissen wollen. «Nur noch selten. Aber doch, sie hatten Kontakt. Immer auf Initiative meines Vaters hin. Er hat nie aufgegeben, sich Max geradezu aufgedrängt. Sie haben immer mal wieder telefoniert. Ob sie sich auch getroffen haben, weiss ich nicht.»
«Könnte ich wohl einmal direkt mit Ihrem Vater über Max Weber sprechen?», hatte ich begierig gefragt.
«Das ist jetzt ein wenig ungünstig», hatte sie bedauernd erwidert. «Er macht gerade Ferien auf dem Malediven. Wir erwarten ihn erst in zwei Wochen wieder zurück.»
Folge 79
«Was muss ein Mann in diesem Alter noch auf die Malediven fliegen? Und ausgerechnet jetzt!», tobte ich weiter. «Und hör endlich auf mit dieser blöden Tätschelei, ja?»
Martin zog seine Hand wortlos zurück und liess meine Schulter in Ruhe.
«Da gibt es nur eines», sagte er nüchtern.
«Und was?», versetzte ich.
«Ganz einfach. Wir müssen den Mann auf den Malediven kontaktieren. Höhere Gewalt.»
Und das gelang entgegen aller Erwartung müheloser als vermutet. Maja Hofer-Soltermann war nach einem erneuten Anruf gerne bereit, ihren Vater über mein Anliegen zu informieren. Und er, der offenbar auch bezüglich technischer Ausrüstung auf dem neuesten Stand war, hatte zugestimmt, sich per Facetime mit mir zu unterhalten. Die Zeitverschiebung zwischen den Malediven und der Schweiz betrug lediglich vier Stunden, das war machbar.
Und so beugte ich mich bereits am nächsten Morgen, es war Mittwoch, zuhause über mein Mobiltelefon und erblickte das leicht sonnengebräunte, von lebhaftem Interesse erfüllte Gesicht von Roland Soltermann. Er hatte sich eine Sonnenbrille in die borstigen weissen Haare geschoben.
«Herr Soltermann, ich weiss es sehr zu schätzen, dass Sie mir Ihre Zeit schenken, obwohl Sie in den Ferien sind.»
«Machen Sie Witze? Ich bin jetzt schon eine Woche hier. Die Insel ist so klein, dass ich sie innert zwanzig Minuten zu Fuss umrundet habe. Den ganzen Tag in der Sonne liegen mag ich nicht, und die meisten Bücher habe ich schon ausgelesen. Da kommt mir ein wenig Abwechslung gerade recht. Schiessen Sie los. Maja hat mir gesagt, es gehe um Max?»
Seine Miene umwölkte sich.
Ich nickte. «Ja. Sie wissen, dass er gestorben ist?»
«Natürlich. Es hat mich so getroffen, als Alex mich angerufen hat. Zu hören, dass die ersehnte Versöhnung zwischen den beiden ausgeblieben ist, dass Max trotz all meinem Insistieren keinen Frieden mehr mit seinem Sohn hat machen können. Dass er seine Enkelkinder nicht kennengelernt hat, dass er im Groll gestorben ist… es ist schmerzlich, Frau Bergen. Sehr schmerzlich.»
«Ja. Ich fand es auch traurig. Ich habe Max Weber nicht gut gekannt. Ich bin ihm kurz vor seinem Tod zum ersten Mal begegnet, und unser Kontakt stand nicht unter einem guten Stern. Aber er hatte trotz seiner Schroffheit etwas Anrührendes an sich. Ich hätte ihm etwas anderes gewünscht.»
«Maja hat angetönt, dass Sie hinter seinem Tod Foulplay vermuten?»
Roland Soltermann war offenkundig ein Mann, der gerne direkt zur Sache kam. Sein Blick war scharf und zwingend. Trotzdem – etwas an ihm flösste mir Vertrauen ein.
Ich hob die Hände. «Ich habe nichts Konkretes. Nur ein Gefühl.»
«Erzählen Sie», forderte Soltermann.
Während ich ihm die Geschichte ohne zu zögern in den Grundzügen erläuterte, blieb seine Miene konzentriert und gespannt.
«Ich stimme mit Ihnen überein», folgerte er am Ende grimmig. «Das klingt allerdings sonderbar.»
«Hat er Ihnen je etwas von dem Ring oder Anna Dubach, geborene Haldemann erzählt?»
«Nein, nie.»
«Gar nichts?»
«Nein. Kein Wort. Das wüsste ich.»
«Und von Erich?»
«Das ja. Diese Geschichte war besonders in seinen jungen Jahren ein schweres Joch auf Max’ Schultern. Er hat nie viel darüber geredet, aber es war immer spürbar. Die Entzweiung zwischen den beiden Brüdern und der grässliche Unfalltod von Erich lagen wie ein böser Fluch über der Familie Weber, sie hat alle Beteiligten nachhaltig geprägt, auch den alten Vater. Ich bin dankbar, dass Max sich kurz vor seinem Ende mit dieser Anna Dubach aussprechen konnte. Sicher hat ihm das viel bedeutet, ihn entlastet. Eine Bürde weniger, die er mit ins Grab hat nehmen müssen. Bitte richten Sie Frau Dubach unbekannterweise meinen Dank aus, stellvertretend für Max.»
«Und Sie sind ganz sicher, dass er nie über den Ring gesprochen hat?», hakte ich verzweifelt nach.
Soltermann schüttelte den Kopf. «Ganz sicher. Wäre der Ring ein wichtiges Thema für ihn gewesen, dann hätte er es mir gegenüber erwähnt.»
«Aber irgendjemandem muss er davon erzählt haben!», brach es aus mir heraus. «Er hat uns berichtet, dass er erst vor einigen Monaten überhaupt erst erfahren hat, wie der Name der ehemaligen Verlobten von Erich lautete. Irgendjemand muss seit diesem Zeitpunkt von der Geschichte erfahren haben. Von ihm selbst – von wem denn sonst? Und wenn auch Sie als sein ältester Freund nicht Bescheid wussten, wer dann? Gab es noch andere Kontaktpersonen? Andere alte Freunde?»
Roland Soltermann starrte angestrengt ins Unbestimmte.
«Nein», sagte er dann langsam. «Nicht, dass ich wüsste. Ich war die letzte Verbindung zu seiner Vergangenheit, und auch mich hätte Max abgeschüttelt und von sich gestossen, wenn ich mich nicht so erbittert gewehrt und ihn immer wieder kontaktiert hätte.»
Mir sank der Mut.
«Da war einzig», sagte Soltermann dann nach einer längeren Pause nachdenklich, «diese junge Nachbarin.»
«Alannah Meissner?», vergewisserte ich mich erstaunt.
Folge 80
«Heisst sie so? Max hat mir ihren Namen nie genannt. Aber er hat von ihr erzählt. Und immer, wenn er das tat, wurden seine Stimme und seine Miene ganz weich. Ich dachte eine Weile sogar», Soltermann lachte auf, «der alte Esel hätte sich auf seine alten Tage hin in das junge Mädchen verliebt. Aber wahrscheinlich war sie für ihn mehr wie eine Tochter. Ein Ersatz für die verlorenen Familienbande, eine letzte Verbindung mit dem pulsierenden Leben.»
Ich runzelte die Stirn. «Ich kenne Alannah. Sie hat mir erzählt, dass der Kontakt zwischen ihr und Max Weber nur oberflächlich gewesen sei. Beiläufige Gespräche über das Wetter und die Lokalpolitik, dergleichen.»
«Tatsächlich? Das wundert mich aber. So, wie es für mich klang, hat Max der jungen Frau aus der Hand gefressen. Vielleicht», jetzt klang Soltermann traurig, «hat Max mehr in diesen Kontakt hineininterpretiert, als je da war. Aus Einsamkeit und Bedürftigkeit. Im Grunde war er ein geselliger Mensch, auch wenn man das in seinen letzten Jahren kaum mehr geglaubt hätte. Vielleicht hat er die wirkliche Tiefe dieser Beziehung überschätzt, weil er sich Nähe und Vertrautheit wünschte.»
Und vielleicht, dachte ich bei mir, während ein Gefühl von Kälte sich in mir ausbreitete, vielleicht auch nicht.
«Komm nur rein», sagte Alannah strahlend und schloss rasch die Haustür hinter mir. «Eine Affenkälte, was?»
«Allerdings», bestätigte ich und rieb mir die frostklammen Finger.
