FortsetzungsromanLesen Sie die Folgen 1 – 29 von «Jenseits der Gier»
Im neuen Kriminalroman von Esther Pauchard will sich eine Oberärztin um die betagte Mutter eines früheren Schulkollegen kümmern – und gerät dabei in gefährliche Tiefen.
Folge 1
Es war nicht so, dass ich neugierig gewesen wäre, das nicht. Es war nicht mehr und nicht weniger als freundschaftliche Anteilnahme, die mich innehalten liess, als ich Martin Rychener an diesem düsteren Januartag in der Klinikcafeteria tief im Gespräch mit einem Fremden sah.
Ich war eben daran, an der Kasse das Vollkornbrötchen zu bezahlen, das ich mir als ernährungstechnisch unbedenkliche vormittägliche Zwischenverpflegung geholt hatte, als ich die beiden erblickte.
Martin Rychener sah blendend aus, natürlich. Er trug einen hellblauen Rollkragenpullover, der edel und teuer aussah und es zweifellos auch war, kombiniert mit einem lässig um den Hals geschlungenen Schal mit beigefarbenem Karomuster. Mit seinem akkurat getrimmten graumelierten Haar und der aristokratischen Haltung wäre er problemlos als Schauspieler durchgegangen, als Adliger in einer Liebesschmonzette oder attraktiver Chefarzt in einer Privatklinik. Letzteres kam der Realität ja recht nahe. Sein Blick war ernst, mitfühlend.
Martins Gegenüber war deutlich weniger elegant. Sein krauses dunkles Haar war halblang und das Gegenteil von akkurat getrimmt – ein wilder Wuschelkopf. Ein ausgebleichtes Sweatshirt, über der Stuhllehne ein abgetragener grauer Dufflecoat, wie ich mit einem abschätzenden Blick erkannte. Eine moderne Brille mit breitrandiger schwarzer Fassung in einem sympathischen, jungenhaften Gesicht, das jetzt allerdings besorgt und bedrückt wirkte. Ich schätzte den Mann ein wenig jünger als Martin.
«Frau Bergen? Das macht eins zwanzig, wie gesagt.» Die frostige Stimme der Kassiererin. Ihre Miene war vorwurfsvoll.
Hastig schaute ich über meine Schulter – da standen drei weitere Angestellte der Klinik, die ungeduldig von einem Fuss auf den anderen traten und darauf warteten, dass ich endlich vorwärtsmachte. Betretene Entschuldigungsworte murmelnd, bezahlte ich mit meiner persönlichen Klinikkarte, nicht ohne einen weiteren raschen Seitenblick zu Martin und dem Fremden. Martin hatte eben über den Tisch gegriffen und dem anderen die Hand auf den Arm gelegt, eine Geste, die Trost und Sicherheit spenden sollte und deutlich machte, dass dies kein geschäftliches Treffen war.
Wer war der Fremde? Und worum ging es hier?
Betont ungezwungen schlenderte ich auf den Tisch zu, an dem die beiden sassen, im Versuch, Martins Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Umsonst.
Nun denn.
«Guten Morgen, Martin!», trällerte ich sonnig und blieb vor den zwei Männern stehen. «Schön, dich zu sehen. Übles Wetter heute, was? Als ob das Tageslicht zum Generalstreik aufgerufen hätte. Ah, hallo!», fügte ich hinzu, in einem, wie ich fand, überzeugend überraschten Tonfall, der den Eindruck vermitteln sollte, dass ich den Fremden erst jetzt bemerkt hatte. «Mein Name ist Kassandra Bergen, ich bin Oberärztin in der Klinik hier.»
Ich sah den Mann auffordernd an.
Hinter den Brillengläsern sahen dunkelbraune Augen verwirrt und unsicher zu mir auf.
«Hallo», sagte der Mann nur und lächelte vage.
«Guten Morgen Kassandra», erwiderte Martin betont wohlerzogen. «Wie schön, ein zufälliges Zusammentreffen – es ist immer wieder eine Freude.» Ein trockener, wissender Blick. «Ich bin gerade in einem privaten Gespräch. Hast du ein fachliches Anliegen an mich? Das können wir dann sicher später besprechen, oder?» Er lächelte kühl.
Ich spürte Empörung in mir aufwallen – wie kam der Mann dazu, mir so eine Abfuhr zu erteilen?
Stoisch hielt ich die Wärme in Miene und Stimme aufrecht und gab mich harmlos. «Das tut mir wahnsinnig leid, ich wollte auf keinen Fall stören. Dann lasse ich euch in Ruhe weiterreden – ich melde mich später bei dir.»
Im Weitergehen hörte ich von Martin ein dumpfes Murmeln.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte, aber es hatte nach «Wetten, dass du das tun wirst?» geklungen.
Allerhand.
Ich dachte nach dieser Szene natürlich nicht daran, Martin direkt nach dem Unbekannten zu fragen.
Am grossen Klinikrapport schwebte ich mit beiläufiger Nonchalance an Martin vorbei und setzte mich an meinen Platz am langen Tisch, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, scheinbar hochkonzentriert in ein Versicherungsschreiben vertieft.
Beim Mittagessen nickte ich ihm freundlich zu, wählte aber einen Tisch fernab von seinem. Und als ich ihm später auf dem Klinikareal zufällig über den Weg lief, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, um mich vor dem feuchtkalten Winterwind zu schützen, winkte ich heiter, zog aber an ihm vorbei, ohne meinen Schritt zu verlangsamen.
Sollte er nur sehen, wie falsch er mich eingeschätzt hatte. Seine Privatangelegenheiten interessierten mich nicht die Bohne.
Und trotzdem, überlegte ich, als ich später am Tag in meinem Büro sass und eine Patientenakte studierte. Martin und ich waren Freunde, gute Freunde, seit vielen Jahren. Selbstverständlich nahm ich Anteil an seinem Leben – wäre es nicht unnatürlich gewesen, wenn ich es nicht getan hätte? Konnte er mir das vorwerfen?
Seine abschätzige Haltung war unfair und selbstgerecht. Aber ich würde ihm nicht den Gefallen tun, ihm das zu sagen. Ich würde weiterhin nobel schweigen. Sollte er sich ruhig schämen angesichts meiner würdevollen Zurückhaltung. Das konnte ihm nur guttun.
Folge 2
Stirnrunzelnd klickte ich mich durch den Fall, an dem ich gerade arbeitete. Eine schwierige Situation - eine Patientin auf meiner Station, die in einem Akutspital als Pflegefachfrau auf der Anästhesie arbeitete und uns unter Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht verbot, ihrem Arbeitgeber etwas über ihre schwere Medikamentenabhängigkeit zu erzählen. Die unbedingt wieder arbeiten wollte, obwohl es in ihrem Zustand nicht ratsam war.
Was, wenn die Suchterkrankung der jungen Frau zur Gefahr für die Patienten wurde, die sie betreute? Was, wenn sie lebensgefährliche Fehler machte?
Ich stand auf. So ein heikler Fall erforderte zwingend eine Besprechung mit dem leitenden Arzt.
Ich liess mich von Martins süffisantem «Ah, Kassandra, wer hätte das gedacht?», nachdem ich angeklopft und sein Büro betreten hatte, nicht im Geringsten provozieren.
«Ich möchte Frau Keller mit dir besprechen», erklärte ich und klappte meinen mitgebrachten Laptop auf. «Eine Patientin Jahrgang 1993 auf meiner Station. Wir stecken da juristisch in einer Zwickmühle.»
Betont tüchtig und sachlich schilderte ich ihm die Details.
«Lucas Schuster betreut sie als Assistenzarzt», schloss ich meine Ausführungen. «Er findet, es läge in unserer Verantwortung, etwas zu unternehmen und zu verhindern, dass sie weiter im Operationssaal arbeitet. Er setzt mir zu, fordert, dass wir eine Gefährdungsmeldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde machen. Ich allerdings bin unschlüssig - tue ich es, würde ich das Vertrauen der Patientin aufs Spiel setzen, und damit auch ihre Therapiebereitschaft. Und das könnte die Situation weiter verschlimmern. Was meinst du dazu?»
«Nun, das ist natürlich tatsächlich eine schwierige Situation», bestätigte Martin ernst. «Da verstehe ich absolut, dass du als Kaderärztin mit jahrelanger Erfahrung dir keinen Rat mehr weisst und direkt zu mir kommst.»
Ich verzog keine Miene.
«Ich würde», fuhr er gemessen fort, «der Patientin transparent machen, in welche Zwickmühle sie mich bringt. Ich würde ihr erklären, dass ich ihren Wunsch nach Geheimhaltung verstehe und würdige, aber nicht riskieren kann, dass dadurch ihre Patienten zu Schaden kommen. Also würde ich mit ihr über andere Wege diskutieren, um sicherzustellen, dass so etwas nicht passieren wird: eine ernsthafte und ausreichend lange Fortführung der stationären Therapie, gefolgt von einer ambulanten Nachsorge mit Urinproben in unregelmässigen Abständen. Sollten diese Urinproben anzeigen, dass sie einen Konsumrückfall hatte, dann müsste der ambulante Therapeut eine Gefährdungsmeldung erwägen.»
Ich nickte ernst. «Das scheint mir eine gute Lösung zu sein, geradezu salomonisch. Danke vielmals, Martin.»
Ich blieb sitzen.
Martin wartete einige Augenblicke.
«Ist sonst noch etwas?», fragte er dann seidenweich.
Ich strahlte ihn unschuldig an. «Von meiner Seite her nicht. Ausser, du hättest noch etwas?»
Er lächelte amüsiert. «Nein, was sollte denn sein?»
Mist.
Aber bitte, wenn er es so haben wollte.
Mit schneidigem Schwung stand ich auf. «Dann ist es ja gut. Schönen Abend noch», erwiderte ich fröhlich und schritt zur Tür.
Ich war schon fast draussen, als sein Ruf mich zurückhielt. «Kassandra, warte.»
«Ja?» Mit ahnungslos fragendem Blick drehte ich mich zu ihm um.
Martin hatte die Arme über der Brust verschränkt und schüttelte entnervt und ermattet den Kopf. «Mach um Himmels Willen diese Tür zu und setz dich wieder, ja? Das kann sonst noch tagelang so weitergehen, und ich bin zu alt für sowas.»
Triumphierend liess ich mich in seinen Besuchersessel fallen, ein Bein lässig über der Armlehne baumelnd.
«Ich bin ganz Ohr», sagte ich erwartungsfroh.
«Ich frage mich, wann du je erwachsen wirst», grummelte Martin.
Dann hob er seine Hände. «Es war im Grunde gar nichts Besonderes. Der Mann, mit dem du mich heute beim Kaffee gesehen hast, heisst Eric, ein Freund aus alten Zeiten. In meiner Jugend wohnten unsere Familien mal im gleichen Quartier in Bern. Er ist einige Jahre jünger als ich, aber eine Weile besuchten wir damals die gleichen Nachtlokale - du weisst, ich hatte als Heranwachsender eine recht aufsässige Phase.»
Ich grinste wissend. Ich hatte vor Jahren einmal das Vergnügen gehabt, ein Foto in die Finger zu bekommen, das Martin Rychener als Jüngling zeigte. Nietenbewehrtes Leder, eine Frisur, die einem Heavy Metal-Leadsänger zur Ehre gereicht hätte, sehr viele Pickel und sehr miese Laune. «Eric und ich hatten damals einen ähnlichen Musikgeschmack.»
Mein Grinsen wurde breiter.
«So traf es sich, dass wir uns öfter mal im Ausgang trafen und merkten, dass wir uns gut verstanden. Wir sassen beieinander und schimpften über den Staat - was lachst du so blöd?»
«Nichts, nichts», beeilte ich mich zu entgegnen - und zwang meine Miene in den streng neutralen Bereich.
Martin warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. «Natürlich haben sowohl Eric als auch ich die Schmalspur-Rebellion bald hinter uns gelassen und geordnete Pfade eingeschlagen, unsere Studien abgeschlossen. Wir haben losen Kontakt gehalten, bis er dann einige Jahre beruflich ins Ausland zog. Ich wusste gar nicht, dass er wieder im Lande war, bis er mich hier in der Klinik kontaktiert hat.»
Ich machte eine auffordernde Handbewegung. «Und?»
Folge 3
Er lachte wider Willen. «Er wollte meinen psychiatrischen Rat. Seine Mutter, Anna, die ich aus unserer Jugend noch kenne, ist mittlerweile Mitte siebzig und wird wunderlich. Neben den üblichen, altersbedingten körperlichen Problemen wird sie zunehmend ängstlich und zerstreut und scheint sogar eine Paranoia zu entwickeln – sie hat den Eindruck, sie werde verfolgt, jemand sei in ihrer Wohnung gewesen, man stelle ihr nach. Die Situation belastet Eric sehr. Ich habe ihm geraten, einen Termin auf der Gerontopsychiatrie für sie auszumachen, und ihm dafür gute Adressen genannt.»
Ich verzog das Gesicht. «Das ist alles?»
«Entschuldige herzlich, wenn es dir nicht dramatisch genug ist», versetzte Martin. «Es wäre mir gar nicht recht, wenn ich dich langweilen würde.»
Dann wurde seine Miene weicher. «Geht es dir gut, Kassandra? Wir haben uns wegen der Feiertage eine Weile nicht gesehen. Du kommst mir irgendwie verändert vor.»
Ich winkte ab. «Ach was, mir geht es sehr gut. Marc und ich hatten über Weihnachten und Neujahr lange, tiefgründige Gespräche. Und wir haben dabei eine Menge guter Vorsätze fürs neue Jahr gefasst. Wir wollen unser Leben ändern. Weniger Stress, mehr Zeit füreinander. Weniger Arbeit, mehr Musse. Ein einfacheres, gesünderes Leben. Du weisst, er hatte gerade im letzten Jahr in seiner Hausarztpraxis viel zu viel zu tun, war dauernd am Rande der Überforderung. Und ich …»
Ich verstummte beklommen.
«Und du hast die unselige Neigung, dich immer wieder in Bedrängnis zu bringen und in brandgefährliche kriminelle Machenschaften zu verstricken. Vor allem dich, aber auch deine Familie. So wie im letzten Herbst», ergänzte Martin ruhig.
Ich schluckte hart in Erinnerung an die Geschehnisse nur wenige Monate zuvor. Ich war um Haaresbreite davongekommen. Und ich hatte nicht nur mich selbst in Gefahr gebracht.
«Eine Weile hatte ich Angst, Marc zu verlieren, Martin», gestand ich kleinlaut. «Er schien mir so verändert, abwesend, desinteressiert, in sich versunken. Als wäre er innerlich weit weg. Sicher hat die Tatsache, dass ich erneut in die Aufklärung von mysteriösen Verbrechen involviert gewesen bin, ihn nicht gnädiger gestimmt, und der Fall Graf war wirklich ausserordentlich hässlich. Aber es war mehr als das, es ging tiefer. Als würde er uns als Paar, als Familie in Frage stellen. Als wäre er sich nicht mehr sicher.»
Ich strich mir mit beiden Händen über das Gesicht. «Ich habe nicht ganz verstanden, was in ihm vorgegangen ist. Er hält sich bedeckt, auch heute noch, er sagt, ich würde mich täuschen, es sei nichts gewesen. Aber immerhin», ich bemühte mich um einen forschen, munteren Tonfall, «schmieden wir konkrete Zukunftspläne. Gemeinsame Zukunftspläne. Wir wollen uns eine Auszeit gönnen, im Sommer. Juni bis August – Marc hat eine Stellvertretung für seine Praxis und unbezahlten Urlaub für mich organisiert, er meint das ernst. Aber nun sagt er, es würde wenig Sinn machen, uns drei Monate aus der Realität auszuklinken und auf ungetrübtes Familienglück zu machen, wenn wir danach wieder ins alte Fahrwasser geraten würden. Wir müssten unseren Alltag ändern, unsere Normalität, greifbar und nachhaltig.»
Martin musterte mich skeptisch. «Will heissen?»
Ich wedelte mit den Händen durch die Luft. «Einen gesünderen Lebensstil – Bio-Gemüse, Vollkorn, kaum Fleisch, keinen Alkohol. Macht ja Sinn, oder? Wir werden nicht jünger. Weniger Hektik – ruhige Wochenenden, Mussestunden über guten Büchern, geruhsame Spaziergänge und dergleichen. Aufbauende Freundschaften mit freundlichen, unkomplizierten Menschen pflegen. Ganz allgemein ein friedliches Leben ohne ständige Aufregungen.»
«Das erklärt, warum du in den letzten Tagen immer diese Mehrkorn-Vollwert-Brötchen und das vegetarische Mittagsmenu bestellst und die üblichen fetten Snacks und süssen Desserts weglässt», meinte Martin weise.
Ich nickte verdrossen. «Ich muss mich noch an die ganzen Umstellungen gewöhnen. Aber Marc hat Recht. Wir sind über vierzig, wir müssen Sorge zu uns tragen. Vernünftig leben, den goldenen Mittelweg wählen statt immer die Extreme. Einen Gang zurückschalten. Das tut uns beiden gut.»
«Und weil du aus tiefster Überzeugung ein beschauliches Leben ohne Aufregungen führen willst, stürzt du dich wie ein Habicht auf den ersten Zipfel eines Rätsels, der sich dir bietet, auf ein völlig harmloses Gespräch zwischen mir und einem Freund. Doch, das überzeugt mich.» Martins Worte troffen vor Sarkasmus.
«Das war reine Anteilnahme», begehrte ich hitzig auf. «Dass du auch immer alles fehlinterpretieren musst!»
Martin schwieg eine Weile, studierte wortlos mein Gesicht.
«Das hältst du nicht lange durch, Kassandra», sagte er dann leise. «Das bist nicht du. Wenn zwischen Marc und dir etwas brodelt, dann wirst du das nicht dadurch reparieren, dass du dich verbiegst und auf stilles Wasser machst. Mehr noch – allein der Versuch ist destruktiv. Die Frau, die Marc Bergen geheiratet hat, war nie geruhsam und vernünftig, und sie hat nie den goldenen Mittelweg gewählt. Wenn er klug ist, dann weiss er das auch.»
«Und wenn nicht?», fragte ich mit einem Hauch Bitterkeit in der Stimme.
Dann, nach einem weiteren Moment des Schweigens, stiess ich hervor: «Denkst du, es könnte zur Sucht werden?»
«Was denn?»
Folge 4
«Die Rätsel, die Abenteuer. Die Dunkelheit und Gefahr. Meinst du, ich habe Geschmack daran gefunden und bin unersättlich geworden, verlange nach immer mehr und mehr? Könnte es sein, dass mir ein normaler, ereignisloser Alltag daneben nun schal und dröge vorkommt? Haben all die Fälle, die wir zusammen durchlebt haben, meinen Sinn für Normalität korrumpiert? Bin ich übergeschnappt?»
Martin schwieg.
«Du hast Recht», fuhr ich fort. «Ich habe dich dort in der Cafeteria sitzen sehen, mit diesem Unbekannten, dein Gesicht voller Sorge, und dieser Anblick hat in mir ein kleines Feuerwerk gezündet. Es war mehr als nur Neugier, es war eine Art Hunger. Ich wollte unbedingt wissen, was dahintersteckte, ich wollte die Geschichte hören. Ich witterte ein Rätsel. Und jetzt», anklagend hob ich die Hände, «bin ich enttäuscht, dass es sich nur um eine alte Mutter mit Altersparanoia handelt. Wie krank ist das denn? Gerade nach dem, was letzten Herbst passiert ist? Schon wieder passiert. Es war ja beileibe nicht das erste Mal.»
«Vielleicht», gab Martin launig zu bedenken, «kommt dieses Hungergefühl auch nur von deiner neuen Diät? Ich meine, von Rohkost und Vollkorn allein wird niemand satt. Und dann die Fruchtsäfte, die du neuerdings …»
Mit einer ungeduldigen Handbewegung brachte ich ihn zum Schweigen. «Es ist mir ernst. Das ist doch tragisch! Diese Gier nach dem Verborgenen, der Flirt mit Gefahr und Düsternis. Ich bin doch nicht normal!»
Ich sprang auf und begann, fahrig in Martins Büro auf- und abzumarschieren, wild gestikulierend. «Ich bin 44 Jahre alt, Mutter von zwei wunderbaren Töchtern, Frau eines hart arbeitenden Hausarztes, langjährige Kaderärztin in der Psychiatrie. Es ist Zeit, dass ich zur Ruhe komme, meine Mitte finde. Den Sinn im Alltäglichen erkenne.»