Alannah nahm mir meinen Mantel ab, versuchte, ihn auf ihrem bereits hoffnungslos überfüllten Garderobenständer unterzubringen, gab schliesslich auf und warf ihn achtlos über eine Kommode.
Sie trug heute eine fliessend weite Hose in gebrochenem Weiss zu einem karamelbraunen Strickpullover, der verdächtig nach Kaschmir aussah. Das lange Haar hatte sie zu einem französischen Zopf geflochten. Ein ganz anderer Stil, als ich bei unserem letzten Treffen an ihr gesehen hatte. Aber auch dieser hier stand ihr ausgezeichnet. Die Frau, so schien es, war ausgesprochen wandelbar. Sie war aus Gründen, die nur sie selbst kannte, barfuss, ihre Füsse waren gepflegt, schlank und zartgliedrig.
«Nimmst du einen Kaffee?», fragte sie über ihre Schulter, während sie mich in ihr heimelig-vollgestopftes Wohnzimmer führte.
«Gerne.» Mit schwungvoller Geste lud sie mich ein, mich aufs Sofa zu setzen.
«Ich habe bereits vorgesorgt und eine Thermoskanne mit Kaffee bereitgestellt», erklärte sie selbstzufrieden und hockte sich nieder, um das heisse Getränk in die nicht zueinander passenden Steinguttassen zu füllen.
Sie reichte mir einen Kaffee, lud mich ein, mir Milch und Zucker zu nehmen, und fläzte sich dann mit ihrer eigenen Tasse im Schneidersitz auf ein Bodenkissen. Ihre Gelenkigkeit war beeindruckend.
«Hast du etwas von Regionalfahnder Riesen gehört?», fragte ich ohne Umschweife, während ich mein Getränk umrührte.
Sie leckte ihren Kaffeelöffel ab und legte ihn neben sich auf den Boden.
«Ja. Er war sehr freundlich zu mir», erzählte sie heiter. «Er hat mich beschwichtigt – die Beruhigungs-Tropfen, die ich Max Weber gegeben hatte, hätten seinen Tod nicht verursacht. Er hatte zwar gemäss den Untersuchungen etwas davon genommen, aber bei weitem keine zu hohe Dosis. Das hat ihm unmöglich schaden können.»
Sie legte eine Hand auf ihr Herz. «Ich war so unendlich froh, das zu hören.»
Ich verzichtete auf eine ätzende Bemerkung hinsichtlich der erstaunlichen Offenherzigkeit des Fahnders, seiner Bereitschaft, in diesem speziellen Fall auf die zwanghafte Einhaltung seiner Schweigepflicht zu verzichten.
Stattdessen nickte ich anteilnehmend.
«Und sonst?», hakte ich nach.
Sie zuckte mit den Schultern. «Ich habe ihn gefragt, wie es weitergeht, ob es danach aussieht, als ob jemand den armen alten Mann um die Ecke gebracht hat. Ob es weitere Untersuchungen gibt. Riesen meinte, er dürfe mir leider keine Auskunft geben.»
Ah, offenbar bewirkten auch Alannahs schöne Augen bei Riesen keine Wunder.
«Aber», fügte sie vertraulich hinzu, «er hat mir gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Er dürfe nichts Spezifisches zu diesem Fall sagen, aber bei den meisten aussergewöhnlichen Todesfällen könne die Untersuchung rasch wieder abgeschlossen werden. Er hat es nicht ausgesprochen, aber doch lag es auf der Hand – die Akte wird geschlossen, offenbar ist doch alles mit rechten Dingen zugegangen. Zum Glück, oder?»
Ich kniff die Augen zusammen. «Hat er nichts zu meinem Verdacht gesagt? Wollte er nicht noch mehr von dir wissen, hat er nichts mehr gefragt?»
Jetzt wirkte sie ein wenig betreten.
«Nein, nicht wirklich», gab sie zu. «Er sagte», sie räusperte sich unangenehm berührt, «dass es nicht selten vorkomme, dass das Umfeld in so einem Fall Gespenster sehe und überreagiere. Es sei ein Fluch mit all diesen Fernsehkrimis, hat er gemeint, Kreti und Pleti fühle sich berufen, selbst auf Hercule Poirot oder Miss Marple zu machen.»
«Ah», machte ich gedehnt.
«Tut mir leid, Ka», sagte sie mit leiser Stimme. «Ich habe ihm deutlich gesagt, dass du auf mich einen sehr vernünftigen und glaubwürdigen Eindruck gemacht hättest, aber er hat meine Bemerkung weggewischt.»
Folge 81
«Nun», sagte ich, mich mühsam beherrschend, «da kann man nichts machen. Vielleicht habe ich ja falschgelegen, oder? Das wäre absolut möglich. Und wünschenswert wäre es ja. Mir ist es auch lieber, wenn ich mich getäuscht habe.»
«Ich bin froh, dass du es so siehst», erwiderte sie mit spürbarer Erleichterung. «Es ist ganz sicher das Beste, wenn Max in Frieden ruhen kann. Aber ehrlich gesagt: ich habe schon befürchtet, du wärst beleidigt.»
«Ach wo», behauptete ich tapfer. «Nicht die Spur.»
Eine Weile starrte ich in meinen Kaffee.
«Ein Glück, dass du gerade Zeit für mich hattest, auf meinen spontanen Anruf hin», wechselte ich dann das Thema. «Was machst du eigentlich beruflich, Alannah?»
Sie machte eine wegwerfende Geste.
«Nichts Besonderes», meinte sie. «Ich arbeite im Café einer Freundin mit, in Bern. Aber nur Teilzeit. Ursprünglich wollte ich einmal Psychologie studieren, aber ich habe dann gemerkt, dass das nichts für mich ist. Zu viel Statistik. Eine Weile habe ich mich als Influencerin versucht, ich wollte einen nachhaltigen, biologischen Lebensstil fördern. Aber dann musste ich merken, dass der Markt dafür noch nicht bereit war. Schade.»
Seufzend nahm sie einen Schluck aus ihrer Tasse.
«Ich suche noch nach meiner wahren Bestimmung», ergänzte sie dann ernst. «Ich habe ja Zeit, meinen Weg zu finden. Ich bin noch jung.»
«Ich bin sicher», erwiderte ich, «du wärst eine hervorragende Psychologin geworden. Vielleicht solltest du es doch noch einmal damit versuchen? Du hast ein Gespür für Menschen, das merke ich sofort.»
«Ehrlich?», sagte sie erfreut.
«Aber ja. Ein alter Freund von Max Weber», fuhr ich dann leichthin fort, «hat sich sehr lobend über dich geäussert. Dass du wie eine Tochter für den alten Mann gewesen seist. Dass er dir aus der Hand gefressen habe.»
Verlegen strich Alannah sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihrer strengen Flechtfrisur entronnen war. «Das ist sehr lieb von diesem Freund, aber ich glaube, es ist ein wenig übertrieben. Sicher, ich habe mich sehr bemüht, das Leben von Max leichter und farbiger zu machen. Aber ich glaube kaum, dass ich zu ihm vorgedrungen bin. Auf mich gehört hat er ja nie – weder, als ich ihn zum Arzt schicken wollte, noch wenn ich ihn dafür gewinnen wollte, seinem Sohn noch eine Chance zu geben. Weisst du», sie legte den Kopf schräg und blickte versonnen aus dem Fenster, «ich glaube, in Max’ Leben war sehr viel zu Bruch gegangen, vor Jahren, sogar Jahrzehnten. Seine Geschichte war unendlich traurig und belastet. Ein Mensch allein kann bei so viel Schutt und Asche nicht viel ausrichten. Da muss man auch seine Grenzen akzeptieren.»
Sie schenkte mir ein wunderschönes, warmes Lächeln.
Ich lächelte ebenso warm zurück. «Nun klingst du doch beinahe wie eine Therapeutin», sagte ich. «Ich sage dir doch: Überleg dir das mit dem Studium noch einmal. Du hast Talent.»
Dann griff ich mir mit einer Hand an die Stirn.
«Oh», machte ich.
«Was ist?», fragte Alannah besorgt.
Ich verzog das Gesicht.
«Eine Aura», murmelte ich gedämpft.
Sie riss die Augen auf. «Du siehst eine Aura? Bei mir?»