«Wenn du es sagst.»
Der mitfühlende Zweifel in Martins Stimme war unüberhörbar. «Wenn du es wirklich so willst?»
Ich blieb stehen.
«Ja, ich will es so», antworte ich mit Nachdruck. «Ich tue das nicht für Marc, nicht nur, ich will es für mich. Für meine Familie. Keine Risiken mehr. Ich werde nicht mehr in üble Geschichten hineinschlittern und dabei so tun, als hätte ich es gar nicht gewollt. Man hat immer eine Wahl, und ich wähle jetzt einen neuen Weg. Ich werde», ich bekräftigte meine Worte mit einem entschlossen erhobenen Zeigefinger, «mich ändern. Gründlich.»
Martin sah mich nur an, und ich erkannte die tiefe Zuneigung in seinem Blick, das Verständnis, das Mitgefühl, aber auch die Resignation. Er wollte meinen Worten glauben, er versuchte es aufrichtig. Aber es gelang ihm nicht.
Der Frage, ob ich selbst es tat, wich ich geflissentlich aus.
Kapitel 2
Mein Gespräch mit Martin und die daraus erwachsene scharfkantige Selbsterkenntnis hallten lange nach. Es kam mir vor, als wären die Worte, die ich ausgesprochen hatte, nicht meine gewesen, sondern die Aussage einer klarsichtigen Fremden, die mit unbestechlichem Strich ein Bild von mir gezeichnet hatte, das mich erschreckte.
Ka, die Mutwillige, Risikosüchtige, die das Privileg ihres wohlsituierten und unbelasteten Lebens als Monotonie missverstand und den dunklen Glamour des Unheils suchte, ohne Rücksicht auf Verluste, gelangweilt, angeödet von dem, was zahlreiche andere Menschen ersehnten, von Stabilität und Glück.
Ka, die Anmassende, die Mal für Mal das Schicksal herausforderte, sich etwas einbildete auf ihre vermeintliche Klugheit.
Dieses Bild von mir selbst widerte mich an.
Ich hatte sehr wohl verstanden, was Martin mir hatte sagen wollen. Nach all meinen Berufsjahren war ich Fachfrau genug, um zu wissen, dass es keine gute Idee war, sich verbiegen und Charakterzüge unterdrücken zu wollen. Darum, so sagte ich mir, ging es mir nicht.
Aber ich konnte mich verändern. Ich konnte wachsen, mich entwickeln, Wesenszüge an mir fördern, die bislang verschüttet gewesen waren. Zufriedenheit, Dankbarkeit, Genügsamkeit. Seelenruhe, Ausgeglichenheit. Ich konnte lernen, die kleinen Dinge im Leben wertzuschätzen, statt immer nach den grossen, bedeutsamen zu schielen.
Ich konnte reifer werden, ruhiger. Ich würde es schaffen.
Diesmal, so entschied ich, würde ich keine halben Sachen machen. Ich würde ganz konkrete Anpassungen in meinem Leben vornehmen. So, wie ich es meinen Patienten immer riet.
Und ich gab mir wirklich Mühe.
Ich zwang mich explizit, langsamer zu gehen. Auf meine Atmung zu achten. Mir Ruhepausen zu gönnen.
Ich nahm mir bewusst Zeit für Gespräche mit meiner Familie, liess mir die Erlebnisse und Nöte meiner Töchter erzählen.
Ich bemühte mich mehr denn je, ausgewogen und gesund zu kochen, und zügelte mein Temperament, als Jana und Mia mein biologisches Gericht aus grünen Linsen und Federkohl angewidert zurückwiesen, mit dem Vermerk, das grüne Geschmier sehe aus wie gekotzt.
Ich trank literweise Kräutertee. Ich las wertvolle Bücher.
Marc und ich spazierten am Wochenende durch den winterlich kargen Wald, führten ernsthafte Gespräche über das Leben, während unter unseren Schuhsohlen der Raureif knirschte.
Ich versuchte mich sogar an Yoga und unterdrückte dabei heroisch den Impuls, wüst über die irrwitzigen Verrenkungen zu fluchen, welche die aufreizend milde Stimme der gesichtslosen Trainerin in meiner Sport-App mir abverlangte.
Ich war zufrieden mit mir, sehr zufrieden. Ich übertraf meine eigenen Erwartungen.
Folge 5
Martin hielt ich laufend über meine wundersame Entwicklung auf dem Laufenden. Er lauschte mir geduldig und machte aufmunternde Geräusche, aber ich sah ihm an, dass er dem Frieden nicht recht traute.
Nun gut, das war ihm zu verzeihen, sagte ich mir grossmütig. Er kannte die alte Kassandra Bergen schon seit mehr als zehn Jahren. Er würde Zeit brauchen, um sich an die neue zu gewöhnen.
«Möchtest du wissen, wie es mit der Mutter von Eric weitergegangen ist?», fragte Martin mich eine Weile später unvermittelt. «Was er mir kürzlich erst erzählt hat, hat mich gelinde gesagt überrascht.»
War das ein Test? Wollte Martin prüfen, ob sich erneut meine Gier nach Rätseln melden würde, beim kleinsten Anlass?
Ich lächelte milde. «Wenn du mir davon erzählen willst?» Martin runzelte die Stirn. «Du schaust so komisch. Halb teilnahmsvoll, halb doof. Wie ein Schaf. Ist das die neue Seelenruhe?»
Ich warf ihm einen kühlen Blick zu.
«Schon besser, Gott sei Dank», versetzte Martin. «Eric war mit seiner Mutter mittlerweile beim Gerontopsychiater. Der hat die üblichen Abklärungen gemacht, breite Anamnese, Testdiagnostik, Status und Labor, Schädel-MRI, EEG. Und jetzt rate mal, was die ergeben haben?»
«Eine leichte bis mittelgradige Demenz?»
«Falsch. Toppwerte, die alte Dame ist völlig klar im Kopf. Alles bestens.»
«Das muss nichts heissen. Ich bin keine Spezialistin, aber könnte es auch eine depressive Pseudodemenz sein? Oder eine wahnhafte Störung? Sucht? Eine Angsterkrankung?»
«Wäre alles möglich, aber die alte Dame will nichts davon wissen. Sie pocht darauf, dass sie psychisch völlig gesund sei. Sie will ernst genommen werden, nicht behandelt.»
«Das ist nicht ungewöhnlich, oder? Fehlt es gerade im Alter nicht häufig an Krankheitseinsicht?», fragte ich.
«Doch, natürlich. Was es aber nicht leichter macht. Anna erweist sich als bemerkenswert stur. Sie will nicht zum Arzt. Aber mit mir», er hüstelte, «würde sie reden. Weil sie mich kennt. Eric hat mich darum gebeten, einmal ein Gespräch mit ihr zu führen. Er möchte meine Meinung hören.»
Ich spürte das leise Aufglimmen von Interesse irgendwo in meinem Brustkorb. Dezidiert erstickte ich die Flamme.
«Na, dann wünsche ich dir viel Erfolg. Ich bin sicher, du wirst einen Weg finden, die alte Frau zur Behandlung zu motivieren. Wer, wenn nicht du?»
Wieder lächelte ich betont milde.
«Bäääh», blökte Martin.
Ich streckte ihm die Zunge heraus.
Eine Woche später fiel mir im grossen Klinikrapport Martins umwölkte Miene auf. Er gab sich Mühe, unbeteiligt zu wirken, aber ihn beschäftigte etwas, das war mir sonnenklar.
Als nach dem Schlusswort des Klinikdirektors das allgemeine Stühlerücken losging, Akten zusammengeklaubt, Laptoptaschen umgehängt und Jacken ergriffen wurden, drängte ich mich zwischen Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern hindurch und tippte Martin von hinten auf die Schulter.
«Alles okay bei dir?», fragte ich. «Du siehst besorgt aus. Probleme?»
Er zögerte.
«Es hat nichts mit der Klinik zu tun», erwiderte er dann. «Es geht um Eric und seine Mutter.»
Ich zog in höflichem Interesse die Augenbrauen hoch.
Martins Miene verdüsterte sich. «Ich habe mit Anna gesprochen. Sie wirkt tatsächlich sehr klar auf mich, weder depressiv noch ängstlich noch wahnhaft, zumindest nicht auf den ersten Blick. Aber mehr noch als das. Die Paranoia hat nun auch auf Eric übergegriffen.»
Ich zog die Augenbrauen noch höher. «Eine Folie à deux? Meine Güte.»
Martin schüttelte unwirsch den Kopf. «Eric ist psychisch vollkommen stabil, Kassandra, und zudem einer der intelligentesten Menschen, die ich je getroffen habe. Aber nun erzählt er mir, dass auch er das beklemmende Gefühl hat, beobachtet zu werden. Mir kommt diese Sache zunehmend seltsam vor.»
Ich spürte es, das Aufwallen von etwas Feurigem, Altbekanntem in meinem Inneren. Ein Prickeln, ein Kribbeln.
Atmen, sagte ich mir entschieden. Tief atmen. Ein. Aus. Ein. Und aus.
«Ich muss auf meine Station, Martin, tut mir leid. Ich werde für ein schwieriges Gespräch erwartet. Viel Glück mit der Sache, ja?»
Aufmunternd klopfte ich ihm auf die Schulter und entschwand dann, ehe er noch etwas entgegnen konnte.
Ich glühte vor Stolz. Kassandra Bergen, Heldin des neuen Weges, leistete erfolgreich Widerstand und widersetzte sich der schmeichelnden Versuchung. Konnte es einen besseren Beweis dafür geben, dass ich die alten Muster gründlich hinter mir gelassen hatte, dass ich auf dem Weg war zu einem weisen, in sich ruhenden Selbst?
Da sieht man es wieder, sagte ich mir selbstzufrieden. Menschen können sich verändern, können eine neue Wahl treffen. Hatte ich es nicht immer schon gesagt?
Beschwingt betrat ich an diesem Abend das Haus. So erfüllt war ich von einem warmen Gefühl von Dankbarkeit und Freude, dass ich versöhnlich darüber hinwegsah, dass Jana und Mia schon wieder Schulsachen, ausgelatschte Turnschuhe und verdreckte Jacken kreuz und quer im Eingang verstreut hatten.
Ohne grosses Aufheben darum zu machen, räumte ich die Sachen weg.
«Hallo?», rief ich dann. «Jemand zuhause?»
«Hier!», brüllte Marc aus seinem Büro im Kellergeschoss. «Ich muss noch kurz etwas erledigen, bin gleich bei dir.»
Folge 6
Mein Weg führte mich in die Küche, wo ich, wenig verwunderlich, ebenfalls ein kleines Chaos antraf – leergefutterte Kekspackungen, Krümel überall, eingetrocknete Müslischalen, eine schrumpelige Bananenschale im Spülbecken. Erneut unterdrückte ich meinen ersten Impuls, in wüstes Gebrüll zu verfallen. Kam es auf lange Sicht darauf an? Spielte es eine Rolle? Es waren noch Kinder, sie mussten nicht alles perfekt machen.
Also entsorgte ich den Abfall, steckte das Geschirr in die Abwaschmaschine, und gerade, als mir beim Abwischen der Tischplatte eine verheissungsvolle Blechbüchse in mattem Rot ins Auge fiel, betrat Marc die Küche. «Oh», machte ich und reckte den Hals, um die geschmackvoll in Shabby-Chic gehaltene Büchse genauer zu betrachten. «Was ist denn das?» «Gebäck», erwiderte er. «Ein Geschenk.» Frohlockend hob ich den Deckel ab. «Meine Güte!», keuchte ich, als ich die wunderschönen regenbogenfarbigen Meringues erblickte. «Die sind aber nicht etwa selbstgemacht, oder?»
«Doch, offenbar schon.» «Wow. Eine Patientin?» «Nein», erwiderte Marc beiläufig. «Sondern?», bohrte ich nach. Marc liess sich heute aber wirklich die Würmer aus der Nase ziehen. «Eine Bekannte von früher.» «Welche Bekannte von früher?» «Niemand Besonderes. Sie heisst Linda», antwortete er und verzog sich ins Wohnzimmer. Ich blieb eine Weile bewegungslos in der Küche stehen, die Stirn in Falten, den Kopf schräggelegt, und suchte in den verborgenen Winkeln meines Zentralnervensystems nach einem guten Grund, warum dieser Name mir ein leichtes Unbehagen bescherte. Dann fiel der Groschen. «Linda? Deine Ex-Freundin?», rief ich sofort. «Ja», grummelte Marc aus dem Wohnzimmer über das Geraschel einer Zeitung hinweg. «Ich dachte, du hättest schon seit ewigen Zeiten keinen Kontakt mehr mit ihr?», gab ich zurück. «Ich habe sie zufällig wieder einmal getroffen», grummelte es aus dem Wohnzimmer. «Wann?» «Vor einer Weile.» Mir wurde das Rufen quer durch das Haus zu blöd. Die Büchse des Anstosses noch immer im Arm, marschierte ich ins Wohnzimmer hinüber. «Warum hast du mir nichts davon erzählt?», wollte ich wissen, und klang dabei brüsker, als ich vorgehabt hatte. «Es ist nicht wichtig», kam es hinter der grossflächig aufgespannten Zeitung hervor. «Und weshalb schenkt die Frau dir jetzt das Zeug hier?» Anklagend schüttelte ich das Corpus delicti. «Ich glaube, sie hat es einfach nett gemeint», erwiderte Marc. Es war offenkundig, dass ihm das Gespräch zuwider war. «Sie hatte eine harte Zeit, ich habe sie ein wenig unterstützt, und sie wollte ihre Dankbarkeit zeigen.» «Was für eine harte Zeit?», hakte ich argwöhnisch nach. «Eine hässliche Trennung. Wüster Rosenkrieg über Monate, bis nun kurz vor Weihnachten die Scheidung rechtskräftig wurde.» Ich schluckte. Starrte in die Blechbüchse. Die Meringues waren perfekt. Federleicht, pastellfarben gestreift, wunderschön geformt. Jede einzelne. «Lass mich das zusammenfassen», sagte ich, um Sachlichkeit bemüht. «Deine Ex-Freundin Linda – diejenige, welche dir vor knapp zwanzig Jahren gründlich das Herz gebrochen hat – ist überraschend wieder aufgetaucht und hat sich wegen ihrer Scheidung an deiner Schulter ausgeweint, richtig?
Und jetzt schenkt sie dir das da», erneut schüttelte ich vorwurfsvoll die Dose mit dem Schaumgebäck der Superlative, «und zwar aus lauterer Dankbarkeit und ohne jegliche Hintergedanken?» Marc senkte die Zeitung und sah mich an. «Es ist nichts, Ka. So, wie du es schilderst, klingt es völlig falsch. Ich bin schon ewig über Linda hinweg, und ihr geht das umgekehrt genauso. Die Treffen waren rein freundschaftlich, unterstützend. Du musst dir keine Sorgen machen.» Ich griff mir eine der Meringuen und hielt sie ihm dicht vor die Nase. «Hast du dir die Dinger mal genau angeschaut? Sie sind dreifarbig gestreift. Dreifarbig! Weisst du, wie schwierig sowas ist? Diese piekfeine Perfektion, das ist doch eine Provokation an meine Adresse! Erinnerst du dich, wie ich mich mal daran versucht habe, meinerseits Regenbogen-Meringuen zu backen, nach einem Rezept in einem hippen Blog?» Marc verzog das Gesicht.«Redest du von dieser schlammfarbenen, brettharten Platte, die du uns vor ein paar Monaten hast unterjubeln wollen? An der ich mir fast einen Backenzahn ausgebissen hätte?» «Eben!», triumphierte ich. «Normale Frauen können keine Regenbogen-Meringuen backen. Die hier kann es. Und deshalb ist dieses Geschenk nicht mehr und nicht weniger als eine Machtdemonstration. Mehr noch: eine Kriegserklärung.» Jetzt legte Marc seine Zeitung ganz beiseite. «Ka», sagte er, in seiner ruhigen, geduldigen Hausarzt-Stimme. «Du übertreibst. Ich bin sicher, Linda hat nie daran gedacht, dir den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Sie macht solche Dinge einfach gerne, hatte schon immer ein Faible dafür – Kochen, Backen, Dekorieren, Basteln. Neuerdings beschäftigt sie sich mit Kalligrafie.» Ich verzog angewidert das Gesicht. Schlimmer als befürchtet. «Du hingegen», fuhr Marc gemessen fort, «hast ganz andere Qualitäten. Mag sein», räumte er ein, «dass die typisch weiblichen Eigenschaften nicht so ganz dein Ding sind.»
Folge 7
«Aber in anderen Bereichen übertriffst du eine Linda um Längen. Und schliesslich habe ich dich geheiratet, oder? Nicht sie.»
«Vielleicht auch, weil sie damals, bevor du mich kennengelernt hast, Hals über Kopf zu einem anderen gezogen ist und dir einen emotionalen Scherbenhaufen hinterlassen hat?», gab ich zu bedenken.
«Das auch», erwiderte Marc trocken. «Aber nicht nur. Linda und ich, das wäre nie etwas geworden. Also wie gesagt: keine Sorge. Eifersucht ist unnötig. Wir sind einfach Freunde. So wie du und Martin.»
Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, klappte ihn dann aber wieder zu.
Martin.
Natürlich. Damit hatte er mich. Und zwar in vielerlei Hinsicht.
Ich hatte Marc über all die Jahre zugemutet, Martin Rychener als meinen engen besten Freund zu akzeptieren, ob mein Mann das nun wollte oder nicht. Es war gelungen, immerhin, die beiden hatten einen Weg gefunden, miteinander auszukommen, mehr noch: ihrerseits gute Freunde zu werden. Aber Marc hatte in dieser Sache keine Wahl gehabt.
Und da war diese kurze, heftige Affäre zwischen Martin und mir gewesen, damals, vor Jahren. Ich hatte sie Marc nie eingestanden.
Ich konnte das drehen und wenden, wie ich wollte, mildernde Umstände anführen, betonen, dass Martin und ich seitdem nie mehr auch nur annähernd die Grenze überschritten hatten, ich konnte unsere beiderseitige Reue ins Feld führen, die klare, unverbrüchliche Entscheidung für unsere jeweiligen Partner und Familien
Es änderte nichts.
Ich hatte Marc betrogen, ich hatte ihn belogen. Ich hatte ihm immer wieder versichert, dass er sich keine Sorgen machen müsse. Er hatte mir vertraut, und ich hatte dieses Vertrauen gebrochen.
Jetzt hatte sich das Blatt gewendet, die Rollen waren vertauscht. Und ich war nicht in der Position, pompös auf meine Rechte als Ehefrau zu pochen.
An Marcs irritiertem Blick merkte ich, dass ich zu lange geschwiegen hatte. Also gab ich mir einen Ruck. «Du hast Recht. Tut mir leid, ich habe überreagiert, Marc. Ich weiss auch nicht, was in mich gefahren ist, warum ich mich wie eine besitzergreifende Furie gebärde. Wahrscheinlich der blanke Neid, weil Linda diese vermaledeiten Baisers besser hingekriegt hat als ich damals.» In heroischer Selbstentsagung biss ich in eines der luftigen Wunderwerke.
«Mmh», machte ich tapfer. «Hervorragend.»
Noch immer kauend, gab ich meinem Mann einen artigen Kuss auf die zweifelnd gerunzelte Stirn und zog mich in die Küche zurück.
Ich musste die Emotionen, die in meinem Inneren losgebrochen waren, das Karussell von Ängsten, Wut, Zweifel und Schuldgefühlen mit mir selbst ausmachen, ausserhalb von Marcs Sichtweite.
Ich musste mich als Erstes beruhigen, mich fangen. Die Anspannung auf ein gangbares Niveau senken.
Ich stützte mich mit beiden Armen auf dem Herd auf, nahm ein paar bewusste, tiefe Atemzüge, schloss die Augen.
Schon besser.
Vor meinem inneren Auge formierte sich ein Muster. Lindas Rosenkrieg, über Monate. Marcs abwesende, distanzierte Unkonzentriertheit im Herbst, die vielen Abwesenheiten. Lindas Scheidung, die erst kürzlich über die Bühne gegangen war. Das Ungesagte, das zwischen Marc und mir stand, bis heute. Die verflixten Meringuen.
Traute ich dieser Linda? Nicht die Spur. Eine Frau, die so backen konnte, war zu allem fähig. Insbesondere eine frisch geschiedene Frau, die so backen konnte. Ich witterte Ungemach, ich witterte Probleme.