«Nein», erwiderte ich übellaunig. «Ich rede nicht von einer esoterischen Aura, sondern von einer medizinischen. Eine Aura ist ein fokales neurologisches Symptom, das einem Migränekopfschmerz vorausgeht. In meinem linken Gesichtsfeld», ich machte eine diffuse Handbewegung, «sehe ich Lichtblitze, schwarzweisse, pulsierende Zacken, die sich ausbreiten und mir die Sicht nehmen. Das heisst», ich stöhnte, «ich werde in ungefähr zehn Minuten höllische Kopfschmerzen bekommen.»
«Oh je», meinte Alannah mitfühlend. «Das klingt gar nicht gut. Kann man da nichts machen?»
«Eigentlich», erwiderte ich mit schwacher Stimme, «kann man das schon. Wenn ich jetzt ein ausreichend starkes Schmerzmittel einnehmen würde, dann könnte ich den Schmerz noch gerade rechtzeitig unterdrücken. Aber ich habe nichts dabei. Ich habe den kleinen Beutel mit meinen Notfallmedikamenten in einer anderen Handtasche. So etwas Blödes!»
Ich massierte mir vorsichtig die Brauen.
Alannah sprang auf. «Warte, ich renne schnell nach oben und schaue, ob im Arzneimittelschränkchen meiner Grosstante was zu finden ist, okay? Wie gut», sie war schon unterwegs, «dass ich zu faul war, um es auszuräumen.»
«Danke», hauchte ich und liess mich aufs Sofa niedersinken, während Alannah aus dem Raum verschwand und gut vernehmlich die Treppe in den oberen Stock hochpolterte.
Sobald sie ausser Sichtweite war, setzte ich mich rasch auf.
Ich griff in meine Handtasche, holte mein Handy hervor und tat, was ich vorgehabt hatte, seit ich das Wohnzimmer vorhin betreten hatte: Ich fotografierte ein Foto von Alannah an einer Pinnwand. Es zeigte sie mit einem hochgewachsenen, breit gebauten und sportlich aussehenden Mann mit hellblonden Locken – ihrem Freund?
Dann liess ich mein Handy wieder in der Tasche verschwinden, wühlte dann einen Augenblick in ihr herum und fand, was ich suchte: Den Ring, das teuer erstandene Imitat.
Folge 82
Rasch streifte ich ihn auf meinen rechten Ringfinger, zog dann den Ärmel meines Pullovers so weit als möglich nach vorne, um den Ring zu verbergen.
Dann liess ich mich wieder gegen die Sofalehne sinken und schloss die Augen.
Keinen Augenblick zu früh.
Aufgeregt betrat Alannah den Raum. «Ich habe hier etwas - Mefenacid 500mg. Taugt das was?»
«Perfekt», antwortete ich mit einem matten Lächeln. «Genau, was ich brauche. Darf ich ein Glas Wasser haben?»
«Natürlich», entgegnete sie eifrig. «Warte, ich hole dir eins in der Küche.»
«Schon gut», beeilte ich mich zu sagen. «Ich komme mit, das geht schon.»
Ich folgte Alannah in die Küche, einen heimeligen, altmodisch gefliesten Raum, in dem neben einer einigermassen zeitgemässen Küchenausstattung auch ein alter Holzherd stand.
Alannah öffnete einen Oberschrank und holte ein hohes Glas heraus, öffnete den Hahn, füllte mein Glas mit dem rauschenden kalten Wasser.
«Bitte sehr», sagte sie und hielt mir das Glas entgegen.
Ich streckte meine rechte Hand nach ihm aus. Der Ring prangte funkelnd an meinem Finger.
Alannahs Blick fand den Ring, rastete ein.
Ihre Pupillen weiteten sich.
Das Glas entglitt ihrer Hand und zerschellte auf den Küchenfliesen.
Kapitel 22
Einige Herzschläge lang herrschte lähmende Stille.
«So ist das also», sagte ich dann kalt.
Alannah stand barfuss inmitten von Myriaden winziger Glasscherben. Ihr Blick hob sich und fand meinen.
«Ich weiss nicht, was du meinst», antwortete sie mit ruhiger Stimme. Ihre Miene war völlig unbewegt.
Ich schüttelte unwillig den Kopf und hob dann wortlos meine rechte Hand auf Augenhöhe, den Handrücken ihr zugekehrt.
Wieder weiteten sich unwillkürlich ihre Pupillen, und es war mir, als blitze ein Schimmer von Gier in ihrem Blick auf.
«Wie überaus schade», meinte ich geschmeidig und trat einige Schritte zurück, «dass du dich gerade so schlecht bewegen kannst. Sonst hättest du versuchen können, ihn mir abzunehmen. Denn das wolltest du die ganze Zeit über, seit Wochen, sogar Monaten, nicht wahr? Seit Max Weber dir von diesem Ring erzählt hat. Du willst ihn haben, unbedingt.»
Spöttisch wedelte ich meine Hand hin und her.
Alannah runzelte verwirrt die Stirn. «Ka, was ist denn mit dir los? Wovon redest du?»
Ich lächelte eisig. «Anna hat den Ring von einem Fachmann untersuchen lassen», fuhr ich im Plauderton fort. «Der blaue Stein ist besonders wertvoll. Ein Kaschmir-Saphir, aus einer legendären, schon seit Langem erschöpften Mine. Der geschätzte Wert», ich hob lässig eine Schulter, «beträgt sieben- bis achthundertausend Franken.»
Alannah hob in herzanrührender Hilflosigkeit die Hände. «Ka, du machst mir Angst. Was geht mich das an? Was kümmert mich dieser Ring? Hilf mir doch, aus diesen Scherben rauszukommen, ja?»
Ich begann, im Halbkreis um sie herumzugehen, sie scharf im Auge behaltend, mit ausreichender Sicherheitsdistanz. Die Scherben knirschten unter den Sohlen meiner Stiefeletten.
«Er kümmert dich genug, dass du seinetwegen Max Weber umgebracht hast», gab ich stählern zurück. «Du warst es. Du warst die Einzige, der er von Anna und dem Ring erzählt haben konnte. Und in dem Augenblick, als Anna und ich ihm über die mysteriösen Angriffe auf sie erzählt haben, muss ihm bewusst geworden sein, dass nur eine als Verursacherin dieser Angriffe in Frage kam: Du. Er konnte es nicht fassen, nicht wahr? Deshalb wollte er uns so schnell wie möglich aus dem Haus haben. Um dich zur Rede zu stellen, um Klarheit zu schaffen. So war es doch, nicht wahr?»
«Ka», appellierte Alannah händeringend. «Hör endlich auf, solche Dummheiten zu reden. Bist du verrückt geworden?»
Wieder schüttelte ich den Kopf, ganz langsam.
«Nein, Alannah. Ich bin nicht verrückt. Im Gegenteil, ich sehe so klar wie seit langem nicht mehr. Wie hast du es angestellt?»
«Was?», stiess sie verzweifelt aus.
«Den Mord. Wie hast du es gemacht? Du musstest schnell handeln, und du warst beeindruckend erfolgreich damit. Wie hast du ihn umgebracht?»
«Es gibt keinen Mord!», rief sie entnervt aus. «Du musst das endlich einsehen, Ka - das sind Hirngespinste! Regionalfahnder Riesen weiss es, ich weiss es, und du weisst es im Innersten auch: Du bildest dir da etwas ein! Du musst diese fixe Idee endlich aufgeben, das wird langsam unheimlich! Warum diese Paranoia, Ka? Hast du Schuldgefühle? Denkst du, er sei wegen dir gestorben? An Herzversagen, weil du ihn zuvor so aufgeregt hattest? Möglich wäre es!»
Ich schwieg eine Weile, sah sie nur an.
«Du bist gut, das muss ich zugeben», sagte ich dann. «Du ziehst das durch, nicht wahr? Kein Wunder, dass die Leute dir aus der Hand fressen.»
«Niemand frisst mir aus der Hand!», schrie sie, und ihre Stimme brach.
Wieder blickte ich sie wortlos an, musterte sie von oben bis unten. «Nun gut», sagte ich dann.
Ich streifte den Ring vom Finger und hob ihn hoch in die Luft.
Folge 83
«Ich habe den Ring, Alannah. Den unermesslich wertvollen Ring. Und ich weiss jetzt, dass du Max Weber umgebracht hast. Ich habe alle Trümpfe in meiner Hand. Und ich werde dir deine Taten beweisen, verlass dich darauf. Nichts wird mich davon abhalten. Ich werde dich zur Strecke bringen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Du hörst von mir.»
Mit einem letzten zornigen Blick in ihre arglos geweiteten Augen steckte ich den Ring in meine Tasche, wandte mich ab und ging.
Meine Hände zitterten, als ich draussen den Motor meines Autos startete.
Das pompöse Draufgängertum, das mich durch die letzten Minuten getragen hatte, ebbte ab und machte einer bodenlosen Erschütterung Platz.
Alannah. Sie war die Mörderin. Ich hatte eben mit einer kaltblütigen Mörderin die Klingen gekreuzt. Was hatte ich getan?
Fahrig steuerte ich den Wagen das schmale Strässchen hinunter. Ich musste an mich halten, nicht das Gaspedal durchzutreten.
Ich war erst wenige hundert Meter gefahren, als mein Mobiltelefon klingelte. Ich fuhr zusammen. Alannah? Jetzt schon? Rasch hielt ich an, würgte dabei unbesonnen den Motor ab, mein Auto machte einen würdelosen Hüpfer. Egal.
Mit schlotternden Fingern griff ich nach meinem Handy.
Martin. «Ja?», meldete ich mich atemlos.
«Kassandra, du musst herkommen. Mir ist egal, ob du frei hast - ich brauche dich hier.»
«Herkommen?», fragte ich aufgelöst. «Wohin herkommen? Was ist los?»
«Anna», erwiderte Martin dumpf. «Sie stellt sich quer. Du musst in die Klinik kommen, auf die geriatrische Station, Kassandra. Jetzt gleich.»
Eine halbe Stunde später hastete ich aufgelöst in das Stationszimmer der geschlossenen geriatrischen Station, auf der Anna hospitalisiert war.
«Martin Rychener hat mich angerufen, wegen Anna Dubach, ich sollte so schnell wie möglich kommen», wandte ich mich ohne Vorrede an die junge Pflegefachfrau, die an einem PC beschäftigt war. Ich kannte sie vom Sehen, erinnerte mich aber nicht an ihren Namen. «Weisst du, worum es geht?»
Sie warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. «Frau Dubach will nach Hause austreten, und zwar sehr entschieden.» «Austreten? Wieso denn so plötzlich?», fragte ich stirnrunzelnd.
Die Pflegefachfrau zuckte mit den Schultern. «Sie sagt, sie brauche keine Behandlung mehr. Und um ehrlich zu sein - ich kann das nachvollziehen. Auf mich wirkt sie erfreulich stabil, und zwar schon seit Längerem. Ich habe mich schon von Anfang an gefragt, warum sie unbedingt stationär behandelt werden muss - wir sehen da ganz andere Fälle. Aber du wirst dir schon etwas dabei gedacht haben, oder? Du warst schliesslich die einweisende Ärztin.»
Sie warf mir einen Blick zu, der mir halb kollegial, halb vorwurfsvoll vorkam. Ihr Scharfsinn passte mir gar nicht ins Konzept.
«Selbstverständlich habe ich mir etwas dabei gedacht», erwiderte ich knapp. «Ich weise niemanden aus Spass in eine Klinik ein. Wo finde ich meine Patientin?»
«In ihrem Zimmer, Nummer 14», erwiderte die junge Frau geschäftsmässig und wies mir die Richtung.
Als ich kurz darauf an die besagte Zimmertür klopfte, öffnete Martin mir die Tür. «Einen Moment bitte», rief er über die Schulter in den Raum hinein, «ich bin gleich zurück.»
Dann trat er in den Gang und zog rasch die Tür hinter sich zu.
«Endlich», zischte er leise, «wo warst du denn?»
Ich wischte seine Frage mit einer abwehrenden Handbewegung beiseite. «Später», flüsterte ich. «Erzähl mir lieber, warum Anna auf einmal aus der Klinik austreten will.»
«Ich wünschte, ich wüsste es», brummte er. «Sie macht auf stur und lässt sich nicht umstimmen. Droht sogar mit der Rekurskommission, wenn wir sie nicht ziehen lassen - es ist mir völlig schleierhaft, was in sie gefahren ist. Erschwerend kommt hinzu, dass Mirko, ihr Assistenzarzt, dauernd um sie herumschwirrt und die Sache unbedingt im Gespräch klären will. Er arbeitet erst seit knapp zwei Monaten hier bei uns in der Klinik und will es wahnsinnig gut machen», fügte er hinzu, sichtlich ergrimmt über diesen Übereifer. «Das ist lästig. In seiner Gegenwart kann ich nicht offen reden, sondern muss als Begründung imaginäre Symptome anführen und quasi verschlüsselt mit Anna reden - eine absurde Doppelbödigkeit, und sie denkt nicht daran, mitzumachen. Ich habe dir schon immer gesagt, dass diese Klinikeinweisung eine Schnapsidee war.»
«Ja, danke, Martin, sehr hilfreich», erwiderte ich beleidigt. «Lenk mir diesen Mirko ab, ja? Egal wie.»
Dann klopfte ich mit den Fingerknöcheln ein dezidiertes Stakkato an die Türe und trat ein.
Die Nummer 14 war ein Zweibettzimmer. Anna Dubach sass auf dem Rand ihres Bettes, und ihre Haltung vermittelte eine gewisse Ungeduld, während ein junger, dunkelhaariger Arzt ihr gegenüber auf einem der beiden Holzstühle sass, die zur Grundausstattung der Patientenzimmer gehörten, und engagiert auf sie einredete. Ab und zu drückte er jovial ihren Unterarm, was Anna, das sah ich ihr an, nicht ausstehen konnte. Ihre Lippen waren zu einer strichdünnen Linie zusammengepresst.
Folge 84
Sie blickte zu mir empor, und ihre Miene hellte sie auf. «Ah, Kassandra, endlich», sagte sie. «Ich will austreten. Können wir gehen?»
Ich trat näher.
«Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist», erwiderte ich. «Ich hätte Angst, dass es dir rasch wieder schlechter ginge, wenn du jetzt schon nach Hause gehen würdest. Deine Sicherheit», ich betonte das Wort überdeutlich, «liegt mir sehr am Herzen.»
«Dummes Zeug», entgegnete sie ungnädig. «Mir geht es sehr gut, und Herr Babic hier meint auch, dass ich in bester Verfassung sei, nicht wahr, Herr Doktor?»
Mirko Babic strahlte zu mir empor.
«Frau Dubach und ich», erklärte er mit hartem slavischen Akzent, «haben gerade besprochen, dass es ein gutes Zeichen ist, wenn Patienten nach Hause wollen. Einen Hospitalismus wollen wir ja unbedingt vermeiden, nicht wahr?» Er war sichtlich stolz auf den Fachbegriff.
Ich warf einen auffordernden Blick in Martins Richtung.
«Mirko», schaltete der sich prompt ein. «Hättest du eine Minute für mich? Ich möchte mit dir reden. Draussen.»
«Muss das gerade jetzt sein?», fragte dieser. «Ich finde es wichtig, dass ich bei diesem Gespräch hier dabei bin.»
«Doch, es muss sein», bestätigte Martin gravitätisch. «Ich muss unbedingt eine Zufriedenheitsbefragung mit dir durchführen. Weisung von ganz oben. Qualitätssicherung, verstehst du? Wir müssen belegen können, dass wir eine attraktive Weiterbildungsstätte für Assistenzärzte sind.»
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, während Mirko kopfschüttelnd und sichtlich widerwillig aufstand und den Raum verliess. Qualitätssicherung? Eine Zufriedenheitsbefragung? War das alles, was Martin Rychener als Ausrede einfiel? Ich würde ihn später gnadenlos damit aufziehen.
Sobald die beiden Männer draussen waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten, setzte ich mich Anna gegenüber.
«Anna, ich verstehe, dass du die Klinik satthast. Aber es ist gerade jetzt wichtig, dass du hierbleibst.»
«Ich will nach Hause. Ich will meine Ruhe, ich will endlich wieder einmal allein sein, ohne dass jemand mich überwacht. Ich muss nachdenken.»
«Hör zu.» Ich rückte ein Stück näher an sie heran und senkte die Stimme.
«Ich war eben bei Alannah Meissner. Die Nachbarin von Max Weber, erinnerst du dich?»
Anna nickte vorsichtig.
«Sie hat Max Weber umgebracht, Anna. Ich bin ganz sicher. Und ich bin ebenso sicher, dass sie auch hinter den Angriffen auf dich steckt. Sie ist recht grossgewachsen und schlank, könnte also durchaus als der schlaksige Jüngling mit der Kapuze durchgehen, der dir damals vom Tram nach Hause gefolgt ist. Und wetten, dass Sie die Anruferin war, die wissen wollte, wo du deine Wertsachen aufbewahrst?»