Aber ich durfte das jetzt nicht über Marc austragen. Es stand mir nicht zu, zu nörgeln und zu fordern. Mir ganz sicher nicht.
Ich brauchte eine Strategie.
Kapitel 3
«Deine Strategie ist Schwachsinn», beschied Martin Rychener kategorisch.
«Ist sie nicht», beharrte ich. «Sie ist wohldurchdacht, zieldienlich und fundiert. Wenn auch womöglich leicht ungewöhnlich.»
Martin lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, wodurch seine Frisur ein klein wenig in Unordnung geriet - ein klares Zeichen dafür, dass das Gespräch ihm zusetzte.
Es war drei Tage später, Freitag, und einmal mehr sass ich in seinem Büro in der Klinik, zu einer ausserordentlichen Lagebesprechung.
«Du kannst etablierte psychotherapeutische Werkzeuge nicht auf dermassen bizarre Weise anwenden», gab Martin mir zu bedenken. «Das Konzept der inneren Persönlichkeits-Anteile, des inneren Teams ist nützlich, um Patienten deutlich zu machen, dass es unterschiedliche Strebungen in ihrem Inneren gibt und dass jede dieser Strebungen wertvoll ist und da sein darf. Dass es besser ist, wenn diese Strebungen alle wahrgenommen und akzeptiert werden, als wenn ungeliebte Anteile ins Unbewusste abgedrängt werden, wo sie dann unbeaufsichtigt ihr Unwesen treiben.»
Ich nickte heftig. «Eben, da hast du es.»
«Aber das heisst nicht», fuhr Martin mit nun erhobener Stimme fort, «dass man dieses therapeutische Konzept gezielt und strategisch missbrauchen darf, um sich und andere hinters Licht zu führen. Was du vorhast, ist unehrlich und manipulativ.»
Folge 8
«Durchaus nicht», insistierte ich. «Ich bin absolut ehrlich mit mir. Ich erkenne, dass meine Psyche aus unterschiedlichen, sich teils widerstrebenden Anteilen besteht und dass jeder davon wichtig und richtig ist. Ich akzeptiere jeden einzelnen, setze sie zusammen an einen Tisch und verteile ganz bewusst Aufgaben. Jeder Anteil bekommt einen Bereich meines Alltags, in dem er sich verwirklichen und die Führung übernehmen kann. So kann ich mich in alle Richtungen frei entfalten und mich dynamisch an Umgebungsfaktoren anpassen.»
«Das ist dummes Geschwätz!» Martin wirkte mitgenommen, völlig übertrieben, wie ich fand. «Du formulierst es wunderschön, geradezu juristisch. Aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass du vorhast, gegenüber dem wichtigsten Menschen in deinem Leben hochstrategisch deine wahren Gefühle und Motive zu verbergen. Und das ist nicht richtig!» Er unterstrich die letzten Worte, indem er heftig mit der Faust auf seine Armlehne schlug.
«Du findest, ich sollte Marc gegenüber ehrlich sein?»
«Ja, allerdings.»
«Das heisst», fuhr ich kühl fort, «ich soll ihm von unserer Affäre damals erzählen? Und du, Martin? Wirst du deiner Ehefrau und Mutter deiner Tochter dann auch erzählen, dass du während ihrer Schwangerschaft mit mir im Bett warst?»
Martin erbleichte. «Das hat mit Selma nichts zu tun.»
«Nein? Was denkst du, wird Marc tun, wenn ich es ihm erzähle? Auch in Zukunft bei unseren lauschigen Abendessen zu viert edel schweigen, Selma im Unklaren lassen? So tun, als wäre nichts?»
Er verstummte.
«Ich habe mir hunderte von Malen überlegt, ehrlich zu ihm zu sein, Martin», fuhr ich ruhig fort. «Ich finde es grauenhaft, es ihm zu verheimlichen. Das Wissen um meinen Treuebruch liegt wie ein Stein in meinem Magen, ein stetiger Misston, der sich wie ein giftiger grauer Schatten über die schönsten Augenblicke mit Marc legt. Ich wünschte, ich könnte die Erinnerung exzidieren wie ein Geschwür.»
Martin seufzte tief. «Wir waren Idioten», stellte er fest.
«Ja, das waren wir. Und das wissen wir auch. Und wir leben danach, wir haben aus unserem Fehler gelernt, heute sind wir wahre Musterschüler, nicht wahr?»
Er lächelte schwach, und ich erwiderte sein Lächeln.
«Aber», fuhr ich fort, «der Misston ist immer noch da, lastet mir – und dir – auf der Seele, zwickt und schmerzt. Und die Versuchung wäre gewaltig, reinen Tisch zu machen, mich zu entlasten, ehrlich zu sein. Aber dann? Dann hätten wir unsere Last selbstgerecht auf Marc und Selma übergewälzt. Wäre etwas besser geworden? Beide würden leiden, massiven Schmerz empfinden, wegen einer Sache, die kurz aufgeflammt, sofort wieder erstorben ist und seitdem keine Auswirkungen mehr auf unser Leben, unsere Wahrheit hat. Im Heute sind wir absolut aufrichtig. Wir waren es nur nicht immer, wir sind einmal gestolpert. Nein, Martin, diese Art von Ehrlichkeit ist nicht konstruktiv. Sie ist feige.»
Er strich sich mit einer Hand über das Gesicht. «Das sage ich mir auch in einem fort. Und meistens glaube ich mir das auch.»
«Es gibt kein Richtig und kein Falsch in solchen Situationen. Es gibt nur Entscheidungen. Und ich habe meine Entscheidung getroffen.»
«Und nun taucht eine andere Frau am Horizont auf.»
«Ganz genau. Eine neue Kontrahentin hat den Ring betreten», erwiderte ich grimmig.
Er runzelte die Stirn. «Meinst du nicht, dass du die Sache überbewertest? Dir da etwas zusammenreimst?»
Langsam schüttelte ich den Kopf. «Ich wünschte, es wäre so. Aber nein, das glaube ich nicht. Es passt alles. Das ungute Gefühl wegen Marc, das mich seit Monaten umtreibt, die intensive, wortlose Spannung zwischen den Zeilen.
Seine Zerstreutheit, dass er mir zunehmend entgleitet. Ich glaube nicht wirklich, dass er eine Affäre mit Linda hat – es würde nicht zu ihm passen. Marc ist ein geradliniger Mensch, er macht keine halben Sachen.»
«Dasselbe könnte man auch über dich sagen, und doch…», warf Martin sachte ein.
«Ich weiss. Ich könnte mich täuschen. Und ich dürfte mich nicht einmal beklagen, wenn er eine heimliche Affäre hätte. Mehr noch, wenn dem so wäre, so weh mir das auch täte, wären wir quitt. Ich könnte mit ihm ins Reine kommen, wir könnten neu beginnen. Das ist nicht meine Hauptsorge. Ich habe Angst», ich schluckte hart, «dass Marc langsam, aber anhaltend zum Schluss kommen könnte, dass ein klassischeres Modell von Frau besser für ihn wäre. Dass eine Partnerin mit typisch weiblichen Interessen und Eigenschaften ihm die Ruhe und den Frieden schenken würde, die ihm bei mir fehlen. Das ist die grösste Gefahr. Und Linda könnte exakt diesen Typ Frau verkörpern.»
«Wie war das noch?», sagte Martin mitfühlend. «Kochen, Backen, Basteln?» «Und Kalligrafie», ergänzte ich dumpf. «Und regenbogenfarbige Meringuen.»
«Ich glaube, du unterschätzt Marc», wandte Martin freundlich ein. «Mag sein, dass er bisweilen die Nase voll hat von deinen Anwandlungen, besonders nach der üblen Sache im letzten Herbst. Aber ich glaube nicht, dass er das ernst meint. Wir Ärzte kennen diesen Effekt doch alle – bisweilen haben wir die Schwierigkeiten und Widerhaken in unserem Beruf so satt, dass wir davon träumen, ein ruhiges Leben zu führen und irgendwo auf dem Land ein Feld zu bestellen. Aber täten wir das wirklich, würde uns schnell langweilig. Das brave Weibchen mag für Marc ein stiller Traum sein, ein imaginärer Kontrast. Aber er ist mit Kassandra Bergen verheiratet. So ein Mann will im Innersten kein liebes Frauchen.»
Folge 9
Ich verzog das Gesicht. «Ich wünschte, ich könnte dir zustimmen. Und das mag eine ganze Weile auch so gewesen sein. Aber er ist müde, Martin. Die Praxis laugt ihn aus. Das hat viel verändert. Er wünscht sich diese Ruhe und diesen Frieden, aus tiefstem Herzen. Und ich», entschlossen richtete ich mich auf, «werde sie ihm geben. Diese Linda kann einpacken.»
«Lass mich deinen Plan noch einmal zusammenfassen», hob Martin betont neutral an. «Du hast vor, deinen wilden, abenteuerlustigen inneren Anteil fortan penibel von Haus und Heim fernzuhalten, richtig? Zuhause wirst du die warmherzige Mutter, treusorgende Ehefrau und begeisterte Hausfrau sein?»
«Das mit der Hausfrau könnte schwierig werden», räumte ich ein. «Ich muss realistisch bleiben – ich werde nie eine Göttin an Herd und Ofen sein. Aber ich wollte schon immer mal neue Sofakissen nähen. Und ich bin ganz ordentlich im Garten. Mit Blumen und so», fügte ich vage hinzu.
Martins Miene sah verdächtig danach aus, als müsste er sich zügeln, um nicht in Gelächter auszubrechen. «Und während im privaten Umfeld ausschliesslich der harmonische, weibliche Anteil deiner selbst zum Zug kommt, inklusive all den neuen Teufeleien wie Rohkost und Yoga», fuhr er fort, «wirst du dem besagten wilden, abenteuerlustigen Anteil anderswo kontrolliert Auslauf verschaffen?»
Ich nickte mit Nachdruck. «Exakt. Ich halte es da ganz mit Friedrich Schiller: ‹Strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Tätigkeit.› Kalenderspruch», ergänzte ich und tippte mir schlau gegen die Nase.
Martin hob eine Augenbraue, liess sich aber nicht beirren. «Konkret willst du dieses Gleichgewicht erreichen, indem du gemeinsam mit mir diese, wie du sagtest, mysteriöse Angelegenheit untersuchen willst, die mein Freund Eric mir zugetragen hat?»
«Ganz genau», strahlte ich. «Ich bin zum Schluss gekommen, dass es sinnlos ist, mir einreden zu wollen, dass diese Seite an mir nicht existiert. Ein Teil von mir ist neugierig, wagemutig und risikofreudig, das lässt sich einfach nicht leugnen. Versuche ich, diese Seite zu unterdrücken, entstehen Spannungen, die sich dann explosiv Bahn brechen. Und das kann ich gerade in der jetzigen Situation nicht brauchen, das wäre destruktiv. Also ist es besser, diese beträchtliche Energie in kontrollierte Bahnen zu lenken. Gezielt, überlegt, gefasst. Und ohne dass es Marc und die Familie betrifft.»
«Wirst du mir jetzt gleich wieder erzählen, dass diesmal sicher nichts passieren könne? Weil dieses Mal alles anders und keineswegs gefährlich sei?», warf er mit müder Skepsis ein.
«Nein, Martin», antwortete ich ernst. «Für einmal nicht. Im Gegenteil. Ich weiss aus Erfahrung, dass einem solche Geschichten immer entgleiten können. Und das wenige, was du mir über Eric und seine Mutter und ihr komisches Gefühl berichtet hast, reicht völlig aus, um mir eine Gänsehaut zu bescheren, ein vielsagendes Prickeln in meinem Nacken. Nein, ich mache mir keine Illusionen. Ich gehe zum ersten Mal sehenden Auges in so eine Geschichte hinein, in vollem Bewusstsein der Risiken. Und vielleicht ist genau das meine Chance. Die Klarheit, die Struktur. Wir werden umsichtig sein. Professionell.»
Martins verblüffte Miene machte deutlich, dass er mit so einer Antwort nicht gerechnet hatte. «Das klingt beinahe, als sähest du uns beide als Privatdetektive, die einen neuen Fall übernehmen. Absurd.»
Ich grinste breit. «Privatdetektive – das finde ich gar nicht so übel. Psychiatrie-Detektive? Irgendwo im Übergang zwischen den düsteren Winkeln der menschlichen Psyche und dunklen Machenschaften? Warum nicht? Wir haben eine Menge Erfahrung, sowohl ärztlich als auch kriminalistisch. Und ich finde», ich wurde ernst, «wenn irgendwo im Verborgenen etwas Finsteres vor sich geht, dann lohnt es sich, dagegen anzugehen. Leute, die wegsehen, gibt es zur Genüge. Lass uns zumindest den ersten Schritt machen, ja? Dann sehen wir weiter. Es geht schliesslich um deinen Freund.»
Martin schwieg eine Weile, sichtlich bewegt, hin- und hergerissen.
Dann machte sich auf seinem Gesicht ein wackeliges Grinsen breit.
«Dr. Watson meldet sich zur Stelle», sagte er nur.
Kapitel 4
Die Wohnung im Berner Monbijou-Quartier war nicht besonders gross, aber lichtdurchflutet und freundlich. Hohe, weiss gestrichene Räume, helles, matt schimmerndes Parkett, moderne Küche und Nasszellen in neutralen Tönen, die letzte Renovation konnte noch nicht allzu lange zurückliegen. Das kompakte Wohnzimmer öffnete sich in einem schönen halbrunden Erkerfenster gegen eine kleine Parkanlage hinaus.
Das sandfarbene Sofa, auf dem Martin und ich sassen, hatte eine altmodisch hohe Lehne, der geschnitzte Couchtisch aus honigfarbenem Holz stand auf geschwungenen Beinen. Eine Ständerlampe mit hellem Textilschirm spendete gedämpfte Beleuchtung – es war später Montagnachmittag, und das Januarlicht draussen schwand rasch. An der Wand hing ein trübes, freudloses, schwerfällig gerahmtes Landschaftsgemälde in Öl, und der abgeschabte Orientteppich unter meinen Füssen hatte seine besten Tage schon lange hinter sich gelassen.
Folge 10
Anna Dubach sass auf einem gepolsterten Holzstuhl uns gegenüber, die Hände im Schoss verschränkt. Beige Hose mit Bundfalten, eine dezent gemusterte Bluse, darüber trug sie eine offene Strickjacke in Dunkelgrün. Ihr gewelltes, fast reinweisses Haar trug sie halblang, eine unaufgeregt praktische Frisur ohne Schnörkel. Sie hatte ein feingeschnittenes Gesicht, blasse, pergamentartige Haut, eine schmale Nase. Ihre Augen, ein ausgeblichenes Hellblau, musterten mich zurückhaltend, vorsichtig. Der schmale Mund trug ein vages Lächeln. Sie war mittelgross, zart gebaut, feingliedrig. Arthrose hatte ihre Finger verformt und ihren oberen Rücken gebeugt, und trotzdem hielt sie sich aufrecht. Die Fünfundsiebzigjährige strahlte eine abwartende Reserviertheit aus, aber in ihrem Blick, so fand ich, funkelte eine hintergründige, wache Intelligenz.
«Sie sind also diese Kassandra Bergen, von der Martin mir erzählt hat», sagte sie. Ihr Tonfall war neutral, abwartend, ihre Stimme weich, leise. Keine Frau, die sich in den Vordergrund drängte.
«Ganz genau», erwiderte ich, und setzte mein bestes, vertrauenswürdiges Lächeln auf.
«Sie sollen mithelfen, zu beurteilen, ob ich auf meine alten Tage langsam gaga werde?» Auch diese Worte klangen völlig neutral.
Ich überlegte kurz. Dann entschied ich mich für Aufrichtigkeit. «Frau Dubach, ich bin Psychiaterin, aber keine Spezialistin für», ich kam kurz ins Stocken, «betagte Patienten.»
«Sprechen Sie es ruhig aus, Frau Bergen: Alt. Ich bin alt.» Das feine Lächeln verstärkte sich dezent.
Ich grinste. «In Ordnung. Ich bin keine Gerontopsychiaterin, und wenn es darum ginge, zu beurteilen, ob Sie», ich stockte erneut, vermied aber, noch einmal den gleichen Fehler zu machen, «ein wenig gaga werden, bin ich nicht die erste Wahl. Das ist nicht mein primäres Anliegen. Aber ich will Ihnen nicht verschweigen, dass ich die Möglichkeit einer psychiatrischen Störung immer als Alternative im Hinterkopf behalten werde. Ich kann Ihnen allerdings versprechen, dass ich ehrlich zu Ihnen sein werde. Wenn ich zu der Überzeugung gelange, dass Sie sich Dinge einbilden, werde ich Ihnen das offen sagen, in Ordnung?»
Ihr ruhiger Blick verliess mein Gesicht keinen Moment.
«In Ordnung», sagte sie nach einer Weile. «Sie sagten, das sei aber nicht ihr Hauptanliegen. Was dann?»
«Kassandra Bergen», schaltete sich ihr Sohn ein, der mit lässig überschlagenen Beinen neben ihr auf einem zweiten gepolsterten Holzstuhl mit steifer Rückenlehne sass, «scheint laut Martin eine bemerkenswerte Gabe zu besitzen. Sie hat eine Nase für versteckte kriminelle Machenschaften. Deshalb ist sie hier.»
«In der Klinik, in der wir beide arbeiten», fügte Martin genüsslich hinzu, «wird Kassandra hinter vorgehaltener Hand die Amazone genannt, Anna».
Ich warf ihm einen warnenden Blick zu, den er geflissentlich ignorierte.
«Nicht weniger als vier haarsträubende Fälle hat sie bisher gelöst, und in einem weiteren assistiert. Morde, Brandstiftung, Drogenhandel, sie hat schon alles gesehen. Kein schlechter Leistungsausweis, finde ich. Wenn hier etwas Unsauberes vorgeht, wird sie es herausfinden. Und ich», er hob in bescheidener Geste beide Hände, «bin ihr getreuer Helfer.»
«Ich will nicht den Anschein erwecken», warf ich ein, nicht ohne Martin einen neuerlichen strafenden Blick zuzuwerfen, «als wäre ich in solchen Dingen ein Profi. Aber ich will für Sie tun, was ich kann. Frau Dubach, bitte erzählen Sie mir der Reihe nach: Was ist passiert?»
Anna Dubach presste die Lippen zusammen.
«Es klingt tatsächlich ein wenig komisch», sagte sie entschuldigend.
«Macht nichts. Erzählen Sie einfach, ungeschönt, so, wie Sie es erlebt haben.» Sie holte tief Luft. «Ich bin jetzt Mitte siebzig, und das Gedächtnis lässt schon nach, das muss ich zugeben. Ich vergesse Namen, manchmal muss ich lange nachdenken, bis mir ein Wort wieder einfällt. Und ich habe auch schon meine Lesebrille oder Schlüssel verlegt. Ich glaube, das ist in meinem Alter normal, nicht wahr? Aber ich hatte nie den Eindruck, dass ich trottelig würde. Richtig trottelig. Ich habe nie vergessen, den Herd auszuschalten oder die Wohnung abzuschliessen, ich habe keine Termine versäumt, nichts dergleichen.»
Sie blickte mich fast herausfordernd an. Ich nickte nur, und sie fuhr fort.
«Aber seit einigen Wochen passieren seltsame Dinge. Ich suche meinen Brieföffner und finde ihn in der völlig falschen Schublade. Meine Kopfschmerztabletten sind im Spiegelschrank im Badezimmer am verkehrten Ort. Und die Butter lag im Kühlschrank im untersten Fach – ich bitte Sie, Frau Bergen. Wer würde die Butter im untersten Kühlschrankfach aufbewahren?»
Ich zwang mich, unvoreingenommen zu bleiben, mich nicht von vorneherein auf den nahelegenden Verdacht festzulegen – dass Anna Dubach trotz dem Befund des Berner Fachkollegen die ersten Anzeichen einer Demenz beschrieb.
«Erzählen Sie weiter», sagte ich nur.