Annas Augen weiteten sich. Sie sagte nichts, starrte mich nur an.
«Der kräftige Angreifer damals in der Wohnung war sie allerdings nicht, das steht fest», räumte ich ein. «Aber sie hat offenbar einen Freund, der von der Statur her passen könnte. Ein grosser, hellblonder Typ mit breiten Schultern. Ich habe ein Foto von ihm gesehen.»
Anna schwieg weiterhin. Ich konnte sehen, dass es heftig in ihr arbeitete.
«Ich habe vor weniger als einer Stunde ein sehr konfrontatives Gespräch mit Alannah geführt», fuhr ich fort. «Ich habe ihr auf den Kopf zu gesagt, dass ich weiss, dass sie die Täterin ist. Und dass ich sie überführen werde. Ich weiss, das war riskant. Aber es ging nicht anders. Und ich hoffe, dass es etwas bewirkt. Was auch immer.»
«Ob das klug war?», fragte Anna. Ihre Stimme klang seltsam hohl. «Es könnte dich in grosse Gefahr bringen.»
«Mach dir bitte um mich keine Sorgen, Anna – deine Sicherheit ist es, an die wir denken müssen», entgegnete ich drängend. «Du bist angreifbarer als ich. Ich will nicht riskieren, dass Alannah oder ihr Freund, wenn er denn der Angreifer war, dir etwas antun können. Sie dürfen auf keinen Fall wissen, wo du bist.»
Ich holte tief Luft. «Ich weiss nicht, was sie jetzt unternehmen wird. Ich habe sie provoziert, sie in die Enge getrieben. Jetzt kann alles Mögliche passieren. Du musst hierbleiben, nur so können wir sicherstellen, dass dir nichts geschieht. Das verstehst du doch?»
Wieder schwieg Anna. Ihr Blick war in unbestimmte Fernen gerichtet, ihre Stirn in tiefe Falten gelegt.
«Anna?», fragte ich sachte in das sich ins Endlose dehnende Schweigen hinein. «Was denkst du?»
«Was hast du vor, Kassandra? Was willst du jetzt tun?», fragte sie bedächtig.
Ich konnte die Mutlosigkeit in meiner Stimme nicht ganz unterdrücken, so sehr ich es auch versuchte. «Ich weiss es noch nicht genau», gab ich zu. «Es ist alles noch ganz frisch, und ich konnte noch keinen klaren Gedanken fassen. Irgendwie», ich fuchtelte mit den Händen durch die Luft, «muss ich herausbekommen, wie sie es angestellt hat. Die Mordmethode, verstehst du? Ich muss herausfinden, wie sie es geschafft hat, dass die Rechtsmediziner bei ihren Untersuchungen nichts Verdächtiges bemerkt haben. Ich glaube nicht, dass wir darauf hoffen dürfen, dass es dort draussen einen zufälligen Zeugen gegeben hat. Also bleibt nur die Methode.»
«Und hast du schon eine Idee?»
Folge 85
«Noch nicht. Aber die wird mir schon noch kommen», versprach ich mit falscher Munterkeit. Anna blickte wieder in die Ferne. Ihre Augen machten Sakkaden, ruckartige Bewegungen, als würde sie einen unsichtbaren Text lesen. Es kam mir vor, als wäre sie sich meiner Anwesenheit nur noch halb bewusst.
Ihre zunehmende Abwesenheit und ihre irrationalen Verhaltensweisen machten mir Angst. Mir war, als begänne sie, den Kontakt zum Hier und Jetzt zu verlieren, die geistige Klarheit und Präsenz. Sie schien mir unendlich weit weg, unfassbar.
«Anna?», sprach ich sie wieder an.
Mit einem Ruck kam die alte Dame in die Gegenwart zurück.
«Also gut», brummte sie. «Ich bleibe noch ein paar Tage. Unter folgender Bedingung: Ich will nicht immer auf der Station sein müssen. Andere Patienten dürfen allein in den Ausgang, das will ich auch.»
«Aber Anna …»
«Wie gesagt», unterbrach sie mich streng. «Das ist meine Bedingung. Du weisst, wenn ich die Rekurskommission beiziehe und denen erzähle, unter welchen Umständen ich überhaupt eingewiesen wurde, dann hast du keine Chance. Ich habe mich informiert.»
«Das ist dermassen gemein, Anna, ich fasse es nicht. Du weisst genau, weshalb ich damals…»
«Bekomme ich den Ausgang?», unterbrach sie mich abermals harsch.
Ich schnaubte. «In Ordnung. Aber nur aufs Areal, einverstanden? Du darfst den Perimeter der Klinik nicht verlassen. Hier kann dir nichts geschehen.»
Sie nickte.
«Ja», sagte sie, «das wird genügen. Aber jetzt will ich, dass du mir etwas versprichst, Kassandra. Ich will, dass du diese Alannah in Frieden lässt.»
«Wie bitte? Anna, was redest du da? Sie hat Max Weber ermordet!»
Anna schüttelte unwirsch den Kopf. «Vergiss Max Weber, und vergiss Alannah. Ich will, dass du die Sache aufgibst, hörst du?»
«Niemals!», begehrte ich wütend auf. «Was ist in dich gefahren? Warum willst du die Frau auf einmal davonkommen lassen, jetzt, wo ich so nah an ihr dran bin?»
«Eben weil du so nah an ihr dran bist. Ich will nicht, dass dir etwas zustösst. Lass es bleiben, Kassandra.»
«Aber Max Weber …»
«Max Weber geht es gut», antwortete sie mit vollem Ernst. «Er braucht nichts von dir. Er hat seinen Frieden gefunden. Alles ist gut, Kassandra. Du musst nichts mehr tun.»
Ich holte tief Luft. Mein Unbehagen angesichts dieser seltsamen, verworrenen Anna verstärkte sich. Entwickelte sie Wahnideen? Wurde sie psychotisch, oder waren dies erste Anzeichen einer Demenz? Was ging hier vor?
«Da bin ich nicht deiner Meinung», sagte ich, um einen beschwichtigenden Tonfall bemüht. «Denn Alannah will immer noch diesen Ring, unbedingt, und mein Gefühl sagt mir, dass sie um jeden Preis versuchen wird, ihn zu bekommen, jetzt noch mehr als zuvor. Sie ist schon so weit gegangen, sie hat sogar einen Menschen getötet. Warum sollte sie jetzt aufhören? Und warum sollte sie vor einem zweiten Mord zurückschrecken? Ich muss sie stoppen, Anna, das ist der einzige Weg.»
Nun sah sie mich wieder wortlos an, nachdenklich, prüfend.
«Nun gut», meinte sie dann. «Dann muss es auf diese Weise gehen.»
«Was?», hakte ich nach. «Was muss auf diese Weise gehen? Was meinst du?»
Sie schüttelte den Kopf. «Alles gut, Kassandra. Ich bleibe hier, wie wir es besprochen haben. Mach dir einfach keine Sorgen um mich, verstehst du? Mach dir», sie starrte mir eindringlich in die Augen, «einfach keine Sorgen, egal, was passiert. Tu auf keinen Fall etwas Dummes.»
«Was willst du damit sagen? Anna, rede mit mir!», flehte ich.
Doch in diesem Augenblick ging die Türe auf, und Mirko trat ein, sonnig strahlend, und ging mit weit ausgebreiteten Armen auf Anna zu.
«Frau Dubach, meine Lieblingspatientin! Hier bin ich wieder, keine Sorge! Wie steht es?»
«Es ist mir eine grosse Beruhigung, zu wissen, dass Sie bei mir sind, Herr Doktor Babic», erwiderte Anna trocken und kam mir für einen Moment wieder völlig wie ihr altes, resolutes Selbst vor. «Ich habe mich mit Frau Doktor Bergen unterhalten, und wir haben eine Lösung gefunden. Ich bleibe noch einige Tage hier», ich konnte sehen, wie Martin, der mit bangem Blick im Türrahmen stehengeblieben war, sich sichtlich entspannte, «aber Frau Bergen findet, es würde mir guttun, ein wenig Ausgang zu bekommen, nicht wahr, Kassandra?» Sie blickte mich gebieterisch an.