«Ich weiss, wie sich das anhört», fuhr Anna Dubach fort, und klang dabei defensiv und ein wenig zweifelnd zugleich. «Ich habe mir ja auch gesagt, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. Und trotzdem – seit mehr als siebzig Jahren verstaue ich die Butter im Kühlschrank im oberen Fach. Warum sollte ich es auf einmal anders machen? Solche Dinge sind immer wieder passiert, und sie haben mich zunehmend beunruhigt. Das ist aber nicht alles: Bisweilen nahm ich eine Art Präsenz wahr, eine beklemmende Ahnung. Als wäre ein Fremder in meiner Wohnung gewesen. Ich konnte nie festmachen, woran dieses ungute Gefühl lag, und ich kann es auch nicht besser erklären. Aber es ist ebenfalls mehrmals vorgekommen. Und auch das erschreckte mich.»
Folge 11
«Ich verstehe. Hat je etwas gefehlt?», wollte ich wissen. «Etwas Wertvolles vielleicht? Geld, Schmuck?»
«Nein, gar nichts. Das ist ja das Komische, das macht keinen Sinn, oder?», echauffierte sich Anna Dubach. «Und bei mir gibt es nichts zu stehlen.»
«Erzähl ihr von deinem Erlebnis im Tram», regte Eric Dubach an. «Das war Mitte Dezember», berichtete seine Mutter, sich allmählich wieder beruhigend. «Ich hatte in der Stadt einige Besorgungen gemacht, für Weihnachten, Sie wissen schon. Es wurde bereits dunkel, die Tage sind kurz im Dezember, und dann dieses trübe Wetter …»
Konzentriert kniff sie die Augen zusammen. «Ich hatte schon in der Stadt, als ich aufs Tram wartete, ein komisches Gefühl. Als ob ich beobachtet würde. Ich wusste nicht, warum, aber das Gefühl war ganz stark, und es hat mich nervös gemacht. Als das Tram kam, stieg ich ein – zum Glück war es ein Niederflurtram, diese alten Wagen mit ihrem hohen Einstieg sind in meinem Alter eine Katastrophe – und fand sogar einen Sitzplatz. Hinter mir setzte sich ein Jüngling hin, mit Kapuze – die Jungen heute tragen doch immer diese Kapuzenpullover, kennen Sie, oder? So einen hatte er an, und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Und er trug eine Sonnenbrille, und das in der Dämmerung. Das kam mir schon sehr seltsam vor.»
Sie benetzte ihre Lippen mit der Zunge. «Als ich bei der Haltestelle Monbijou aussteigen musste, ist der Jüngling hinter mir auch aufgestanden. Es ist ja ein ganzes Stück von der Haltestelle bis zu meiner Wohnung, und ich bin nicht mehr so gut zu Fuss, ich brauche viel mehr Zeit als früher, ganz sicher viel mehr Zeit als so ein junger Mann. Aber die ganze Strecke über blieb er ein paar Schritte hinter mir, trödelte herum, die Hände in den Hosentaschen, als hätte er nichts Besseres zu tun. Das wurde mir dann langsam unheimlich. Auch als ich in unseren Hauseingang einbog, blieb der Kerl dicht hinter mir, und ich befürchtete schon das Schlimmste, als ich meine Schlüssel hervorkramte, und war bereit, laut zu schreien, falls er mich angreifen würde. Aber dann kam zufällig genau in dem Augenblick der nette junge Herr Gerber vom Parterre aus dem Haus, hielt mir die schwere Eingangstüre auf und wechselte ein paar Worte mit mir, und als ich mich umschaute, war der Jüngling verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.»
«Hast du den jungen Mann später irgendwann wiedergesehen?», wollte Martin wissen.
Anna Dubach hob enerviert die Hände. «Wie sollte ich den wiedererkennen? Mit Kapuze und Brille? Der hatte sich doch extra maskiert, da soll mir niemand etwas erzählen. Aber seitdem habe ich immer wieder dieses komische Gefühl, beobachtet zu werden. Hier, im Haus, im Quartier, im Laden. Es hat mich ganz ängstlich gemacht. Da stimmt doch etwas nicht.»
Das klang tatsächlich ein wenig eigenartig, fand ich, aber vielleicht war es auch einfach nur ein harmloser Jugendlicher gewesen, der herumgebummelt und zufällig den gleichen Weg wie Anna Dubach gehabt hatte.
«Sonst noch etwas?», fragte ich.
Anna Dubach schüttelte schmallippig den Kopf.
«Ich will es dir nicht verheimlichen, ich hielt all das für Hirngespinste», warf Eric ein, schuldbewusst angesichts der vorwurfsvollen Miene seiner Mutter. «Du weisst, wie es bei Onkel Heinz war. Da hat es auch so angefangen, und jetzt ist er im Pflegeheim.»
«Ja, ich weiss», erwiderte Anna Dubach schmallippig. «Ich verstehe schon.»
«Aber dann kam der Tag, an dem auch ich beim Nachhausekommen die Ahnung einer fremden Präsenz in unserer Wohnung wahrnahm», fuhr Eric stirnrunzelnd fort. «Ich kann nichts Konkretes nennen, ich weiss nicht, wie ich darauf kam. Und doch stellte es mir die Nackenhaare auf.»
«Ein Geruch vielleicht?», warf ich ein.
Er zuckte mit den Schultern. «Zumindest bewusst hätte ich nichts wahrgenommen. Aber vielleicht, wer weiss?»
Martin schaltete sich ein. «Könnten es Pheromone sein, Kassandra? Botenstoffe, die man unbewusst wahrnimmt? Man sagt doch, dass zum Beispiel Hunde Angst riechen können, und wir sprechen von dicker Luft, schlechten Schwingungen. Was, wenn tatsächlich ein Fremder in der Wohnung war, gestresst, unter Druck, und entsprechende Stresspheromone hinterlassen hat? Die dann Anna und Eric wahrgenommen haben, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein?»
«Das wäre zumindest denkbar», gab ich zurück. «Und dann, Eric, was ist dann passiert?»
«Ich war durch diese unheimliche Wahrnehmung alarmiert und überprüfte bewusst die Sachen in meinem Zimmer. Ich bin», fügte er erklärend an mich gewandt hinzu, «nach meiner Rückkehr aus den USA nicht wie ursprünglich geplant in die Wohnung meiner langjährigen Partnerin gezogen, sondern habe mich im Gästezimmer meiner Mutter eingerichtet. Wegen ihrer», er suchte hastig nach einem passenden Ausdruck und errötete dabei charmant, «Probleme.»
«Und was hast du festgestellt, als du dein Zimmer überprüft hast?», regte ich neugierig an.
«Jemand hatte in den Unterlagen auf meinem improvisierten Arbeitstisch gestöbert», erwiderte Eric angespannt. «Es war nichts Auffälliges. Aber die Reihenfolge der Dokumente, die ich dort am gleichen Morgen abgelegt hatte, war verändert worden, da bin ich mir ganz sicher.»
«Sie waren das nicht?», fragte ich Anna Dubach sachte.
«Nein.»
Folge 12
«Könnte es nicht sein, dass Sie die Unterlagen unbeabsichtigt durcheinandergebracht hatten, beim Abstauben vielleicht? Und es dann vergessen haben?», hakte ich vorsichtig nach.
Ihre hellblauen Augen musterten mich frostig. «Ich war gar nicht zu Hause», erwiderte sie scharf. «Ich war über Nacht bei einer Freundin in Basel gewesen und kehrte an diesem Abend erst nach meinem Sohn nach Hause zurück. Ich kann es nicht gewesen sein, gaga oder nicht gaga.»
«Das stimmt», bestätigte ihr Sohn. «Ich hatte die Dokumente am gleichen Morgen in der Hand gehabt. Da waren sie noch völlig in Ordnung gewesen.»
Ich hob in einer entschuldigenden Geste die Hand, während Martin einhakte: «Habt ihr eine Putzfrau?»
«Martin», jetzt klang Anna Dubachs Stimme eisig, «ich mag alt sein, aber ich bin durchaus noch imstande, selbst meinen Haushalt zu besorgen, vielen herzlichen Dank.»
Jetzt war Martin es, der den Kopf einzog.
Ich unterdrückte ein Kichern.
«Aber das ist nicht alles», fuhr Eric fort. «Letzte Woche hatte ich starke Kopfschmerzen und ging deshalb nicht zur Arbeit. Meine Mutter war ausgegangen - ihre wöchentliche Jassrunde, die lässt sie sich nie entgehen. Nachdem ich den halben Vormittag geschlafen hatte, fühlte ich mich ein wenig besser und beschloss, eine kurze Runde an der frischen Luft zu drehen. Als ich die Wohnungstür öffnete, sah ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt, die gerade im Begriff war, die Treppe zu unserem Stockwerk hochzusteigen. Als ich mich zu ihr umwandte, hatte die Gestalt sich schon umgedreht und rannte in einem Irrsinnstempo die Treppe hinunter. Ich beugte mich noch über das Treppengeländer und rief ihr nach, aber sie reagierte nicht, sondern spurtete die letzten Meter zur Eingangstür und floh aus dem Haus. Es war mehr als eigenartig.»
«Hast du Einzelheiten erkennen können?», wollte Martin wissen. «Eine grossgewachsene, schlaksige Gestalt. Ein junger Mann, würde ich sagen, behände. Er trug einen Hoodie aus dunklem Stoff. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Und da war wieder dieses seltsame Gefühl», schloss Eric grimmig. «Es war beängstigend.»
Eine Weile sagte niemand ein Wort.
«Gab es sonst noch etwas?», fragte ich dann.
«Nein», erwiderte Anna Dubach, ihr Tonfall wieder so neutral wie ganz am Anfang. «Das war alles.»
«In Ordnung», sagte ich.
Und dann versank ich in Nachdenken. In meinem Geist sortierte ich das Gehörte, schob Bruchstücke umher, stellte Verbindungen her, entwarf Hypothesen.
Ich sah Anna an, dann Eric, dann wieder Anna, musterte beide ganz genau, als müsste ich mir jedes Detail einprägen, als könnte ich durch sie hindurchsehen.
Ich rekapitulierte alles, was mir in Worten erzählt worden war, und das, was mir Körpersprache, Mimik und Gestik berichtet hatten, wertete all die Informationen aus, die ich durch meine jahrelange Berufserfahrung instinktiv und mühelos parallel erfasste, Übertragungsphänomene, implizite Wahrnehmungen, Bauchgefühl.
«Und?», fragte Martin neben mir nach einer Weile ruhig.
Ich wandte mich zu ihm um, und unsere Blicke verschränkten sich. Für einen kurzen Augenblick liefen unsere Gedanken in perfekter Synchronizität, ohne dass Worte nötig gewesen wären.
«Das Prickeln?», sagte er in wissendem Tonfall.
Ich nickte. «Ja. Ich glaube, an dieser Geschichte ist etwas faul, Martin. Packen wir es an.»
Kapitel 5
Eine Weile sagte niemand ein Wort. Dann räusperte sich Eric.
«Und jetzt?», fragte er.
Ich blickte vom einen zum anderen.
Drei Augenpaare starrten mich fragend und auffordernd an.
Ich konnte es nicht ausstehen, wenn Leute in unklaren Situationen zwanglos davon ausgingen, dass ich als Einzige wusste, was zu tun war. Ich hatte es immer wieder erlebt, und immer war es mir auf die Nerven gegangen.
Aber das hier ist etwas anderes, Kassandra Bergen, mahnte mich eine innere Stimme streng. Du hast explizit deine Dienste angeboten. Du willst es nicht anders. Also versuch nicht, dich zu verstecken.
Nun denn.
«Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren», begann ich bedacht, «dass die Faktenlage äusserst dünn ist. Wir haben im Grunde nichts Handfestes, nichts Belastbares. Wir haben nur vage Wahrnehmungen und dunkle Ahnungen. Trotzdem», ich machte eine Handbewegung, um Anna Dubachs aufkeimenden Protest vorwegzunehmen, «nehme ich das sehr ernst. Auch mein letzter Fall begann lediglich mit einem unguten Gefühl, und am Ende ging es um zwei Morde.»
Ich konnte nicht umhin, den beeindruckten Gesichtsausdruck von Eric ein wenig zu geniessen. «Also bin ich die Letzte, die Ahnungen geringschätzen würde. Aber wir müssen einen offenen Geist bewahren, wir dürfen uns nicht verrennen. Es gilt, alle Alternativen zu bedenken.»
Dreiköpfiges zustimmendes Nicken.
«Gut», fuhr ich fort. «Die Beschreibung des fraglichen Angreifers, des schlaksigen Jünglings, ist tatsächlich nicht zu verwerten, da hat Anna Recht. Die Merkmale sind völlig beliebig. Das bringt uns also nicht weiter. Wir müssen woanders ansetzen.»
«Und wo?», wollte Martin wissen.
«Gewinnen wir zuerst einen zeitlichen Überblick. Anna, wann hat das Ganze begonnen? Möglichst genau.»
Anna fuhr sich mit der Hand über die Stirn. «Wenn ich das so genau sagen könnte - sicher vor über einem Monat.»
«Was kam zuerst, was später?»
Folge 13
«Zuerst die verschobenen Dinge in der Wohnung, die, die ich am falschen Platz wiederfand. Weil ich zu Anfang ehrlicherweise selbst davon ausging, dass ich altershalber langsam plemplem werde und nicht daran dachte, dass etwas anderes dahinterstecken könnte, ist es auch so schwierig für mich, den genauen Beginn zu benennen. Es passieren einem ja schon mal dumme Dinge, nicht wahr? Eine Lesebrille, die eine Weile nicht mehr aufzufinden ist, solche Dinge. Deshalb habe ich anfangs nicht so genau darauf geachtet. Erst durch die Häufung wurde es mir unheimlich, und dann kam das ungute Gefühl dazu, jemand Unbekanntes sei in der Wohnung gewesen. Und dann erst der Jüngling im Tram. Das war das Letzte, was ich persönlich Auffälliges erlebt habe.»
«Könnte es sein, dass alle falsch platzierten Gegenstände an einem einzigen Tag verschoben wurden, du es aber erst nach und nach gemerkt hast, Anna?», fragte Martin. «Oder müssten wir hypothetisch davon ausgehen, dass der fragliche geheimnisvolle Unbekannte mehrmals in der Wohnung war?»
«Mehrmals, ganz sicher». Anna Dubach klang völlig überzeugt. «Wir brauchen die Butter fast täglich, uns wäre aufgefallen, wenn die schon länger ganz unten im Kühlschrank gelegen hätte.»
«Und du warst das sicher nicht, Eric?», vergewisserte ich mich.
Er hob beide Hände. «Ich würde es nicht wagen. Meine Mutter hat sehr klare Vorstellungen von der Ordnung in ihrem Kühlschrank. Das hat sie mir schon in meiner Kindheit eingebläut.»
Ich wunderte mich über die disziplinierte Ordnung von Anna Dubach – bei mir zuhause musste man froh sein, wenn man im allenthalben aufgetürmten Chaos überhaupt den Kühlschrank fand.
«Und auch sonst gab es keine Besucher, die allenfalls am Kühlschrank waren?»
«Nein.»
«In Ordnung, soweit, so gut», konstatierte ich. «Wir gehen also als Arbeitshypothese davon aus, dass jemand mehrmals unbemerkt in dieser Wohnung war. Ja, es klingt unsinnig, aber gehen wir einfach einmal davon aus, das kann nicht schaden. Auch die beiden Vorfälle mit dem schlaksigen Jugendlichen, ob das nun die gleiche Person war oder nicht, fanden in der Nähe der Wohnung statt – die Wohnung scheint wichtig zu sein. Das wirft zwei Fragen auf: Warum sollte jemand so etwas tun, wozu sollte er in die Wohnung wollen? Und wie könnte er sich Zutritt verschaffen?»
«Ich habe», warf Eric ein, «insbesondere nach der Begegnung mit dem rätselhaften Fremden in unserem Treppenhaus unser Türschloss sehr genau auf allfällige Einbruchspuren überprüft. Ich habe nichts gefunden, keinen auch noch so kleinen Kratzer. Alles ganz normal.»
«Das muss nichts heissen», gab Martin zu bedenken. «Ich habe einmal einen Artikel über Lockpicking gelesen. Offenbar können Fachkundige mit geeignetem Werkzeug rasch und ohne Spuren zu hinterlassen Sicherheitsschlösser knacken. Soll sogar ein beliebtes Hobby sein.»
«Und wenn Frau Sollberger, meine Nachbarin auf dem gleichen Stockwerk, genau in dem Augenblick aus ihrer Wohnung gekommen wäre?», entgegnete Anna Dubach zweifelnd. «Die hätte sich gewundert, wenn da jemand mit Werkzeugen an unserem Schloss zugange gewesen wäre.»
«Frau Dubach?», fragte ich nachdenklich. «Haben Sie nicht vorhin beiläufig erwähnt, dass Sie einmal Ihre Schlüssel verlegt hätten?»
«Ach das». Sie winkte ab. «Das kann nichts gewesen sein. Ich habe sie später wiedergefunden.»
«Erzähl es uns trotzdem», bat Martin. «Zur Sicherheit.»
«Nun, das war irgendwann im November», erinnerte sie sich. «Ich war mit einer Bekannten in der Stadt, auf einen Kaffee. Als ich nach Hause kam, konnte ich meine Hausschlüssel nicht mehr finden. Das war eine Aufregung – ich war völlig verzweifelt, habe meine Manteltaschen umgestülpt, meine Handtasche ausgeleert, sogar die Hosensäume habe ich überprüft! Erfolglos. Schliesslich musste der nette Herr Gerber, der junge Hausmeister, mit seinem Generalschlüssel helfen und mir die Wohnung öffnen. Ich war völlig ausser mir. Komplett unnötig, wie sich dann erwies – am nächsten Morgen ist der Schlüssel wieder aufgetaucht.»
«Wieder aufgetaucht?», echote ich.
Sie nickte. «Er lag in meiner Handtasche, als wäre nichts geschehen. Da kam ich mir aber dumm vor. Ich muss ihn irgendwie übersehen haben.»
Martin und ich wechselten einen Blick.
«Gab es schon vorher seltsame Vorfälle in deiner Wohnung, oder kamen die alle später?», präzisierte Martin.
«Später, glaube ich. Doch, ich bin ziemlich sicher.»
«Gibt es Ersatzschlüssel, irgendwo hier in der Wohnung?», fragte ich weiter.
«Ja», warf Anna ein. «Drei. In der obersten Schublade der Intarsienkommode im Flur.»
Exakt dort, wo man Ersatzschlüssel vermuten würde, dachte ich.
Erneut wechselte ich einen Blick mit Martin, und der reagierte prompt.
«Lass uns nachsehen, ob die noch alle da sind, Eric», schlug er vor, und die beiden Männer erhoben sich und verliessen den Raum.
Zwei Minuten später waren sie zurück.
«Zwei», sagte Eric nur. Er fuhr sich nervös durch seinen gekrausten Haarschopf. «Weisst du, wo der dritte ist, Mutter?»
Folge 14
Anna Dubach blickte erschrocken zu ihm auf. «Nein. Die liegen doch immer dort, ich brauche die nie. Wo kann der nur hingekommen sein?»
Martin setzte sich wieder neben mich auf das Sofa. Seine Miene war ernst. «Das kann kein Zufall sein», meinte er nur.
«Ich verstehe nicht, was da passiert ist», sagte Anna verwirrt.
Ich hob die Achseln. «Es klingt weit hergeholt, aber ich stelle mir vor, dass jemand Ihnen gezielt die Hausschlüssel aus der Tasche entwendet hat, während Sie in der Stadt waren. In der gleichen Nacht muss der Dieb unbemerkt in die Wohnung eingedrungen sein und den Schlüssel zurück in Ihre Handtasche gelegt haben, um Sie in Sicherheit zu wiegen – aber nicht ohne zuvor einen Ersatzschlüssel an sich genommen zu haben. Solange Sie das Verschwinden des Ersatzschlüssels nicht bemerkten, hatte der Unbekannte damit jederzeit nach Gutdünken freien Zutritt zu Ihrer Wohnung.»
«Das klingt etwas gar fantastisch, Kassandra», gab Eric zu bedenken. «Der fiktive Dieb konnte nicht wissen, dass praktischerweise ein Ersatzschlüssel griffbereit liegen würde. Es hätten tausend Dinge schiefgehen können – beim Taschendiebstahl, oder in der besagten Nacht hätte jemand aufwachen und den Unbekannten bemerken können. Wer würde so etwas riskieren?»
«Einverstanden», gab ich zurück. «Es klingt fantastisch, sogar absurd. Aber es ist nicht unmöglich. Und es stellt unsere Hypothese, dass ein Fremder in der Wohnung war und Dinge verändert hat, auf einen konkreten, greifbaren Boden. Wenn ich Sie wäre», wandte ich mich an Anna, «würde ich sofort das Schloss auswechseln lassen. So rasch wie möglich.»