«Nur aufs Areal», präzisierte ich resigniert, «und nicht länger als zweimal eine Stunde pro Tag. Wir wollen ja nicht, dass unsere Patientin uns verloren geht, nicht wahr?», fügte ich säuerlich hinzu.
«Eine grossartige Idee», rief Mirko Babic aus. «Ich bin sicher, Frau Dubach wird diesen nächsten Schritt zurück in die Selbständigkeit sehr gut bewältigen. Es geht aufwärts, Frau Dubach! Ich bin sicher, Sie werden sich jetzt völlig sicher fühlen.»
Vertraulich zwinkerte er ihr zu. Ich hoffte nur, dass er Recht hatte.
Kapitel 23
Die folgende Nacht warf ich mich im Bett hin und her, Stunde um Stunde, ohne Schlaf zu finden.
Zweifel nagten an mir.
Konnte es tatsächlich sein, dass eine unauffällige junge Frau wie Alannah einen Menschen ermordet hatte? Sie wirkte so harmlos, so herzlich und unbefangen. War das wirklich alles Fassade?
Folge 86
Es war logisch, hielt ich mir vor Augen, während ich ein weiteres Mal versuchte, eine bequeme Liegeposition zu finden, ohne Marc neben mir zu stören. Alannah war am nächsten an Max Weber dran gewesen. Er hatte ihr, so die Worte von Roland Soltermann, aus der Hand gefressen. Natürlich hatte er ihr davon erzählt, als er die alte Fotografie von Anna gefunden hatte – wem sonst? Wahrscheinlich hatte er ihr das Bild sogar gezeigt. Und wenn er ihr dann noch von dem wertvollen Ring seiner Mutter erzählt hatte, den sein Bruder Erich damals vor fünfzig Jahren entgegen dem Willen der Familie seiner jungen Verlobten Anna geschenkt hatte…
Hatten Alannah diese Informationen ausgereicht, um Anna zu finden? Konnte es sein, dass sie angesichts der alten Geschichte ihre Chance gewittert und über Wochen beharrlich versucht hatte, an diesen Ring heranzukommen? Unter derartigen Mühen, allen Hindernissen zum Trotz? War das denkbar?
Hatte Alannah Max Weber auf dem Gewissen? Und falls ja, wie? Wie hatte sie es gemacht?
Und was, wenn ich mich täuschte? Der Gedanke trieb mir kalte Schauer über meine verschwitzte Haut.
Was, wenn ich tatsächlich Gespenstern hinterherjagte? Wenn tatsächlich, allen Indizien zum Trotz, nur eine Kette von unglücklichen Zufällen dahintersteckte? Wenn Max Webers grollgeplagtem, verkrustetem Herz die Aufregung seiner letzten Tage zu viel gewesen war?
Hatte ich Alannas Reaktion richtig interpretiert? War ihr Erschrecken angesichts des Ringes an meinem Finger so verräterisch, so zweifelsfrei entlarvend gewesen, wie ich es empfunden hatte?
Meine Erinnerung begann bereits, sich zu verändern, an den Rändern auszufransen, die Bilder verschoben sich, erschienen in neuem, kaltem Licht, und eine bösartige, hinterlistige Stimme in mir hinterfragte, ob ich meinem Gefühl wirklich trauen konnte.
Konnte ich falsch liegen?
Als ich am nächsten Morgen übernächtigt und reizbar in der Klinik eintraf, bestand meine erste Amtshandlung darin, auf Annas Station anzurufen. Ich erreichte die Nachtwache, die dem Tagesteam eben ihren Rapport abgab.
Doch, Anna Dubach ginge es wunderbar, ich müsse mir keine Sorgen machen. Sie sei kooperativ und zufrieden, ruhiger und gefasster denn je, und sie hätte geschlafen wie ein Baby, friedlich und ungestört.
Immerhin eine von uns, dachte ich grimmig bei mir, während ich mich bedankte und das Gespräch beendete.
Martin hatte keine Freude, als ich ihn kurz nach acht anrief.
«Kassandra, heute ist es ganz schlecht. Ich nehme an der ganztägigen Geschäftsleitungsretraite teil, du erinnerst dich vielleicht? Die, von der ich dir seit Wochen erzähle? Eine wichtige Sache – es geht um die strategische Ausrichtung der Klinik für die nächsten zehn Jahre, inklusive der Wahl des neuen Chefarztes. Sämtliche Vorstandsmitglieder sind dabei. Wir starten um neun, und ich muss mich noch vorbereiten. Du weisst, wie wichtig das für mich ist. Es ist entscheidend, dass ich einen guten Auftritt hinlege.»
Er klang, atypisch für ihn, nervös und gehetzt.
«Ich wollte mit dir gemeinsam überlegen, wie Alannah Max Weber ermordet haben könnte», erwiderte ich, halb kleinlaut, halb trotzig.
Ich hatte Martin am Vortag, nach meinem Gespräch mit Anna, kurz über den Eklat zwischen mir und Alannah berichtet.
Er hatte mir ernst gelauscht, sich sichtlich bemüht, meiner Argumentation zu folgen. Aber ich hatte ihm deutlich angemerkt, dass er nicht völlig überzeugt war.
«Zugegeben, ihre Reaktion auf den Ring war seltsam. Aber genügt das, Kassandra? Was haben wir denn in der Hand? Und ich habe etwas Mühe, mir diese Alannah als berechnende Mörderin vorzustellen. So, wie du sie mir immer geschildert hast, scheint sie so gar nicht der Typ dafür zu sein.»
«Sie war es, Martin. Ich weiss es einfach», hatte ich beharrt.
«Ganz klar, ich bin auf deiner Seite, immer», hatte er erwidert. «Aber dein Gefühl allein genügt nicht. Du hast eine schwerwiegende Beschuldigung gegen Alannah ausgesprochen. Wenn du daran festhältst, wenn du deinen Verdacht anderen gegenüber aussprichst, könnte sie dich wegen Verleumdung anzeigen. Und glaub mir, das wäre für Regionalfahnder Riesen ein gefundenes Fressen. Wir sind jetzt in der Pflicht, deinem Gefühl eine solide Basis zu geben, deinen Verdacht zu beweisen, und gleichzeitig müssen wir vorsichtig sein, Alannah keine Munition zu geben, die sie gegen dich verwenden könnte. Und», er hatte resigniert geseufzt, «ich habe gerade keine Ahnung, wie wir das anstellen sollen.»
Und nun hörte ich Martin am Telefon erneut seufzen, entnervt und gestresst.
«Kassandra, nicht jetzt, okay? Wir können später darüber sprechen. Aktuell passiert gerade nichts. Machen wir die Schotten dicht, halten wir uns bedeckt, sammeln wir uns, ehe wir wieder aktiv werden, in Ordnung? Wir können uns einige Tage Zeit lassen, in Ruhe überlegen.»
Ich schwieg verletzt.
«Hör zu, es tut mir leid», beeilte er sich zu sagen. «Du weisst, ich bin für dich da, und wir haben vereinbart, das zusammen durchzustehen. Aber nicht jetzt. Nicht heute. Du musst warten, ein einziges Mal, okay? Einen Tag. Das schaffst du, oder? Diese Retraite ist wichtig für mich.»
Folge 87
Ich verstand ihn, sagte ich mir, nachdem ich das Gespräch beendet hatte. Natürlich verstand ich ihn. Martin wollte Chefarzt werden, und er hatte es verdient, Chefarzt zu werden. Er war der Beste für den Job. Nun musste er nur den Vorstand der Klinik von diesem Umstand überzeugen. Der heutige Tag würde massgeblich zu deren Einschätzung beitragen.
Natürlich musste Martin sich jetzt auf diese Retraite konzentrieren. Natürlich konnte ich einen Tag warten.
Mein Gefühl indes sagte mir etwas anderes. Da war etwas, was mir den Atem nahm, eine namenlose Furcht. Und ich fühlte mich unendlich allein.
Um halb elf, während einer gemeinsamen Sitzung mit meiner Stationspsychologin, erklang der Rufton meines Klinikhandys. Ich warf einen raschen Blick auf das Display: Annas Station.
Unter dem scharfen Blick von Emma, der Psychologin, hastete ich Entschuldigungen murmelnd aus dem Raum.
«Ja?»
«Frau Doktor Bergen?»
«Ja!»
«Hier spricht Marti, ich bin die Tagesverantwortliche des Pflegedienstes.» Ein unbehagliches Räuspern. «Es handelt sich um Anna Dubach. Sie sind in der elektronischen Krankengeschichte als primäre Kontaktperson vermerkt, und da dachte ich…»
«Was ist?», herrschte ich die Frau an.
Sie schluckte. «Frau Dubach ist verschwunden.»
Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Kopf wich. «Wie, verschwunden?», fragte ich mit wattiger Stimme. «Wie zum Geier meinen Sie das?»
Sie schluckte hörbar. «Frau Dubach hat um Ausgang gebeten, sie wollte in der Cafeteria einen Kaffee trinken und dann ein wenig spazieren gehen. Das ist erlaubt – sie hat ja explizit Ausgang allein im Areal, das war also völlig in Ordnung.» Sie klang defensiv.
«Ja, ja, weiter!», drängte ich.
«Sie ist nicht zur vereinbarten Zeit zurückgekommen.»
«Wann hätte sie spätestens wieder auf der Station sein sollen?»
«Um halb zehn.»
«Um halb zehn?», rief ich entnervt aus. «Das war vor einer Stunde! Und Sie verständigen mich erst jetzt?»
«Hören Sie», gab sie patzig zurück. «Wir haben zuerst einen Suchtrupp losgeschickt, bestehend aus unserem Zivildienstleistenden und einer jungen Auszubildenden. Die beiden haben sich gründlich umgesehen, zuerst in der Cafeteria, danach haben sie das gesamte Areal und die umgebenden Wege abgelaufen und überall rumgefragt, auch an der Loge, wo man Zeitschriften und Schokoladen kaufen kann. Nichts. Keine Spur von Frau Dubach.» Ich fuhr mir entnervt durch die Haare. «Ja, okay, gut gemacht», gab ich fahrig zurück. «Haben Sie den Sohn der Patientin verständigt?»
«Noch nicht.»
«Machen Sie das – Eric Dubach, seine Nummer ist im System. Fragen Sie ihn, ob er etwas von ihr gehört hat. Er soll alles stehen und liegen lassen und prüfen, ob sie in ihrer Wohnung in Bern ist. Oder in der Wohnung seiner Lebenspartnerin. Er soll alle Bekannten anrufen. Ich komme gleich rüber.»
Als ich nach wenigen Minuten auf der Station ankam, traf ich dort nicht nur auf Frau Marti, eine rundliche Frau mittleren Alters mit grellroten Locken, sondern auch auf Marianne Ramseier, die leitende Ärztin der Klinik für Alterspsychiatrie. Sie war Martin Rycheners gerontopsychiatrisches Gegenstück – eine hochgewachsene, magere, ernste Frau Mitte fünfzig, die ich noch nie besonders gemocht hatte.
«Ah, da bist du ja», sagte sie mit ihrer dunklen, raspelnden Stimme und mass mich mit einem abschätzenden Blick.
Ich nickte ihr kurz zu, wandte mich dann an Frau Marti. «Haben Sie Eric Dubach erreicht?»
Frau Marti warf Marianne Ramseier einen zögernden Blick zu, ehe sie antwortete.
«Ja, habe ich. Er macht sich auf die Suche nach seiner Mutter, wie Sie vorgeschlagen haben. Herr Dubach war nicht begeistert, er macht sich grosse Sorgen.»
«Was hat Frau Dubach mitgenommen? Mantel? Handtasche? Mobiltelefon?», wollte ich wissen.
Wieder blickte Frau Marti kurz zu der leitenden Ärztin, als wollte sie diese um Erlaubnis fragen, überhaupt mit mir zu sprechen.
«Frau Dubach hatte ihren Mantel an und ihre Handtasche am Arm. Ob sie ein Telefon dabeihat, weiss ich nicht. Sie besitzt eines, das weiss ich – ein altes Klapphandy, recht unmodern. Aber ob sie es mitgenommen hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Wir haben natürlich versucht, sie darauf zu erreichen, aber das Gerät ist nicht eingeschaltet, so viel kann ich Ihnen sagen.»
«Hat Frau Dubach etwas Besonderes gesagt, bevor sie losgegangen ist? Wollte sie sich mit jemandem treffen?»
«Einen Moment mal, Ka», meldete Marianne sich zu Wort. Ihr Blick war hart. «Könntest du mich bitte über deine Rolle in dieser Sache aufklären? Wie kommt es, dass ausgerechnet du die Frau eingewiesen hast? Ist sie eine Angehörige?»
«Nein», gab ich ungeduldig zu, «eine Freundin. Übrigens auch von Martin Rychener», fügte ich listig hinzu. Ich hätte viel dafür gegeben, ihn jetzt an meiner Seite zu haben. Er wäre besser mit Marianne Ramseier zurechtgekommen, so auf Augenhöhe, auf der gleichen Kaderstufe.
«Ah», machte Marianne gedehnt. «Ich habe mich von Anfang an gewundert, was diesen Fall angeht», fügte sie dann nachdenklich hinzu. «Frau Dubach kam mir psychisch und geistig immer bemerkenswert gesund vor, weisst du? Und ich habe mich gefragt, was wirklich hinter dieser Hospitalisation steckte.»
Ihr Blick röntgte mich.
«Spielt das jetzt eine Rolle? Sie ist verschwunden, und das sollte dir zu denken geben», hielt ich angriffslustig dagegen.
Folge 88
88 «Sollte es das?» Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. «Wie ich von Mirko Babic hörte, wollte Frau Dubach gestern schon austreten. Was zweifellos ihr Recht gewesen wäre, und angesichts ihres erfreulichen Gesundheitszustands hätte auch nichts dagegengesprochen. Nicht die Spur einer Selbst- oder Fremdgefährdung. Aber du und Martin wart heftig dagegen, nicht wahr? Verwunderlich. Sehr verwunderlich.»
«Sie ist unerklärlich verschwunden», gab ich kalt zurück.
«Wir haben keine Hinweise, dass ihr etwas zugestossen sein könnte. Sie wollte gestern austreten, vielleicht hat sie heute spontan beschlossen, es nun doch zu tun. Das würde ich verstehen.»
«Sie hat ihre ganzen Sachen hiergelassen.»
«Viele Leute holen ihr Gepäck später ab.»
«Auch ihr Sohn macht sich Sorgen.»
«Es passiert häufig, dass Angehörige überreagieren.»
Ich kniff die Augen zusammen. Das war doch nicht zu fassen. «Ich bin sicher, sie ist in Gefahr», zischte ich.
«Eine aus der Luft gegriffene Behauptung. Kannst du sie belegen?»
Ich stemmte beide Hände in die Hüften. «Wo ist eigentlich Mirko? Ist nicht er der behandelnde Arzt von Frau Dubach?» Marianne lächelte süffisant. «Er ist abwesend - heute Abend beginnt er mit der Nachtrotation. Tut mir ja so leid, wenn du es stattdessen mit mir zu tun bekommst. Ein etwas unbequemeres Gegenüber, als du es gewohnt bist, oder? Die männlichen Kollegen magst du im Griff haben, aber ich halte mich an die reinen Fakten. Und die sind hier ein wenig kümmerlich.»
Frustriert stiess ich die Luft aus meinen Lungen. «Marianne, bitte! Das ist kein Machtspiel zwischen uns beiden, es geht um die Patientin. Wir müssen die Polizei beiziehen! Anna Dubach muss ausgeschrieben und aktiv gesucht werden!»
Marianne Ramseier schüttelte langsam den Kopf. «Oh nein, Ka. Das werden wir nicht tun. Es gibt nichts, was so einen Schritt rechtfertigen würde. Eine polizeiliche Ausschreibung stellt einen gravierenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte eines Menschen dar. So etwas mache ich nur, wenn ich sehr gute Gründe habe.»
«Na gut», rief ich entnervt. «Keine Sorge, du musst dir nicht die Hände schmutzig machen. Ich mache es selbst!»
«Nein», wiederholte Marianne hart. «Das lässt du schön bleiben. Ich habe von deinen Sperenzchen gehört, von deinen Extratouren, deinen Detektivspielchen. Der Chef mag dir das durchgelassen haben, bitte, das ist deine Sache. Aber hier, auf meiner Station, wirst du nichts dergleichen tun. Du bist auf meinem Hoheitsgebiet. Hier entscheide ich.»
Ihre eisblauen Augen sprühten kalte Funken.
«Bitte verlass sofort die Station. Ich werde diese Angelegenheit dem Direktor melden. Es ist dringend notwendig, dass man dir einmal auf die Finger schaut.»