«Natürlich», meinte Anna zittrig.
«Warum sollte jemand so etwas tun?», warf Eric entnervt ein. «Warum sollte sich jemand so gezielt und unter hohem Aufwand und Risiko Zutritt zu Mutters Wohnung verschaffen? Wozu? Für einen reinen Einbruchsdiebstahl wäre das etwas gar viel Raffinesse. Und warum sollte jemand mehrfach eindringen?»
Mein Blick verlor sich in weite Fernen.
«Das liegt doch auf der Hand. Weil er hier etwas ganz Spezielles sucht», antwortete ich schliesslich. «Und bisher nicht gefunden hat.»
«Aber bei mir gibt es nichts zu stehlen!», rief Anna verzweifelt aus. «Das sage ich doch schon die ganze Zeit. Und von meinen Sachen hat nie etwas gefehlt! Dinge waren verschoben, das ja – aber nie verschwunden!»
«Ganz ruhig, Anna», beschwichtigte Martin sie. «Bitte denk noch einmal ganz genau nach – was an Wertsachen besitzt du?»
Anna zählte an einer Hand ab. «Die Goldkette meiner Mutter, mit dem Anhänger aus einem Goldvreneli. Meinen Ehering, auch aus Gold, aber den trage ich ja immer. Die alte Taschenuhr von Onkel Heinz – ich weiss nicht, ob die viel Wert hat, aber sie ist handgearbeitet. Die Brosche, die mein Otto mir zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hat. Und die dreireihige Perlenkette.»
«Alles noch da?»
«Ja, Martin», gab sie ungeduldig zurück. «Das sage ich doch die ganze Zeit. Alles noch da.»
«Bargeld?», fragte ich weiter. «Wertpapiere? Teure Bilder, Teppiche? Antiquitäten?»
Zweifelnd blickte ich mich im Wohnzimmer um. Das düstere Ölgemälde an der Wand gegenüber sah nicht aus, als wäre es ein verkanntes Meisterwerk, und den fadenscheinigen, ausgeblichenen Teppich zu meinen Füssen hätte ich an Anna Dubachs Stelle schon lange weggeworfen.
Abgesehen davon – hätte jemand nach etwas so Offensichtlichem gesucht, hätte er es schon lange gefunden und mitgenommen.
«Mein Haushaltungsgeld liegt in einem Holzkistchen in meinem Schreibtisch», sagte Anna. «Es hat nie etwas gefehlt. Und sonst besitze ich nichts, was für einen Dieb interessant sein könnte. Was ich an finanziellen Mitteln besitze, ging in den Kauf dieser Eigentumswohnung hier. Ich bin keine reiche Frau.»
«Überprüfen Sie es noch einmal, Frau Dubach», bat ich, «mir zuliebe. Ich weiss, Sie haben es schon getan, aber ich möchte absolut sicher sein. Darf ich mitkommen? Und mir selbst ein Bild machen?»
Anna Dubach seufzte abgrundtief, stand dann aber auf.
Martin und ich folgten ihr, und Eric, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, trottete beklommen hinter uns her.
Die Wohnung verfügte über vier Zimmer. Auf der einen Seite des Wohnzimmers lag ein kleines Esszimmer mit einem ovalen Holztisch mit polierter Platte und vier gepolsterten Stühlen. Eine traditionelle Anrichte komplettierte die spärliche Möblierung.
Mit Anna Dubachs Erlaubnis öffnete ich Schranktüren und Schubladen. Es hatte einige schöne Stücke aus Silber, Besteck, einige Servierplatten, aber gemäss der alten Dame war alles vollzählig. Auch vom guten Service fehlte nichts, wenig verwunderlich. Ich ging nicht davon aus, dass jemand hinter altem Porzellan her war.
Auch das Schlafzimmer war von überschaubarer Grösse. Neben einem schlichten Bett fanden sich ein Kleiderschrank, ein Bücherregal, ein altmodischer Frisiertisch und ein Sekretär.
Die hölzerne Schmuckschatulle von Anna Dubach stand offen und gut sichtbar auf dem Frisiertisch. Sie entnahm ihr ein Schmuckstück nach dem anderen und legte sie alle nebeneinander auf der Tischplatte aus, allesamt altmodische, biedere Stücke. Keines fehlte.
Eine flache Zigarrenkiste in einer Schublade des Sekretärs enthielt das Haushaltgeld, zweihundertachtzig Franken und ein paar Münzen, was exakt mit den akkuraten Aufzeichnungen im Dubachschen Haushaltsbuch übereinstimmte.
Fortsetzung folgt
Folge 15
15 Im nach Lavendel duftenden Kleiderschrank hingen penibel gebügelte Wäschestücke, sehr viel weniger, als ich besass, wie ich mir angesichts meines eigenen vollgemüllten Kleiderschranks peinlich berührt vor Augen hielt. Ein alter Fuchspelzkragen mottete müffelnd vor sich hin, am Boden des Schranks standen säuberlich aufgereiht und auf Hochglanz gewienert einige Paar unaufgeregte, bequeme Schuhe und eine zweite Handtasche, wahrscheinlich für feinere Anlässe.
Ich schloss die Schranktür wieder.
Nach einer kursorischen Untersuchung von Badezimmer und Küche, beides ohne spannende Befunde, hielt ich inne und zog eine erste, ernüchternde Bilanz.
Dies war die Wohnung einer vollkommen harmlosen alten Frau ohne bedeutsame Besitztümer. Es gab keine verborgenen Werte, keine Hinweise auf Geheimnisse. Alles war banal, vordergründig, normal.
Nichts, so schien es, konnte die fraglichen kriminellen Umtriebe eines schattenhaften Unbekannten erklären.
Ging ich in die Irre? Hatte ich hier ein Rätsel konstruiert, wo keines war?
«Dürfen wir noch dein Zimmer sehen?», fragte ich Eric.
Er nickte und ging voraus.
Auch dieser Raum hatte wenig Mysteriöses an sich. Wahrscheinlich diente er Anna Dubach normalerweise als Abstell- und Wirtschaftskammer, mit Wäscheschrank, Nähmaschine und beeindruckend professioneller Bügelstation. In einem einfachen Holzregal stapelten sich penibel gefaltete Stoffcoupons neben einem perfekt organisierten Kistchen mit Fadenspulen in allen Farben. Körbe mit Wollknäueln und Stricknadeln standen neben einer Sammlung vergilbter alter Handarbeitshefte. Ein einfaches, schmales Bett stand an der Wand, und auf dem Nähtisch hatte Eric sich neben einer uralten Bernina-Nähmaschine mit Laptop und Schreibutensilien ein improvisiertes Büro eingerichtet. Schriftstücke stapelten sich kreuz und quer.
«Sind das die Akten, in denen herumgestöbert wurde?», fragte ich und trat näher.
«Nein, die habe ich schon wieder mit an die Uni genommen. Aber die hier sind ähnlich. Meine Arbeit halt.»
«Darf ich?» Auf sein Nicken hin nahm ich die Papiere auf.
Und stutzte.
«Was um Himmels Willen ist das?», fragte ich perplex.
Handschriftliche Notizen ohne erkennbaren Sinn, ohne greifbaren Inhalt. Wirre Zahlen und Symbole, die ich nicht verstand. Griechische Buchstaben. Geheimnisvolle Grafiken.
«Formeln», sagte Eric schlicht. Er lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen. «Berechnungen», fügte er dann noch hinzu, als wäre damit alles gesagt.
Stirnrunzelnd blätterte ich durch den Papierstapel. Tatsächlich. Eine endlose Abfolge von Formeln, Seite um Seite.
Ich war am Gymnasium in Mathematik leidlich zurechtgekommen und hatte an der Maturitätsprüfung eine durchaus annehmbare Note geschrieben. Aber ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was ich hier in Händen hielt.
«Was ist das?», wiederholte ich verständnislos.
Martin, der hinter Eric im Gang stand, schaltete sich ein. «Eric ist Professor für theoretische Physik an der Uni Bern.»
Ich hob verblüfft die Augenbrauen. «Ach ja? Und», ich hüstelte, «was macht man konkret als Professor für theoretische Physik? Vorlesungen halten?»
«Das auch», meinte Eric. «Mein Job besteht aus Lehre, Administration und Forschung. Jeder Teil hat seine Bedeutung – aber mein Herzblut gilt natürlich der Forschung.»
«Welche Art von Forschung?», wollte ich wissen.
«Ich beschäftige mich mit basalster Grundlagenforschung – mit Teilchenphysik.»
«Mit Atomen und so?», fiepte ich. Ich fühlte mich zunehmend, als schlitterte ich haltlos über Glatteis.
Eric unterdrückte ein Grinsen. «Etwas kleiner als Atome», meinte er freundlich. «Subatomare Partikel, Elementarteilchen. Quarks, Leptonen, Bosonen. Ich rechne ausgehend vom Standardmodell Prozesse aus, die sich experimentell überprüfen lassen – und wenn ich Glück habe, kann nachgewiesen werden, dass meine Berechnungen korrekt waren.»
Ich schluckte.
«Ich kapiere es auch nicht», warf Martin boshaft ein. «Es liegt nicht an dir.»
Ich schüttelte den Kopf, um etwas mehr Klarheit in meine Gedanken zu bringen.
«Diese Formeln hier», ich hob die handschriftlichen Notizen in meiner Hand, «sind deine Forschung? Zu den Elementarteilchen?»
«Sie sind ein kleiner Teil davon. Wisst ihr, das läuft ungefähr so: Man beginnt mit einer formellen, mathematischen Idee, entwickelt die sprachlich weiter, formalisiert sie wieder, Formel um Formel, Prozess um Prozess. Es ist ein sich Herantasten, ein Versuch, sich über mathematische Theorien den ganz grossen Fragen zu nähern: Fragen nach der Interpretation der Quantentheorie, nach dunkler Materie und dunkler Energie, und, als Krönung, der ganz grossen Frage nach der Quantengravitation, der Vereinigung von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie und der Quantenmechanik. Der heilige Gral aller Physiker.»
Unwillkürlich liess ich mich auf den Holzstuhl an Erics improvisiertem Schreibtisch sinken. «Nicht, dass ich auch nur ein Wort begriffen hätte. Aber du versuchst, diesen heiligen Gral zu finden? Du bist auf dem Weg dorthin?»
Jetzt grinste er tatsächlich, ein sympathisches, jungenhaftes Grinsen, kein bisschen professoral. «Eher Irrweg, fürchte ich. Macht euch bitte keine Illusionen – neunundneunzig Prozent meiner Berechnungen sind für den Müll.
Fortsetzung folgt
Folge 16
Wenn ich Glück habe, ist ein einziges Prozent meiner Arbeit so weit brauchbar, dass ich es weiterentwickeln kann, weiterrechnen, weiterformulieren. Und von dieser Arbeit sind dann wieder neunundneunzig Prozent Müll. So geht das immer weiter. Man braucht eine gewaltige Frustrationstoleranz, um machen zu können, was ich mache. Und viel Geduld. Die Frage nach der Quantengravitation beschäftigt Physiker aller Nationen seit vielen Jahrzehnten. Und wir sind noch lange nicht da, wo wir hinwollten.»
Ich nickte, im krampfhaften Versuch, ein wenig Ordnung in das Gehörte zu bringen.
«Das, woran du arbeitest – welche», erneut räusperte ich mich, «praktischen Anwendungen hat das? Wozu kann man es brauchen? In einfachen Worten, bitte», warnte ich.
Erics Grinsen wurde noch breiter. «Was ich mache, ist im Grunde völlig irrelevant, es bewegt sich in abstrakten Sphären und interessiert schlussendlich niemanden.»
«Warum um Himmels Willen tust du es dir dann an?», fragte ich, entnervt um Verständnis ringend.
«Aus Neugier, Faszination. Ich will es einfach wissen, so wie die ganze Fachwelt es einfach wissen will. Es sind die ganz grossen Fragen der Menschheit, Kassandra.»
«Und es gibt keinerlei praktische Verwendungsmöglichkeiten für deine Forschungsergebnisse?», hakte Martin nach. «Kein Versprechen finanzieller Gewinne?» Offenbar hatte er verstanden, worauf meine Fragen hinausliefen.
«Nein, nicht wirklich», erwiderte Eric fröhlich. «Zumindest nicht direkt – niemand will meine Formeln stehlen und zu Geld machen, wenn ihr das meint. Andererseits haben die Ergebnisse, die die Physik der Neuzeit erzielt hat, doch den einen oder anderen technischen Fortschritt ermöglicht.»
Sorgsam zählte er jede einzelne Nennung an seinen Fingern ab. «Newtons Formeln zum Beispiel waren die Grundlage für die gesamte technische Entwicklung ab dem neunzehnten Jahrhundert, für Motoren, Züge, Bauwerke. Unsere heutigen Kommunikationsmittel, über Radio und Fernsehen bis zum Telefon, haben wir Maxwells Gleichungen über elektromagnetische Wellen zu verdanken. Einsteins Theorien führten uns ins Atomzeitalter. Dank den Erkenntnissen der Quantenmechanik verfügen wir über Computer, Mobiltelefone, Laser. Und im CERN in Genf wurden nicht nur die Grundlagen für das Internet gelegt, sondern auch die Kenntnisse erworben und Apparate entwickelt, die zahlreiche medizinische Untersuchungs- und Behandlungsmethoden erst möglich gemacht haben – MRI, PET, Strahlentherapien. Alles, worauf wir heute bauen, was unsere Normalität ausmacht – die Grundlagen dafür hat die Physik gelegt. Deshalb», er zuckte mit den Achseln, «ist unsere Arbeit womöglich doch zu irgendwas zu gebrauchen.»
Martin und ich sahen einander an, beide halb verblüfft, halb fasziniert.
Und wir lasen im Blick des jeweils anderen die gleiche Frage: Konnte das der Kern unseres Rätsels sein?
Kapitel 6
«Bitte sehr.»
Mit Mühe wuchtete Martin Rychener einen wackligen Bücherstapel auf meine Tischplatte. «Das war alles, was Paul im Haus hatte. Aber es wird dich trotzdem eine Weile beschäftigt halten.»
Ich rollte mit meinem Schreibtischstuhl herüber und reckte den Hals.
«Das sind aber viele», sagte ich, ein wenig mutlos angesichts der zahlreichen Bände.
Zögerlich nahm ich das eine Buch vom Stapel, dann weitere Exemplare. Carlo Rovelli, las ich, «Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint». Stephen Hawking, natürlich, «Die illustrierte kurze Geschichte der Zeit». «Der Quantenbeat des Lebens», geschrieben von einem Jim Al Khalili und Johnjoe McFadden. «Die Gottesformel» von Michio Kaku.
Meine Güte.
Ich blickte auf und sah in Martins schadenfreudige Miene.
«Du wolltest es nicht anders», stellte er mitleidlos fest. «Du hast mir wortreich erklärt, du wollest dich gründlich einlesen, um mitreden zu können, wollest dir Grundlagen erarbeiten, um unserem Fall mit dem erforderlichen Fachwissen sachkundig zu begegnen. Das nehme ich natürlich radikal ernst. Wie schön, dass Paul so gerne und so rasch bereit war, dich mit dem nötigen Material auszurüsten. Mehr als das – er lässt dir ausrichten, dass es ihn von Herzen freue, für einmal nicht wegen seiner Bodyguard-Kompetenzen, sondern für einen geistigen Beitrag konsultiert zu werden. Eine schöne Abwechslung, hat er etwas bissig hinzugefügt.»
Ich verzog das Gesicht. Paul Kempf, seines Zeichens Karateprofi und Kampfgefährte in zwei haarsträubenden Fällen, war in seinem früheren Leben Mathematiklehrer gewesen und hatte ein bemerkenswertes Faible für alles Naturwissenschaftliche. Er, so argwöhnte ich, hätte viel mehr von dem verstanden, was Eric uns begreiflich zu machen versucht hatte.
Bedröppelt blätterte ich in dem Buch von Carlo Rovelli.
«Das sind über dreihundert Seiten!», stiess ich jammervoll aus.
Martin nickte bedächtig. «Umso besser. Eric wird begeistert sein über deine neu erworbenen Kenntnisse. Deine professionelle Einstellung ist eindrücklich.»
«Ach, halt die Klappe», brummte ich missmutig und klatschte den Rovelli wieder auf den Bücherstapel. «Eric scheint ohnehin wenig überzeugt von unserer Hypothese, dass seine Forschungsergebnisse Ziel dieser mysteriösen Vorgänge sein könnten.»
Folge 17
Martin zog sich einen meiner Besucherstühle heran und setzte sich neben mich.
«Er ist Wissenschaftler durch und durch», sagte er. «Ein genialer Kopf, brillant in dem, was er tut. Sein IQ überflügelt den meinen um ein Vielfaches, auch wenn es weh tut, das einzugestehen. Aber was die Alltagstüchtigkeit angeht, kommt er mir ehrlich gesagt ein wenig naiv vor. Abgehoben.»
Ich nickte heftig. «Allerdings. Auf meine Frage, wer in seinem Fachgebiet welche finanziellen Interessen verfolge, glotzte er mich an wie das Mondkalb, und als ich wissen wollte, ob er scharfe Konkurrenten hätte oder Spionage denkbar wäre, wirkte er schlichtweg belustigt. Dabei scheint es mir absolut logisch und folgerichtig, dass ein Wissenschaftszweig, der in der Vergangenheit derartig weitreichende technische Entwicklungen ermöglicht hat, für die Industrie von Interesse sein muss. Denk an die ungeheuren Gewinne, die durch eine neue, bahnbrechende physikalische Erkenntnis ermöglicht würden, denk an einen weiteren Schub technischen Fortschritts! Und wo es um Theorien von globaler Bedeutung geht, wird es selbstverständlich erbitterte Grabenkämpfe um Ruhm und Ehre geben, um Reputation. Da kommt mir Erics Unverständnis absurd vor. Der Mann kritzelt einfach seine Berechnungen nieder, scheint aber zur realen Welt da draussen, zu Aspekten wie Spardruck, Habgier, Missgunst und Kriminalität keinerlei Bezug zu haben. So, wie er sich anhört, lebt er in einer Blase der puren Wissenschaft, ohne Bodenkontakt. Ein typisches Genie eben, oder? Ich weiss nicht, ob ich gerührt oder genervt sein soll.»
«Umso wichtiger, dass wir uns selbst ein Bild von den Verhältnissen machen», bekräftigte Martin. «Wie lautet diesbezüglich unsere Agenda, hast du das mittlerweile mit Eric besprechen können?»
Ich angelte mir mein Mobiltelefon heran, öffnete die Kalenderfunktion. «Ich musste es ihm am Telefon regelrecht abringen, aber nun hat er doch eingelenkt. Eric empfängt mich morgen Nachmittag an seinem Arbeitsplatz an der Uni Bern», verkündete ich.
«Während der Arbeitszeit?», fragte Martin milde, ganz gestrenger Vorgesetzter.
«Guter Mann, hast du es schon wieder vergessen? Mittwoch ist mein arbeitsfreier Tag. Ja, ich arbeite siebzig Prozent, auch als Kaderärztin. Doch, das geht durchaus, Kaderstellen lassen sich nicht nur im Vollpensum bewältigen. Und auch, wenn es anders gewesen wäre: darf ich dich an mein Überzeitkonto erinnern?», parierte ich kühl. «Ich glaube, es hat die 150-Stunden-Marke schon längst überschritten. Ist das überhaupt legal, diese Ausbeutung von arglosen Mitarbeitern?»
«Schon gut», murmelte Martin.
«Wenn ich vor Ort bin», fuhr ich fort, «schaue ich mich ein wenig um, um mir einen Eindruck zu verschaffen, ein Gefühl für die Atmosphäre, die ungeschriebenen Gesetze an der Uni, die Mitarbeiter, die Kultur. Vielleicht ergeben sich daraus einige Anhaltspunkte – auch wenn Eric das mit Verve abstreitet. Er findet die Stossrichtung meines Vorgehens unsinnig, das hat er mir wortreich zu verstehen gegeben. Aber ich war unerbittlich.»
«Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Aber in welcher Rolle willst du an der Uni aufkreuzen? Wenn jemand fragt, musst du ja einen guten Vorwand parat haben.»
«Da habe ich mir allerdings schon etwas überlegt», erwiderte ich selbstzufrieden. «Wir zwei sind Autoren.»
«Autoren?» Martin hob höflich die Augenbrauen.
«Autoren», bekräftigte ich. «Oder besser: Möchtegern-Autoren. Wir werden, wenn sich unser Verdacht erhärtet, womöglich zahlreiche Gespräche im Feld der Physik führen müssen, das erfordert eine breit verwendbare, subtile Tarnung. Ich sehe es so: Wir treten als die auf, die wir sind, Doctores Medicinae Kassandra Bergen und Martin Rychener, Fachärzte für Psychiatrie, Kaderärzte der Klinik Eschenberg, inklusive Doktortitel und Visitenkarte. Das verleiht uns in Wissenschaftskreisen Glaubwürdigkeit und Seriosität, das wird uns Türen öffnen – einem Arzt vertraut jeder.»
Martin hüstelte angelegentlich, sagte aber nichts.
«Weil es uns trotz unserer verantwortungsvollen und ehrenhaften Berufstätigkeit ein wenig langweilig geworden ist», fuhr ich ungerührt fort, «haben wir beschlossen, gemeinsam einen Krimi zu schreiben. Und der soll im Wissenschaftsmilieu spielen, es soll um böse, gewinnsüchtige Ärzte in einer Privatklinik gehen, die eine neuartige, auf Protonen-Strahlen basierende Therapiemethode ruchlos missbrauchen.»
«Das klingt absolut blödsinnig», urteilte Martin gnadenlos. «Und ich dachte, einem Arzt vertraut jeder? Und jetzt kommst du mir mit fiesen, verderbten Berufskollegen?»
«Held unseres Krimis», ich hob ein wenig die Stimme, um Martins dumme Kommentare zu übertönen, «ist ein mutiger Physiker, der hinter die finsteren Machenschaften der gierigen Ärzteschaft kommt und schliesslich unter Einsatz seines Lebens alles aufdeckt. Der Triumph der reinen Wissenschaft über den Kapitalismus.»
«Ah, ich ahne, worauf du hinauswillst», warf Martin ein.
Ich tippte mir bedeutungsvoll gegen die Nase. «Exakt. Um die Handlung möglichst realitätsnah zu gestalten, müssen wir natürlich gründlich recherchieren. Und zufällig hat Eric Dubach, dein lieber Freund, sich bereit erklärt, uns mit Hintergrundwissen zu versorgen, uns seinen Kollegen vorzustellen, dergleichen. Das gibt uns Gelegenheit, allerhand neugierige Fragen zu stellen, ohne dass irgendjemand sich etwas dabei denkt.»
Folge 18
«Meinst du, die werden darauf einsteigen?», fragte Martin zweifelnd. «Physiker zeichnen sich in der Regel durch erhebliche Intelligenz aus. Ob die auf eine so anbiedernde Masche hereinfallen werden?»
«Ich glaube schon. Jeder hilft gern einem Buchautoren, das ist doch aufregend, oder? Und ich für meinen Teil werde neben der Autoren-Tarnung auf intensive Vorbereitung», ich klopfte auf den Bücherstapel auf meinem Schreibtisch, «und natürlich auf meinen bestrickenden Charme setzen. Du», ich zuckte mit den Schultern, «musst dann halt schauen, wie du zurechtkommst.»
Martin warf den Kopf zurück und lachte lauthals. «Du geniesst das, was?», meinte er dann, sich Lachtränen aus den Augen wischend.
Ich wurde ernst. «Ja», gab ich zu. «Ich geniesse es. Die Rätsel, die Ränke, die brennende Neugier, das Aufdecken von Wahrheiten, Schicht für Schicht. Ich geniesse es. Es belebt mich, es funkelt, es prickelt. Ist das falsch, Martin? Sag es mir. Ist dieser Weg zu riskant?» Er betrachtete mich eine Weile schweigend, nachdenklich.
«Natürlich ist er riskant», erwiderte er dann. «Wann immer du in der Vergangenheit deine Nase in fremde Angelegenheiten gesteckt hast, wurde es brenzlig. Aber es ist das, was du bist. Es mag nicht vernünftig sein, doch es ist authentisch. Und damit, in letzter Konsequenz, ist es das einzig Richtige.»
Mein Plan mit der intensiven Einarbeitung in die Theorie, so musste ich mir bald eingestehen, artete regelrecht in Arbeit aus.
Ich sass gleichentags abends zu Hause in meinem Lieblingssessel, eine Tasse Bio-Grüntee und einige gesundheitlich hochwertige Apfel-Hafer-Kekse neben mir, die Lesebrille auf der Nase, und blätterte mit gerunzelter Stirn eine Buchseite um.
Raumzeit, Quanteneffekte, Doppelspaltexperimente und die Katze eines gewissen Herrn Schrödinger – mein Fortschritt gestaltete sich zäh und schweisstreibend.
Es war lange her, seit ich mich so beschränkt gefühlt hatte. Mühsam rang ich darum, Fakten und Zusammenhänge zu verstehen, und das war ich nicht mehr gewohnt. Meine Schulzeit lag viele Dekaden zurück, und damit auch die intensiven Lernphasen vor Prüfungen, vor dem Staatsexamen, später der Facharztprüfung.
Ich war es gewohnt, zu den Klugen, Erfahrenen zu gehören, als Oberärztin war ich immer diejenige, die Bescheid wusste, man fragte mich um Rat, ich traf die Entscheidungen. Jetzt hingegen fühlte ich mich wie eine Schulanfängerin, die sich mit den ersten Buchstaben des ABC abkämpfte und damit die ersten wackligen Schritte in eine völlig neue Welt der rätselhaften Symbole und unverständlichen Zeichen wagte.
Es war noch das eine, Einsteins Relativitätstheorie zu begreifen – die war zumindest schon seit gut hundert Jahren etabliert, unbestritten und einigermassen überschaubar. Sie liess sich, und das war mir eine beträchtliche Hilfe, vereinfachend von der ihr zugrundeliegenden Mathematik trennen, in einer Geschichte nacherzählen, als Idee, als Bild. Nun gut, Raum und Zeit mochten sich ein wenig anders verhalten, als man landläufig angenommen hätte – aber damit konnte ich leben.
Erheblich schwieriger wurde es allerdings, die Grundlagen der Quantenmechanik nachzuvollziehen. Dass die Natur körnig aufgebaut war, war kein Problem, das verstand ich durchaus, wenn auch mein Schulwissen auf der Ebene der Atome stehengeblieben war und die Welten der subatomaren Partikel ausgespart hatte. Aber der Grundsatz des Indeterminismus, der im Kern besagt, dass wir auf kleinster Ebene nicht in einer Welt der Dinge, sondern der Ereignisse leben, der wimmelnden Wahrscheinlichkeiten mit im Grunde unvorhersehbarem Ausgang, fühlte sich irgendwie falsch an, genauso wie das Postulat, dass Realität nicht aus Dingen, sondern einzig aus Interaktionen bestehe, aus Wechselwirkungen. Ganz zu schweigen von den seltsamen und geheimnisvollen Dingen, die Quanten der Theorie zufolge so zu tun pflegen – das machte für mich alles nur begrenzt Sinn, weil es meiner alltäglichen, spürbaren und sichtbaren Wirklichkeit widersprach.
Und definitiv auf verlorenem Posten stand ich, wenn ich versuchte, mir einen Überblick über die Inhalte der aktuellen Forschung in der theoretischen Physik zu verschaffen. Ich brachte es nicht einmal zustande, mich innerhalb der einzelnen theoretischen Stossrichtungen grob zu orientieren – String-Theorie, supersymmetrische Teilchen, Quantenfeld-Theorie, was gehört zu wem, und wer hat die Nase vorne? Unnötig zu erwähnen, dass ich nicht den Schimmer einer Ahnung hatte, worin diese Theorien bestehen. Und genau dort, so sagte ich mir mutlos, bewegte sich mutmasslich unser neuer Fall, genau das hätte ich verstehen müssen.
Seufzend liess ich mein Buch sinken.
Schade, fand ich, dass die verborgenen Machenschaften in der Dubachschen Wohnung nun aller Voraussicht nach doch Eric galten statt Anna. Es wäre so viel einfacher gewesen, zwischen Wollknäueln und Rezeptbüchern nach Spuren zu stöbern als zwischen irrwitzigen Theoriefetzen über Quantenverschränkungen und strahlende schwarze Löcher.
Warum musste ich mir dergleichen überhaupt antun?
Und doch. Auf eine unbestimmte Weise faszinierte mich das alles. Nicht nur der Fall an sich, sondern das ganze Fachgebiet der Physik. Die ganz grossen Fragen der Menschheit, die brennende Neugier, wie die Welt im kleinsten und grössten vorstellbaren Massstab aussehen mochte – und darüber hinaus. Das Nachdenken über das Undenkbare.
Folge 19
Ich war beeindruckt über die sture Präzi-sion, die die Forscher an den Tag legen, den Drang, alles bis ins Detail verstehen zu wollen, und über ihre unbegreifliche Geduld, die sie die Ahnung einer Idee über Jahrzehnte hinweg zum Inhalt ihres Lebens erheben lässt.
Was waren das für Menschen? Und was mochte sich im überlegenen Verstand solcher Menschen zusammenbrauen? Welche Abgründe? Ich brannte darauf, es zu erfahren.
Die Haustür öffnete sich, und ich hob den Kopf.
«Ka?» Marcs Stimme.
«Ich bin hier!»
Ich hörte, wie er seine Jacke auszog, sich ein wenig schüttelte angesichts der klammen Januarkälte, der er entflohen war. Dann betrat er das Wohnzimmer.
«Wo sind die Kinder?»
«Oben in ihren Zimmern. Mia habe ich genötigt, endlich einmal ihren Kleiderschrank aufzuräumen, und Jana macht Hausaufgaben. Harten Tag gehabt?»
«Ging so», erwiderte er.
Dann legte er den Kopf schräg, um den Titel meines Buches lesen zu können. Bass erstaunt hob er die Augenbrauen. «Wissenschaft?»
Ich verzog das Gesicht. «Eher Populärwissenschaft, und schon das ist schwierig genug. Ich versuche, mich in die theoretische Physik einzuarbeiten.»
Marcs Augenbrauen wanderten noch höher. «Echt? Warum das denn?»
Das ungläubige Erstaunen in seiner Stimme fand ich ein wenig beleidigend, aber ich liess es ihm durchgehen. «Ich habe kürzlich einen guten Freund von Martin kennengelernt, einen Physik-Professor. Was der über sein Fachgebiet erzählt hat, klingt interessant. Deshalb will ich mehr darüber wissen.»
«Das finde ich toll», entgegnete mein Mann anerkennend. «Es ist wichtig, wenn wir Interessen und Hobbies pflegen, die nichts mit Medizin zu tun haben. Zum Ausgleich. Wir müssen in unserem Leben eine neue, gesunde Balance finden.»
Ich nickte eifrig – ich witterte Morgenluft.
«Dieser Freund von Martin, Eric», fuhr ich beflügelt fort, «hat mich eingeladen. Er will mir einmal seinen Arbeitsplatz an der Uni zu zeigen.»
Das war allerdings stark geschönt, von Wollen konnte bei dem widerstrebenden Eric keine Rede sein. «Ich finde das faszinierend und werde zusagen – ist das in Ordnung für dich?»
Hold lächelte ich ihn an. «Selbstverständlich», bekräftigte Marc begeistert. «Ist doch grossartig, wenn du deinen Horizont erweiterst. Ich bin gespannt, was du mir darüber erzählen wirst.»
Ich strahlte.
«Ich habe übrigens etwas Ähnliches vor», fuhr Marc fort und liess sich aufs Sofa fallen. «Linda will, um sich nach der Scheidung aufzuheitern, einen Kochkurs besuchen und hat mich gefragt, ob ich mitmachen würde. Rein freundschaftlich natürlich», beeilte er sich hinzuzufügen. «Der Kurs vermittelt den Teilnehmern basale Kenntnisse in ayurvedisch-veganer Küche. Das wäre doch mal was anderes, oder? Man sagt, das sei sehr gesund – und ökologisch!»
Durch stählerne Selbstkontrolle schaffte ich es, sämtliche Regungen zu unterdrücken. Ich hielt meine Miene und meinen Blick unbewegt, ich schaffte es, den Aggressionssturm, der in mir hochschäumte wie überkochende Milch, eisern im Zaum zu halten, ebenso den Impuls, loszubrüllen und mit Kissen zu werfen, den glühenden Wunsch, Linda zum Duell zu fordern.
Nichts davon drang nach aussen durch, und meine Stimme klang völlig gleichmütig, als ich schliesslich, nach nur zwei, drei Sekunden Stille, erwiderte: «Ja, das klingt doch nach einer sehr guten Idee. Mach das unbedingt.»
Jetzt reagierte Marc noch ungläubiger als zuvor angesichts meiner wissenschaftlichen Lektüre. «Echt jetzt?»
Ich lächelte sanftmütig. «Aber natürlich. Schön, wenn auch du neben deinen anstrengenden Praxistagen ein wenig Ausgleich suchst. Ich freue mich schon darauf, wenn du uns deine neu erlernten Kochkünste vorführst.»
Hämisch stellte ich mir die ungnädige Reaktion von Jana und Mia vor, wenn Marc ihnen dereinst hoffnungsfroh eine kurkumageschwängerte Kichererbsenpampe vorsetzen würde. Sollte er ruhig seine eigenen Erfahrungen mit gesunder Küche machen.
«Ich möchte», fuhr ich liebreizend fort, nun vollends auf meinen alternativen Konfrontationskurs einschwenkend, «Linda unbedingt kennenlernen. Sie scheint dir wichtig zu sein, und deine Freunde sind auch meine Freunde. Was meinst du, wollen wir sie dieses Wochenende zu einem Aperitif einladen? Es würde mich freuen.»
Aperitif ist grossartig, sagte ich mir. Da würde ich nicht kochen müssen, entsprechend konnte nichts schiefgehen. Fehlte ja noch, dass mir im Angesicht der Superfrau das Abendessen anbrannte – nein, danke. Und wenn gerade niemand hinsah, konnte ich sogar in Lindas Drink spucken.
«Nun, sicher», meinte Marc verdattert. «Schön, wenn du deine Meinung ihr gegenüber geändert hast, das freut mich. Vielleicht können wir ja Martin und Selma dazu einladen? Ein entspanntes Treffen unter guten Freunden, sozusagen.»
«Grossartig!» Ich konnte mir gerade noch ein glockenhell perlendes Lachen verkneifen – das wäre des Guten zu viel gewesen, schliesslich kannte Marc mich. Ich musste aufpassen und wohldosiert vorgehen. Inneres Team ja, Schmierenkomödie nein.
«Ich frage Martin, ruf du doch gleich Linda an. Freitagabend? Um sieben?»
Folge 20
Erfreut eilte Marc von dannen. Ich blieb brütend in meinem Sessel sitzen. Hatte ich das Richtige getan? Oder war ich des Wahnsinns fette Beute?
Doch, entschied ich schliesslich. Es war der beste Weg. Offener Widerstand wäre kontraproduktiv gewesen und hätte Linda zu viel Bedeutung zugemessen. Und ich wollte mir diese Person einmal ansehen, von Nahem.
Man muss seinen Feind genau kennen, um ihn zu bekämpfen.
Mit finsterem Blick griff ich nach meinem Mobiltelefon, um Martin Bescheid zu geben.
Kapitel 7
Das Institut für exakte Wissenschaften, liebevoll ExWi genannt, machte sich neben seinem Nachbarn zur Linken, dem prachtvoll-pompösen Hauptgebäude der Universität Bern, sehr schlicht und ein wenig freudlos aus. Reinweiss und kubisch erhob es sich oberhalb des Bahnhofs Bern auf der Grossen Schanze.
Ich spürte nostalgische Anwandlungen, während ich über die froststarre Grünfläche vor dem Uni-Hauptgebäude auf das ExWi-Gebäude zumarschierte. Wie viele Jahre war es jetzt her, seit ich dort im ersten Jahr meines Medizinstudiums Physikvorlesungen besucht hatte? Zwanzig? Noch mehr?
Vor dem Eingang erhob sich etwas, das für meine Augen verdächtig nach einem kupferfarbenen Miniatur-U-Boot aussah, aber zweifelsohne etwas anderes darstellen sollte. Ich wollte es gar nicht wissen.
Eric war nirgends zu sehen. Ich meldete ihm telefonisch mein fristgerechtes Eintreffen und gab ihm zu bedenken, dass es ganz schön kühl sei draussen vor dem Eingang.
Das funktionierte. Wenige Minuten später erschien er mit griesgrämiger Miene im Eingang und wies mich mit einer unwirschen Geste seines Kinns an, ihm ins Innere des Gebäudes zu folgen.
Erics Erscheinungsbild war hier deutlich smarter als im privaten Kontakt. Er trug Jeans, wie immer, darüber aber ein sachkundig gebügeltes hellblaues Hemd – Annas Werk? Ich dachte da an ihre professionelle Bügelstation – und schwarze Lederschuhe, schön poliert. Sogar sein Wuschelhaar hatte er zurückgekämmt.
«Guten Tag, Herr Professor», begrüsste ich ihn sonnig.
Eric knurrte nur.
Ich folgte ihm wortlos eine breite Treppe hinauf in den ersten Stock.
«Ich brauche zuerst einen Kaffee», meinte Eric und liess sich dann trotz seines unübersehbaren Missfallens über meine Anwesenheit zu einem «Willst du auch einen?» herab.
Ich lehnte kopfschüttelnd ab, folgte ihm aber gleichwohl in den grossen, quadratischen Raum hinein. «Eure Cafeteria?», fragte ich und liess meinen Blick durch den Raum schweifen.
Ein anthrazitfarbenes Sofa, zahlreiche bequeme Stühle, ein Tisch im Zentrum, eine weitere Tischreihe unter der Fensterfront. Die Postfächer für die Mitarbeiter wiesen einen fast antiquarischen Charme auf, und das Mikrowellengerät in einer Ecke schien exakt das Modell zu sein, das ich in meiner Studenten-WG damals vor einem Vierteljahrhundert billig gebraucht hatte übernehmen können. Eine grosse Wandtafel dominierte eine ganze Wand. Sie war völlig sauber und leer.
Eric, der darauf wartete, dass die Kaffeemaschine laut dröhnend seinen Kaffee ausspie, folgte meinem Blick.
«Früher haben wir hier drin jeweils über Mittag diskutiert und gemeinsam gearbeitet», erklärte er. «Aber mittlerweile sind wir zu viele, wir haben nicht mehr alle Platz. Unser Institut hat noch Büros an der Gesellschaftsstrasse dazu gemietet, dort ist auch unsere Mensa.»
Ich nickte und wollte gerade zu einer vertiefenden Frage ansetzen, als ein junger Mann den Raum betrat. Er trug sein dünnes helles Haar im Nacken zu lang, und seine betont lässige Kleidung erinnerte mich an einen Pyjama.
Ich setzte entschlossen dazu an, meine Geschichte zum Besten zu geben, mich als recherchierende Autorin vorzustellen und meine Anwesenheit damit zu erklären.
Das war allerdings, wie ich alsbald feststellen musste, völlig unnötig – der junge Mann ging an mir vorbei, als hätte er mich nicht gesehen.
«Eric?», fragte er mit leiser, unsicherer Stimme. «Ich kann deiner Argumentation von letzter Woche nicht folgen. Ich glaube, du hast nicht Recht. Können wir das noch einmal anschauen?»
Eric wandte sich, seinen Kaffee in der Hand, freundlich seinem jungen Kollegen zu, und der Inhalt ihres Gesprächs, das mit so täuschend schlichten Worten eingeläutet worden war, verlor sich bald in eher abstrakte Bereiche.
Ich versuchte eine Weile mit gerunzelten Brauen, auch nur ansatzweise zu verstehen, worüber die beiden sich unterhielten, und wurde bei dem Versuch von beiden komplett ignoriert.
Schliesslich gab ich, gelangweilt ob all der unverständlichen Fachtermini, auf, liess die beiden stehen und verliess den Raum, um mich draussen umzusehen.
Gleich neben dem Eingang zur Cafeteria fand ich an der Wand ein vielversprechendes Plakat, das die Mitarbeiter des Instituts mit Bild vorstellte. Ich trat näher und studierte die allesamt in Englisch gehaltenen Angaben.