Wortlos starrte ich sie an, in ihre hämische, herausfordernde Miene. Hier hatte ich mir offenbar, ohne es zu ahnen, vor langer Zeit schon eine erbitterte Feindin gemacht. Neid und Missgunst waren schwierige Gesellschafter.
Einige Herzschläge lang hielt ich inne. Zuschlagen? Oder zurückziehen?
Dann atmete ich tief durch.
«Du hast Glück, dass ich gerade keine Zeit für deine Spielchen habe, Marianne», sagte ich dann mit klirrendem Frost in der Stimme. «Ich muss dafür sorgen, dass Anna Dubach nichts zustösst. Aber wenn das hier vorbei ist, dann, meine Liebe», ich rückte einen Schritt näher an sie heran und starrte ihr zornig in ihr blödes, selbstgerechtes Gesicht, «werden wir diese Situation zwischen uns bereinigen. Verlass dich darauf.»
Und ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte ich mich auf dem Absatz um und ging.
Aufgelöst hastete ich über das Klinikgelände.
Grossartig, einfach grossartig, wütete ich innerlich. Ich hatte innerhalb von vierundzwanzig Stunden zwei Konflikte eskalieren lassen, und ich hatte Anna verloren. Und Martin Rychener war an seiner vermaledeiten Retraite und hatte sein Handy ausgeschaltet.
Inbrünstig fluchend suchte ich nach Eric Dubachs Nummer und stellte die Verbindung her.
«Kassandra?» Seine Stimme klang ängstlich. «Hast du sie?»
«Nein. Du also auch nicht?»
«Ich werde in wenigen Minuten in ihrer Wohnung eintreffen. Ich melde mich.»
Die wenigen Minuten dauerten eine gefühlte Ewigkeit.
Ich rief wiederholt Annas Telefonnummern an. Die Festnetznummer klingelte endlos ins Leere, die Handynummer vermeldete «Bitte rufen Sie später an.»
Als Erics Anruf kam, war ich in meinem Büro angekommen und marschierte ruhelos im Raum auf und ab.
«Ja?»
«Fehlanzeige», sagte er nur, und seine Stimme klang leblos. «Hier ist sie nicht. Und es sieht auch nicht so aus, als wäre sie kürzlich hier gewesen.»
«Weiss die Nachbarin etwas?»
«Nein, ich habe sie schon gefragt.»
«Vielleicht bei Violetta?», schlug ich verzweifelt vor.
«Sie ist gerade ausser Landes, an einer Konferenz in Frankreich. Aber ich fahre gleich in ihre Wohnung und schaue nach.»
«Mach das.»
Dreiviertel Stunden später wurde klar: Auch in der Wohnung von Erics Lebenspartnerin war Anna nicht.
Folge 89
Ich versuchte erneut, Martin zu erreichen. Sein Telefon ging direkt auf Voicemail. Ich hätte vor Frustration am liebsten geweint.
Was waren meine Optionen? Was konnte ich tun?
Es blieb im Grunde nur eines. Verzagt stöberte ich nach der Visitenkarte, fand sie schliesslich, zerknittert und unbeachtet in den staubigen Tiefen meiner Handtasche.
«Ja?»
«Herr Riesen? Hier spricht Bergen, Kassandra Bergen. Ich habe ein Problem.»
«So?» Seine Stimme klang neutral, abwartend. Nicht aggressiv.
Ich wertete das als gutes Zeichen, befeuchtete mir die Lippen und legte los. «Herr Riesen, Anna Dubach ist verschwunden. Sie erinnern sich, die alte Dame, die am Vorabend vor seinem Tod mit Max Weber gesprochen hat?»
«Natürlich erinnere ich mich», gab er barsch zurück. «Verschwunden? Wie, seit wann?»
«Seit zwei Stunden. Sie war in der psychiatrischen Klinik Eschenberg hospitalisiert und ist unerklärlich nicht aus dem Ausgang zurückgekehrt. Ich mache mir grösste Sorgen.»
Schon während ich den Satz zu Ende sprach, kam ich mir dumm dabei vor. Und so war ich nicht überrascht über seine Antwort.
«Weshalb rufen Sie denn mich deswegen an? Scheint mir eher etwas für Sie als Ärztin zu sein, wenn Frau Dubach hospitalisiert war. Womöglich war sie verwirrt und hat den Weg zurück nicht mehr gefunden?»
«Sie war geistig absolut klar.»
«Und warum war sie dann in der Klinik?»
Das führte zu nichts. Ich verhedderte mich in meinem eigenen Konstrukt.
«Herr Riesen, ich habe den Verdacht, dass sie entführt wurde.»
«Entführt?», wiederholte er ungläubig. «Haben Sie Hinweise, die dafürsprechen?»
«Nichts wirklich Belastbares», gab ich zu.
Ich hielt einen Moment bang inne. Dann sammelte ich allen Mut, den ich aufbringen konnte.
«Herr Riesen, ich bin sicher, Max Webers Nachbarin, Alannah Meissner, hat mit dessen Tod zu tun. Ich fürchte, sie könnte auch hinter dem Verschwinden von Anna Dubach stecken. Wir müssen etwas tun. Sie müssen etwas tun. Bitte.» Ich mochte das Flehen in meiner Stimme nicht, aber es war unüberhörbar.
Regionalfahnder Riesen seufzte ungeduldig. «Frau Bergen, was um Himmels Willen soll ich denn Ihrer Meinung nach machen?»
«Alannah Meissner beschatten!», schlug ich wild vor.
«Mit welcher Begründung? Haben Sie Belege für Ihre Beschuldigungen?»
«Nein», erwiderte ich verzweifelt. «Nichts, was Sie überzeugen würde. Aber ich habe mit Alannah Meissner gesprochen, gestern erst, und ich bin mir ganz sicher.»
«Gibt es Zeugen für dieses Gespräch?»
«Nein», sagte ich mutlos.
Er holte vernehmlich Luft.
«Hören Sie, Frau Bergen», begann er, und seine Stimme klang nicht unfreundlich, sondern fast väterlich. «Ich merke, dass Sie sich ernsthafte Sorgen machen, und das ehrt Sie. Ihnen liegt an Frau Dubach, nicht wahr?»
«Ja», erwiderte ich jämmerlich.
«Aber die Beschuldigungen, die Sie hier gegen Frau Meissner äussern, könnten Sie teuer zu stehen kommen, wenn Sie keinerlei Beweise vorbringen können. Ich will jetzt mal vergessen, dass Sie mir davon erzählt haben», fügte er grossmütig hinzu. «Wenn Frau Dubach erst seit zwei Stunden weg ist, muss gar nichts Schlimmes passiert sein. Warten Sie ein paar Stunden, schauen Sie, ob die alte Dame von selbst wieder auftaucht. Beruhigen Sie sich. Trinken Sie einen heissen Tee, das wird Ihnen guttun. Und wenn Frau Dubach morgen noch nicht aufgetaucht ist, melden Sie sich wieder, dann schauen wir weiter, in Ordnung?»
Ich gab auf. «In Ordnung», sagte ich resigniert. «Danke sehr.»
Die nächsten Stunden gehörten mit zu den längsten in meinem Leben.
Martin Rychener war weiterhin nicht zu erreichen.
Eric Dubach rief mich stündlich an, um zunehmend drängend nachzufragen, ob ich etwas von seiner Mutter gehört hätte, was ich unternehmen würde?
Mir fiel keine tröstliche Antwort ein.
Ich konnte nur warten. Warten, dass etwas passierte. Denn es würde etwas passieren, da war ich mir sicher. Und ich ahnte auch schon, was.
Kapitel 24
Der Anruf kam kurz vor fünf Uhr abends.
Ich hatte mich durch den Kliniktag gequält, hatte erfolglos versucht, mich abzulenken, Berichte korrigiert, zweifellos ohne brauchbare Resultate, mich durch telefonische Anfragen von meinen Mitarbeitern gehangelt, im hilflosen Versuch, einigermassen normal zu wirken, und mich sonst in meinem Büro verschanzt. Und gewartet, gewartet, gewartet.
Der Klingelton schreckte mich auf.
Mit klopfendem Herzen starrte ich auf das Display: «Anna Dubach Mobil»
Sofort nahm ich den Anruf an.
«Kassandra?»
Ihre Stimme klang brüchig, unsicher.
«Anna? Gott sei Dank! Wo bist du? Ich habe mir solche Sorgen gemacht!»
Weiterlesen können Sie hier: «Jenseits der Gier ab Folge 90»
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