Ganz oben waren die Professoren aufgelistet, darunter, sehr fortschrittlich, bereits die Sekretärin und der Systemadministrator, ehe dann die Gastwissenschaftler, Postdocs und Doktoranden und schliesslich die Angestellten und emeritierten Professoren vorgestellt wurden.
Die wissenschaftlichen Mitarbeiter stammten offenkundig aus aller Herren Länder, aus Südamerika, dem hohen Norden, Asien. Die Physik schien ein betont internationales Fachgebiet zu sein. Der Anteil an Frauen unter den Wissenschaftlern war kümmerlich gering.
«Da bist du ja.» Erics Stimme zu meiner Linken.
Folge 21
«Was ist das hier?», fragte ich und deutete verständnislos auf die Fotos der Angestellten. Jeder von ihnen hatte sich vor einer Wandtafel ablichten lassen, auf der eine individuelle Formel oder Zeichnung notiert worden war.
«Ach das», meine Eric. «Wir dachten, es wäre schön, den Fotos einen persönlichen Touch zu geben. Jeder hat sich für eine Formel oder Grafik entschieden, der sein aktuelles Interessengebiet ausdrückt.»
«Interessengebiet? Persönlicher Touch?», wiederholte ich entgeistert. «Heisst das, du verstehst, was das Zeug jeweils zu bedeuten hat?»
«Natürlich. Dies hier», er deutete auf eines der Fotos ganz oben, «zum Beispiel ist eine Formel, die den goldenen Schnitt betrifft. Schönheit und Mathematik gehen oft Hand in Hand, weisst du?» Sein Tonfall liess vermuten, dass er bei einem Menschen mit auch nur limitierter Allgemeinbildung das Verständnis solcher Inhalte voraussetzte. Ich grunzte nur.
Auf mein strenges Geheiss bot Eric mir zuerst eine Führung durch sein Reich. Wie er sehr zutreffend angekündigt hatte, gab es nicht viel zu sehen. Wir besuchten im Untergeschoss den grossen Hörsaal, der mir eine erneute Welle der Nostalgie bescherte, weil er mich an meine unsicheren ersten Monate als Medizinstudentin erinnerte – alles sah noch ganz genauso aus wie damals, es roch sogar noch gleich; an der Uni Bern mahlten die Mühlen der Zeit langsam –, stiegen dann wieder ins erste Geschoss hoch und wanderten etwas ziellos durch die Gänge, von denen die Büros abgingen.
Ich hatte meine Autoren-Tarnung stets auf der Zunge, war allzeit bereit, mich zu legitimieren. Ich hätte mir den Aufwand sparen können. Niemand wollte wissen, wer ich war, niemand stellte sich vor oder sprach mich an. Ich war in Begleitung von Eric Dubach, und das schien zu genügen. Man nahm mich kaum wahr.
Wir begegneten Gruppen von Studenten, einigen Doktoranden, Postdocs. Alle nickten, grüssten kurz und zogen dann ihrer Wege, in eigene Angelegenheiten und Gedanken vertieft.
Womöglich, so überlegte ich, war meine Vorstellung eines normalen Umgangs mit Fremden verfälscht. Gerade auf der stationären Psychiatrie begegnete man Besuchern mit Zurückhaltung, ja Misstrauen. Der Datenschutz hatte Vorrang, und unsere Patienten wollten tunlichst vermeiden, zufällig erkannt zu werden. Dieser Aspekt, das leuchtete mir ein, war hier ohne Bedeutung. Und doch wunderte mich das offenkundige Desinteresse. War das hier normal? Wollte niemand ein wenig plaudern, war niemand neugierig?
Schliesslich führte Eric mich einen weiteren sehr nüchternen Gang entlang zu seinem Büro. Ich beobachtete, wie er seinen Schlüssel hervorholte, um die Tür aufzuschliessen. Das hiess, er liess die Tür auch nicht für kurze Zeit offen, offenbar wurden die Sicherheitsvorschriften ernst genommen. Gut zu wissen.
Die breite Fensterfront im Büroraum erlaubte einen prächtigen Ausblick auf einige kahle Laubbäume und weiter unten die Stadt Bern. Ansonsten glänzte auch dieses Zimmer durch nüchterne Sachlichkeit – ein weisser, L-förmiger Arbeitstisch mit PC, ein weiterer Tisch voller Akten, zwei Bücherregale, vollgestopft mit Ordnern und Papierbündeln und einschüchternden Büchern, die absurde Titel trugen wie «Color Confinement and Hadrons in Quantum Chromodynamics». Ein bequem aussehender Ledersessel am Fenster.
Auch hier dominierte eine altmodische Wandtafel die ganze Länge des Raumes. Diese hier allerdings war keineswegs sauber und leer. Sie war vollgekritzelt, von unten bis oben, verwischt. Hier war gearbeitet worden, sichtlich lebhaft, mit wilden Formeln, Pfeilen, Grafiken, Koordinatensystemen.
Ich konnte es nicht leugnen, ein wenig schüchterte mich das ein, dieses geballte, fremde, exotische Wissen, das Kryptische, Geheimnisvolle, welches Uneingeweihte wie mich so vollständig ausschloss.
«Was ist das?», fragte ich, bereits ahnend, dass die Frage mich nirgendwohin führen würde.
«Ich habe mit meinem Assistenten – du hast ihn eben in der Cafeteria bereits getroffen – die Resultate seiner Arbeit diskutiert. Es stellt sich immer die Frage, wie Resultate einzubinden, zu interpretieren sind, weisst du? Das haben wir gemeinsam erarbeitet.»
«Ah», machte ich nur und studierte weiterhin die für mich völlig sinnbefreiten Zeichen.
«Sind das Forschungsinhalte?», hakte ich dann sorgsam nach.
«Wenn du so willst?», erwiderte er. «Als Professor habe ich das Privileg, viele Forschungsarbeiten an meine Assistenten delegieren zu können. Die Diskussion der Resultate, wie hier, machen wir dann gemeinsam.»
Das nützte mir auch nicht besonders viel. Aber wirklich konkret werden, das war mir bewusst, konnte ich nicht. Dazu fehlte mir das Fachwissen.
«Ist diese Arbeit geheim?», fragte ich aufs Geratewohl.
Er musterte mich verwirrt. «Nein, wieso sollte sie es sein?»
«Was ist das Schlimmste, was mit dieser Formel hier», ich wies auf die Wandtafel, «passieren könnte?»
Eric wies grinsend auf einen Vermerk oben links der Tafel: Bitte stehen lassen.
«Die Putzfrau könnte alles wegwischen. Es wäre mehr als traurig, wenn man nach intensiver Arbeit einen wesentlichen Durchbruch erzielt und dann tags darauf feststellen muss, dass die Früchte seiner Überlegungen einem Sauberkeitsfimmel zum Opfer gefallen sind.»
Folge 22
«Du verstehst nicht, was ich meine», entgegnete ich ungeduldig. «Gibt es Konkurrenz hier am Institut? Hast du Feinde? Könnte jemand Interesse daran haben, dir zu schaden? Sich deine Resultate unter den Nagel zu reissen?»
Eric stöhnte auf. «Ich habe es dir schon gesagt – du siehst das alles völlig falsch, Kassandra. Das Institut ist kein Haifischbecken. Es herrscht viel Konformität, fast Eintracht. Wir arbeiten alle am Gleichen, in einem bereits seit Jahrzehnten etablierten Forschungsgebiet. Bisweilen sind wir uns in Detailfragen uneinig, aber das sind unerhebliche Konflikte, nichts Giftiges. Es gibt keine Konkurrenz.»
Ich zog die Augenbrauen hoch. «Gar keine Konkurrenz?»
«Nun ja», räumte Eric ein, «natürlich wäre es schön, als Erster eine gewichtige Entdeckung zu machen, das möchte jeder von uns. Wir Professoren haben unbefristete Verträge, das sind Langzeitstellen, die nimmt uns niemand weg, um die müssen wir auch nicht kämpfen. Es gibt keine Verteilkämpfe um finanzielle Zuwendungen, wir haben unseren Lohn und fertig. Da hat die Reputation, der Ehrgeiz, das Ansehen als Forscher schon Gewicht, das ist die Währung, die in unserem Beruf zählt. Aber eben, das ist nichts Giftiges. Die Stimmung ist grundsätzlich einvernehmlich und kooperativ.»
«Haben denn alle hier unbefristete Stellen?», wollte ich weiterwissen.
«Die Doktoranden und Postdocs natürlich nicht», räumte Eric ein, «die sind nur auf wenige Jahre angestellt. Stellen in unserem Gebiet sind durchaus rar, oft genug muss jemand sich quer über den Globus hinweg seine Sporen abverdienen, alle zwei Jahre wechseln, ehe er sich einen Namen machen kann und eine gute, langfristige Stelle an einer Uni findet. Wenn ein Schweizer eine solche Anstellung an einer Schweizer Uni findet, ist das ein Glücksfall, ich darf also sehr zufrieden sein. Auch die beiden Assistenzprofessoren, die aktuell bei uns sind, haben Verträge, die nur über fünf Jahre laufen. Die sind natürlich noch eher versucht, ihre eigene Position zu sichern, indem sie die Leistungen anderer kritisch hinterfragen und kritisieren. Aber das ist normaler beruflicher Ehrgeiz und hat nichts Kriminelles an sich. Wir reden immer noch über die seltsamen Vorfälle, die meine Mutter betreffen, oder?», rief er mir vorwurfsvoll in Erinnerung. «Was hat das mit der Karriere unserer jüngeren Angestellten zu tun?»
«Weiss ich nicht», gab ich zu. «Das will ich ja gerade herausfinden.»
«Ich glaube kaum, dass du hier fündig werden wirst», meinte Eric frostig.
Ich überging das und schaute mir einige Papiere an, die auf seinem Arbeitstisch lagen. «Und was ist das da?»
«Notizen für meine nächste Vorlesung.»
«Von Hand geschrieben?», fragte ich ungläubig.
«Das Problem», er hob beredt die Hände, «sind die Formeln und Grafiken. Klar kann man die auf dem PC formatieren, aber es ist immer ein wenig aufwändig. Mir geht es auf Papier immer noch besser von der Hand. Die Generation unserer Studenten indes macht natürlich alles auf dem Tablet, von Anfang an. Vielleicht bin ich ein Dinosaurier, aber mir ist es lieber so.»
Ich nickte, liess mich dann ungefragt in den bequemen Ledersessel fallen und zückte mein Notizbuch. «Wie sieht eigentlich dein Tagesablauf aus? Hältst du vor allem Vorlesungen?»
Eric liess sich in seinem Schreibtischstuhl nieder. «Die sind in der Minderzahl. Der Hauptteil meines Arbeitstages», erklärte er mit feinem Lächeln, «besteht in Diskussionen.»
«Diskussionen?»
Er nickte. «Diskussionen mit Studenten, mit Postdocs, mit anderen Professoren, sei es innerhalb des Instituts oder ausserhalb. Viele Sitzungen mit Auswärtigen machen wir remote, das heisst über Video-Chat. Das gehört zu unserem Alltag hier. Wir sprechen über Ideen, über Resultate, über Interpretationen.»
Ein Berufsalltag, der sich für mich sehr eigenwillig anhörte. Diskussionen als Kernkompetenz? Eine sehr besondere Welt, dachte ich bei mir.
«Mit was für Auswärtigen bist du denn so im Gespräch?», hakte ich interessiert nach.
«Aktuell», er lebte sichtlich auf bei dem Thema, «bin ich für drei Monate als Scientific Associate, also als Gast-Theoretiker am CERN in Genf und verbringe jeweils einige Tage pro Woche dort. Ein Privileg. Der Austausch, der dort stattfindet, hat natürlich noch einmal ein ganz anderes Niveau als die alltäglichen Kontakte – das beflügelt.»
Ich hob erneut die Augenbrauen und kritzelte eifrig. Spannend.
«Irgendwelche Probleme oder Konflikte im CERN?», wollte ich wissen.
«Nein», grummelte Eric.
«Gibt es Konkurrenz zwischen der Uni Bern und anderen Instituten? Jemand von ausserhalb, der dir könnte schaden wollen?»
Er prustete resigniert. «Die drei grossen Zentren für Teilchenphysik in der Schweiz sind wir in Bern, die Uni Zürich und die ETH. Zwischen uns herrscht, was die Stossrichtung und die Forschungsmethodik angeht, weitgehend Einigkeit. Und nein, bevor du fragst», jetzt nahm sein Tonfall etwas unverkennbar Ätzendes an, «keiner meiner Berufskollegen an anderen Unis will mir Böses, niemand will mir schaden, niemand droht mir oder intrigiert gegen mich. Natürlich nicht – das sage ich ja die ganze Zeit. Du bist auf dem Holzweg, Kassandra.»
Leicht entnervt liess ich mein Notizbuch sinken.
Folge 23
«Gemäss deinen Aussagen», fasste ich zusammen, «seid ihr Physiker euch also in allem stets einig, arbeitet kooperativ diskutierend zusammen und habt euch alle ganz fest lieb. Verzeih mir, Eric, aber das hört sich verdächtig nach den Teletubbies an. So kitschig kann es nicht sein, oder? Hast du nie mit jemandem Streit? Ist dir keiner je an den Karren gefahren, hat dich angegriffen, dich verunglimpft?»
Erics Miene verdüsterte sich. «Natürlich gibt es bisweilen Spannungen, das ist doch völlig normal und menschlich. Unterschwellige Konflikte kommen spätestens dann zum Vorschein, wenn es um die Begutachtung von Papieren und Proposals durch andere Experten geht. Dort ist man manchmal schon mit ungerechtfertigter Kritik konfrontiert.»
«So?»
«Allerdings», wiegelte er ab, «sind Referee-Reports und Gutachten natürlich immer anonymisiert, man weiss nicht, wer der Verfasser ist. Das hilft also auch nicht.»
Ich seufzte abgrundtief. «Es muss doch irgendwelche konkreten Konflikte geben, Eric, etwas Greifbares. Streng dich gefälligst mal an und denk nach, ja?»
Er warf mir einen grantigen Blick zu, liess sich dann aber herab, meiner Forderung nachzukommen. «Hmm», machte er dann zögernd. «Ja?», wollte ich begierig wissen.
«Mir kommt da eine ganz explizite Situation in den Sinn.»
«Und welche?», fragte ich fordernd und liess meinen Stift wieder über meinem Notizbuch schweben.
«In der Fachpresse hat ein ehemaliger Studienkollege von mir, ein Wissenschaftsphilosoph, einige recht angriffige und meines Erachtens unfaire Kommentare über meine Arbeit geschrieben.»
Nicht gerade dramatisch, nicht gerade, was ich mir vorgestellt hatte, aber immerhin, fand ich und machte mir eine Notiz.
«Etwas Persönliches?»
«Vielleicht», meinte Eric vage.
«Wie heisst der Mann?»
«Marius Bernhard.»
Ich schrieb mir den Namen auf. «Und wo finde ich ihn? Kann ich ihn treffen?»
«Kaum. Er arbeitet an der Uni Dublin.»
Kopfschüttelnd liess ich den Stift wieder sinken.
«Sonstige Konflikte? Ehrlich bitte!», ermahnte ich ihn.
«Nein», beharrte er stur.
«Na, dann wohlan, Eric. Es gibt ja nicht gerade Dutzende von Verdächtigen, wir müssen uns an die wenigen halten, die wir haben. Das CERN ist interessant, darauf will ich später noch zurückkommen. Aber zuerst musst du mir einen Kontakt zu diesem Marius Bernhard herstellen. Wir können es ja… wie hast du es genannt? Wir können das Gespräch remote führen – deine und Annas Probleme in allen Ehren, aber nach Dublin fliege ich deswegen nicht, so weit will ich nicht gehen. Benützen wir hier doch die Autoren-Geschichte, dann haben wir einen guten Vorwand.»
«Muss das wirklich sein?»
«Falls du», ich fasste ihn scharf ins Auge, «gerne weiterhin Hilfe bei der Aufklärung der mysteriösen Vorfälle haben möchtest, dann muss es sein.»
Eric ächzte. Dann drehte er sich auf seinem Stuhl weg von mir, seinem PC zu, öffnete das Mailprogramm und begann zu tippen.
Kapitel 8
Ich war vor dem freitagabendlichen entspannten Treffen unter Freunden mit Linda nervöser, als ich mir eingestehen wollte. Fahrig rückte ich Servietten und Gläser zurecht, arrangierte delikates Apérogebäck in gefälligen Schalen, wischte ein paar Krümel unter dem Tisch weg, um mir in meiner Rolle als Hausfrau keine Blösse zu geben, und stauchte mich dann innerlich für diese defensive und kleingeistige Haltung zusammen.
Dies war, so hielt ich mir vor Augen, kein Wettbewerb einer Schule für höhere Töchter, und ich musste niemandem etwas beweisen.
Martin kam ohne seine Frau und ein wenig zu früh, beides stillschweigend auf meinen expliziten Wunsch hin. Ich wollte ihn allein bei mir haben – es hätte ja noch gefehlt, wenn Selma diese Linda lieber mochte als mich und sich zu allem Elend noch mit ihr anfreundete.
Ich brauchte Martin, als Verbündeten, als Mediator oder als Sekundanten, je nachdem, wie die Dinge laufen würden. Ich brauchte ihn zur Beobachtung der feindlichen Truppenbewegungen und zur feinfühligen zwischenmännlichen Interpretation von Marcs Reaktionen. Und vor allem brauchte ich ihn als Freund. Ich fühlte mich mies.
Martin spendete mir eine kurze, feste Umarmung, die mir ohne Worte übermittelte, dass ich nicht allein war. Dann begrüsste er Marc mit lautem Hallo und gegenseitigem virilem Schulterklopfen, wie immer. Männer halt.
Und dann ging die Türklingel. Mit Argusaugen verfolgte ich, wie Marcs Kopf hochschoss, wie er diensteifrig und voll freudiger Anspannung zur Tür eilte.
Ich warf Martin einen verdrossenen Blick zu. Der blinzelte mir komplizenhaft zu und machte beschwichtigende Gesten mit den Händen.
Ich ahnte bereits, was mir blühte, als die melodische, honigfliessende Sopranstimme vom Eingang her an mein Ohr drang, und als Linda das Esszimmer betrat, machte ihr optischer Eindruck der akustischen Vorahnung alle Ehre.
Linda war, das wusste ich von Marc, gut fünf Jahre jünger als ich. Nicht gewusst hatte ich allerdings, dass sie noch viel jünger aussah als ihre achtunddreissig Jahre. Ihr liebliches, herzförmiges Gesicht mit den seelenvollen dunklen Augen war glatt und makellos, sie hatte eine niedliche Stupsnase, die wunderbar zu ihren halblangen weizenblonden Korkenzieherlocken passte – wetten, dass sie für diese Frisur stundenlang mit dem Lockenstab zugange gewesen war? Das knielange rubinrote Wickelkleid betonte die Rundung ihrer Kurven im gleichen Mass wie die sportliche Definition ihrer Schulter- und Armmuskeln.
Ich schluckte leer.
Folge 24
«Kassandra», strahlte Linda. «Was für eine Freude, dich kennenzulernen. Marc hat mir schon so viel von dir erzählt!» Ihre Hand war warm, glatt und schlank, wie der ganze Rest von ihr. Sie trug einen zarten Goldring an einem Finger, und ihre Nägel waren ein Musterbeispiel unaufdringlich gepflegter French Manicure.
«Bitte, nur Ka», erwiderte ich mit einer Stimme, die beinahe herzlich klang, und drückte ihr das zarte Händchen ein wenig fester, als unbedingt notwendig gewesen wäre.
Sie verzog keine Miene.
«Prosecco?», fragte Marc mit einem Lächeln, auf das jeder Breitmaulfrosch stolz gewesen wäre. «Sehr gern», erwiderte Linda. «Ich liebe Prosecco.» Sie warf Marc einen schmelzenden Rehblick zu.
Nun denn.
«Bitte», begann ich warmherzig und schob auffordernd eine Schale mit Knabbereien zu ihr hinüber, «greif doch zu.»
Jede Wette, dass die kaum etwas isst, um ihre Sanduhr-Figur nicht zu ruinieren, dachte ich feixend. Marc fand Frauen, die penibel aufs Gewicht achteten, peinlich und bemühend.
«Oh, lecker!», machte Linda, und nahm sich eine gute Handvoll buttrigen Käsegebäcks.
«Ich bin am Verhungern, nach meinem langen Arbeitstag heute. Mmh, die sind gut, die mag ich.» Sie kaute begeistert. «Die kaufe ich manchmal auch, wenn ich ausnahmsweise mal keine Zeit habe, mein Apérogebäck selbst zu backen.»
Ich machte schmale Augen, ging dann aber geschmeidig zum Gegenangriff über.
«Ich bewundere Frauen, die die Zeit finden, solche Dinge selbst zu machen. Als Oberärztin», ich hüstelte bescheiden, «habe ich leider kaum Freiräume für dergleichen, so gerne ich mir auch die Schürze umbinden und mich an den Herd stellen würde. Das Wohl der Patienten…» Ich liess den Satz bedeutungsvoll ausklingen.
Linda nickte ernsthaft.
«Dafür hast du meinen vollen Respekt», beteuerte sie. «Es muss schwierig sein, gleichzeitig Karriere zu machen und für Mann und Kinder da zu sein. Irgendetwas kommt da immer zu kurz, denke ich mir, gerade bei so einem strapaziösen Beruf. Die Arbeit geht immer vor, nicht wahr?» Sie lachte hell auf. «Ich bin sicher, deine Patienten werden es dir danken. Und deine Familie hat sich ganz zweifellos daran gewöhnt.»
Das war doch nicht zu fassen. Ich spürte, wie mir die Galle hochzuköcheln begann. Ehe ich eine scharfe Replik formulieren konnte, spürte ich Martins Hand an meinem Ellbogen, eine sanfte, aber deutliche Mahnung. «Sag mal, Linda», warf er sich in die Bresche. «Was machst du so beruflich?»
Linda richtete ihren Schokoladenblick auf ihn.
«Oh, nichts Besonderes», wiegelte sie bescheiden ab. «Ich bin Fitnessinstruktorin, gebe an einem grossen Sportzentrum in Thun Kurse in Pilates, Zumba und Yoga.»
Oh mein Gott. Mir wurde schwarz vor Augen. Auch das noch.
«Interessant», erwiderte Martin galant. «Also arbeiten wir auf gewisse Weise alle in einem ähnlichen Gebiet – wir fördern die Gesundheit der Menschen.»
Blödmann, dachte ich – was sollte das? Ich warf ihm einen raschen Kontrollblick zu, um zu prüfen, ob er allenfalls schon Lindas Sirenen-Gesang erlegen war.
Seine Miene kam mir völlig normal vor, zum Glück.
«Das sehe ich auch so», meldete Marc sich zu Wort. «Linda betont immer, dass ich als Arzt eine viel bedeutsamere Arbeit verrichte als sie. Aber dem stimme ich nicht zu. Bewegung ist so etwas Zentrales, und wer die Leute dazu bringt, sich zu bewegen, verhindert Krankheiten – eine wertvolle, gewichtige Arbeit.»
Ich konnte mich nur knapp davon abhalten, die Augen himmelwärts zu schrauben.
«Das ist einfach nicht wahr, Marc», beharrte Linda ernst. «Ein Arzt leistet Ungeheures, das ist mit keinem anderen Beruf zu vergleichen, ganz sicher nicht mit meinem. Wenn ich denke, was du alles tust. Du begleitest Patienten in Krankheit und Krise, stellst schwierige Diagnosen, nähst Wunden, tröstest die Verzweifelten, bist jederzeit zur Stelle, wenn man dich braucht. Du hältst Leid und Not aus, teilst dein Wissen, deine Zeit…»
«Du eröffnest eitrige Abszesse», fügte ich hinzu, um diese salbungsvolle Lobeshymne nicht allzu sehr ins Idealistische abgleiten zu lassen, «oder stinkende Atherome, stehst bis zu den Knöcheln im Erbrochenen, wie neulich bei dem unschönen Norovirus-Ausbruch im Altersheim, und in Ausnahmefällen stellst du im Notfalldienst bei einer bereits verwesenden Leiche offiziell den Tod fest – nicht, dass das damals noch nötig gewesen wäre, viel toter als dieser Mann damals kann man wirklich nicht sein, aber Formsache ist Formsache, nicht wahr. Es ist beeindruckend, Marc, was du alles leistest, auch ich bin tief berührt.»
Ich erwiderte Marcs grimmigen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, und nahm einen grossen Schluck Prosecco.
Der weitere Abend gestaltete sich ausserordentlich anstrengend. Linda rieb mir das Ausmass ihrer überbordenden Kreativität unter die Nase, verwies mich auf ihre Pinterest- und Instagram-Accounts, auf denen sie Motivtorten und sonstige Zuckerbackwerke, kunsthandwerklich anmutende Bastelarbeiten und kalligrafische Meisterwerke präsentierte, ich konterte mit der beiläufigen Erwähnung aller Fachreferate, die ich in letzter Zeit vor erlauchten Gremien hatte halten müssen. Sie trumpfte mit ihrer begeisterten Kinderliebe auf, ich hielt dagegen, dass ich immerhin, im Gegensatz zu ihr, reale Kinder hatte, wenn die mich zugegebenerweise auch nicht immer mit Begeisterung erfüllten – und ich sie umgekehrt auch nicht. Sie gab ans Herz gehende Kalenderspruchweisheiten zum Besten, ich parierte mit skalpellscharfem Sarkasmus. Und die ganze Zeit über lächelte und säuselte ich, was das Zeug hielt. Es war erschöpfend.
Folge 25
Ich war von Herzen dankbar, als Linda sich nach einer guten Stunde endlich zum Aufbruch entschloss. «Ich muss morgen früh raus und brauche meinen Schönheitsschlaf», wie sie zwitschernd erklärte. Während Marc sie ritterlich zu ihrem Auto begleitete, blieb ich mit Martin zurück.
«Nun ja», sagte der nur.
«Dem Himmel sei Dank, dass es vorbei ist», erwiderte ich mit zusammengebissenen Zähnen. «Wenn ich diese Scharade auch nur eine Minute länger hätte durchhalten müssen, wäre ich implodiert.»
«Eher explodiert, vermute ich», meinte Martin und nahm sich noch einen Cracker. «Das passt besser zu deinem Naturell.»
«Was für eine widerwärtige Person», zischte ich wutentbrannt. «Vordergründig zuckersüss und harmlos, aber hintergründig hat sie einen Pfeil nach dem anderen auf mich abgefeuert, und zwar gezielt.»
«Du warst auch nicht gerade kleinlich», gab Martin grinsend zu bedenken. «Dieser Abend war wahrhaftig ein Erlebnis. Sven», Martins sechzehnjähriger Sohn aus erster Ehe, «würde hier zweifellos von einem bitchfight sprechen.»
Ich warf ihm einen unterkühlten Blick zu. «Es steht ausser Frage, dass Linda hinter Marc her ist, oder?», fragte ich dann.
Martin wog nachdenklich den Kopf hin und her.
«Doch», meinte er schliesslich, «es sieht schon danach aus. Und sie ist nicht dumm. Sie wählt ihre Strategie geschickt.»
Ich verzog das Gesicht.
«Und er fällt darauf rein», erwiderte ich bitter. «Hast du gesehen, wie seine Augen leuchten, wenn er sie ansieht?»
Wieder schwieg Martin eine Weile, im Bemühen, die richtigen Worte zu finden.
«Er schien durchaus», meinte er dann vorsichtig, «angetan von ihr. Aber ich würde das nicht zu ernst nehmen», fügte er tröstend hinzu. «Es ist völlig natürlich, dass ein Mann sich geschmeichelt fühlt, wenn er mit derart geballter Bewunderung berieselt wird, besonders», er hob entschuldigend die Hände, «von so einer Frau.»
Ich schnaubte.
«Aber», Martin legte einen Arm um mich, «du bist Kassandra. Welche andere Frau kann dir das Wasser reichen? Linda mag ein zarter Frühlingshauch sein, lieblich und sanft, aber du bist eine Naturgewalt. Und Marc liebt dich. Er will dich. Er hat es immer getan und wird es immer tun. Wer könnte das besser beurteilen als ich?»
Ich gestattete mir einen winzigen Moment der Schwäche, lehnte kurz den Kopf an seine Schulter.
«Ich weiss nicht, Martin», sagte ich mit kleiner Stimme. «Das mit der Naturgewalt – das ist wohl gerade das Problem. Ich fürchte, Marcs wilde Jahre sind vorbei. Er wird bald fünfzig, und sein Alltag ist aufreibend. Er will seinen Frieden. Und Linda steht genau dafür: Für Ruhe, Frieden, Beschaulichkeit, ein überschaubares, stilles Leben. Eine liebe, schöne Frau, die für ihn kocht und backt und das Haus adrett dekoriert. Die ihn bewundert und anhimmelt. Ein ganz normales, angenehmes, erfreuliches Leben.»
«Mit einer Fitnessinstruktorin? Marc?» Martin lachte ungläubig auf.
«Warum nicht? Wetten, dass Linda Marc nie so in Schwierigkeiten bringen würde, wie ich es in der Vergangenheit getan habe? Wetten, dass ihr Leben in komplett geregelten Bahnen verläuft? Abgesehen davon ist ihr Muskeltonus zweifellos tipptopp. Meiner hingegen …» Ich seufzte.
«Sie hat immerhin eine Scheidung hinter sich», warf Martin ein.«Das hast du auch, das will nichts heissen», erwiderte ich.
Martin liess mich los.
«Kopf hoch, Kassandra», meinte er aufmunternd. «Ich bin sicher, du hast nichts zu befürchten. Sei ehrlich zu Marc. Sag ihm, dass du ihn liebst, sag ihm, wie viel dir an ihm liegt. Sei einfach du selbst. Verstell dich nicht.»
«Das klingt reif und vernünftig», entgegnete ich sachlich. «Aber es ist nicht, was ich tun werde. Wenn ich jetzt gerade ich selbst bin, ganz und gar, mit allem, was ich bin und mich ausmacht, dann spiele ich damit Linda in die grazilen Hände. Du hast Recht, sie ist nicht dumm, und Marc muss ihr eine Menge erzählt haben. Sie kennt meine Schwächen, sie weiss, mit welchen ihrer Stärken sie bei ihm trumpfen kann, sie weiss genau, wo seine klaffenden Achillesfersen liegen. Vergiss nicht – auch sie hat Marc einmal geliebt, und er sie. Marc muss sicher sein können, dass ich ihm das gebe, was er braucht. Nur dann wird er bei mir bleiben», schloss ich traurig. «Ich muss in den Ring steigen. Ich muss Linda mit ihren eigenen Waffen schlagen.»
«Mit regenbogenfarbenem Schaumgebäck?»
Ich runzelte die Stirn. «Ich bitte dich. Alles hat seine Grenzen, und der Tiger verliert seine Streifen nicht. Aber ich muss für Marc ein Ankerplatz sein, ein windstiller Hafen. Ich muss für Entspannung stehen, für Sicherheit. Das ist es, was er sich gerade am meisten ersehnt.»
«Du unterschätzt ihn», beharrte Martin. «Marc ist kein kränklicher Greis, Stress in der Praxis hin oder her, er ist ein starker und vitaler Mann in den besten Jahren. Er vermag dir standzuhalten. Und er will dich, ganz. Keine bereinigte und geschönte Version deiner selbst, keinen braven Abklatsch. Er will dich. Womöglich spielt er kurz mit dem Gedanken, dass eine andere Frau der richtige Ausweg für ihn sein könnte. Auch die Besten von uns fallen mal kurzfristig auf scheinbar einfache Lösungen rein. Aber er wird wieder davon abkommen.»
Ich hob resigniert die Schultern. «Das mag sein, aber es ist nicht sicher. Und ich bin nicht bereit, das Risiko einzugehen. Denn Linda wird um ihn herumschleichen und darauf lauern, dass er sich von mir distanziert. Sie wird jeden meiner Fehler registrieren, sie wird wittern, wenn Marc enttäuscht über mich ist, wenn er sich nervt oder zweifelt, und sie wird alles daransetzen, exakt diese Gefühle zu fördern und zu bestärken. Die Lage ist brandgefährlich. Und ich muss um ihn kämpfen, Martin. Auf meine Art.»
Folge 26
Ich wandte mich von ihm ab und begann mit entschlossener Miene, Gläser und Schalen einzusammeln.
«Dieser Abend hat mir bestätigt, dass meine Befürchtungen Linda – und Marc – betreffend zutreffend sind. Ich bleibe bei meinem Plan, Martin, ich bleibe auf Kurs. Hier die friedliche, warmherzige Ehefrau, dort die Amazone auf der Spur düsterer Rätsel. Was für Superman funktioniert, kann für mich nicht falsch sein. Jetzt erst recht. Am Montag haben wir unser Zoom-Gespräch mit diesem Wissenschaftsphilosophen – es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir da nichts herausfänden.»
Es war ein seltsames Gefühl, am folgenden Montagmorgen aus der vertrauten Umgebung von Martins Büro in der Klinik Eschenberg heraus ein Gespräch mit jemandem zu führen, der über tausend Kilometer von uns entfernt war.
Marius Bernhard, seines Zeichens Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Dublin, war seinem Dialekt nach unverkennbar Basler, aber offenkundig hatte sein beruflicher Weg ihn quer durch Europa geführt.
Offenbar war es für ihn deutlich vertrauter als für uns, sich per Zoom auszutauschen – gewandt hatte Professor Bernhard eine virtuelle Sitzung geplant und Martin Rychener einen Link mit den Zugangsdaten geschickt.
Nun sassen wir nebeneinander, Martin und ich, und blickten gespannt auf den Bildschirm, der einen gutaussehenden Mann mittleren Alters vor dem bunten Hintergrund eines grenzwertig chaotischen Arbeitsraumes zeigte. Marius Bernhard hob grüssend die Hand.
«Ah», sagte er fröhlich, «die beiden Krimiautoren aus der Psychiatrie, nicht wahr? Ich bin ja gespannt, was Sie mich fragen werden. Schiessen Sie los!»
Eric Dubach hatte offenbar ganze Arbeit geleistet und uns ungeachtet seiner Widerstände abmachungsgemäss als recherchierende Schriftsteller eingeführt.
Marius Bernhard, so hatte Eric uns erzählt, hatte ursprünglich vor gut zwanzig Jahren einmal mit ihm gemeinsam an der Uni Bern Physik studiert, sich dann aber von der theoretischen Physik losgelöst und sich stattdessen der Philosophie zugewandt.
Ich hatte Bernhards öffentlich aufgeschaltetes Curriculum Vitae überflogen und nur sehr wenig davon verstanden. Aber die seitenlangen Auflistungen seiner erschöpfenden bisherigen universitären Positionen, gutachterlichen Aktivitäten, Publikationen und Preise genügten, um mir vor Augen zu führen, dass wir es hier mit einem der Grossen in seinem Fach zu tun haben mussten.
Gemäss Erics Auskunft hatte Professor Bernhard in den letzten Monaten mehrere sehr angriffige Artikel in der Fachpresse veröffentlicht, die gezielt Erics Arbeit kritisierten. Solche Artikel, so hatte Eric erläutert, konnten das internationale Ansehen eines Forschers in Misskredit bringen und im Extremfall dazu führen, dass Gesuche des betreffenden Forschers um die Zuteilung von Forschungsgeldern zurückhaltender beurteilt oder sogar abgelehnt wurden.
«Reputation und Glaubwürdigkeit», hatte Eric betont, «ist in unserem Fachgebiet alles».
Und der sympathisch aussehende Endvierziger im hellgrauen Wollpullover, der uns nun vergnügt entgegengrinste, hatte es offenbar darauf angelegt, Erics Reputation zu schädigen. Grund genug für mich, den Mann etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
«Herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen», begann Martin mit versierter, souveräner Freundlichkeit. «Ich bin Martin Rychener, leitender Arzt in der Klinik Eschenberg in Weilen, dies hier», er wies mit einer knappen Geste in meine Richtung, «ist meine Fachkollegin, Kassandra Bergen, erfahrene Oberärztin der Klinik. Offenbar hat Eric Dubach Ihnen unser Anliegen bereits erläutert?»
«Und ob.» Marius Bernhard lehnte sich mit im Nacken verschränkten Armen in seinem Sessel zurück. «Zwei Psychiater, die einen Krimi über die Untiefen der Physik schreiben wollen und Hintergrundwissen und Material dafür brauchen. Werde ich im Krimi auch vorkommen?»
«Das kommt darauf an», erwiderte ich mit strahlendem Lächeln, «ob Sie sich entweder zum Helden oder zum Bösewicht eignen, Professor Bernhard.»
«Lassen wir das mit dem Professor – ich bin Marius. Und natürlich wäre ich lieber ein Held, aber wenn es denn ein Bösewicht sein müsste, warum nicht.»
Er schien sich zu amüsieren.
Ich hatte mir den Mann ganz anders vorgestellt. Steifer, ernster, selbstgerechter. Marius Bernhard war sympathisch, offen, herzlich.
«Hör mal, Marius», warf Martin ein. «Wir brauchen schon bei den absoluten Grundlagen Hilfestellung. Was ist der Unterschied zwischen einem theoretischen Physiker und einem Wissenschaftsphilosophen, der sich mit Physik beschäftigt?»
Martin und ich hatten unsere Rollen in diesem Gespräch im Voraus präzise verteilt. Er würde die Gesprächsführung übernehmen und zeichnete für den Inhalt verantwortlich, er protokollierte auch die Antworten unseres Gesprächspartners.
Mein Part war weicher, diffuser: Ich suchte in der Mimik, Gestik und Stimmlage nach verräterischen Zeichen der Anspannung. Ich war der menschliche Lügendetektor, eine Fähigkeit, die ich, wie Martin etwas hochgestochen behauptet hatte, im Laufe meiner langjährigen Erfahrungen mit den düsteren Seiten des Menschseins perfektioniert hätte.
Also schraubte ich all meine Sensoren auf maximale Leistung und beobachtete, wie Marius Bernhard drüben in Irland seine lässige Pose aufgab und sich gerade hinsetzte.
Er wirkte aufmerksam und engagiert, allerdings nach wie vor entspannt und durchaus wohl in seiner Haut.
Folge 27
«Theoretische Physiker», hob er an, «machen vor allem eins: Rechnen. Und zwar approximatives Rechnen, Annäherungsrechnungen, nichts Exaktes. Die Grundlage dieser Berechnungen, das Standardmodell der Teilchenphysik, steht schon seit den Sechzigerjahren – eine Grobrechnung, die das Grobe zutreffend umfasst. Nun versucht man, sich rechnerisch den experimentell gewonnenen Resultaten immer mehr anzunähern, in mühseliger Kleinstarbeit, seit über fünfzig Jahren, um, das wäre das Ziel, ein umfassendes und vollständiges Verständnis zu gewinnen. Für den einzelnen Theoretiker kann das bedeuten, dass er sich drei, vier Jahre lang im Rahmen einer Doktorarbeit einer winzigen Detailrechnung widmet.»
«Das erinnert mich ein wenig an den Unterschied zwischen Grund- und Aufbauwortschatz beim Erlernen einer Fremdsprache», meldete ich mich zu Wort. «Mit relativ überschaubarem Aufwand erarbeitet man sich ein Basis-Vokabular, mit dem grosse Teile der alltäglichen Unterhaltungen bestritten werden können – aber wenn man weitergehen will, in die Details, wird es mühselig, und der Aufwand wird im Vergleich zum Ertrag immer grösser.»
Marius nickte lebhaft.
«Das ist gar kein so schlechter Vergleich. Der mathematische Aufwand ist tatsächlich enorm. Für mich», er hob abwehrend die Hände, «wäre das nichts. Das ist intellektuell zwar sehr hochstehende Fleissarbeit, aber dann eben doch nur Fleissarbeit – mir ist das zu buchhalterisch, zu begrenzt. Ich möchte nicht mein Leben mit Rechnen in einem so eingeschränkten Feld verbringen. Da entstehen wenig gewichtige, frische Ideen.»
«Und was machst du im Gegensatz dazu?», hakte Martin nach.
«Ich will wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält», antwortete Marius ernst. «Ich sehe den ganzen Wald, nicht einen Baum oder sogar nur einen Teil davon. Im Kleinen, das gebe ich unumwunden zu, sehe ich weniger scharf als die Theoretiker, aber dafür gewinne ich den Überblick, ich habe eine ganz andere Optik, mit weitem Winkel. Ich entwickle ein Grundverständnis, eine Idee, ich erzähle quasi die Geschichte hinter den Formeln.»
«Und», fügte ich sanft hinzu, «du bewertest die Arbeit von anderen Wissenschaftlern? Du überprüfst, ob deren Theorien stimmig sind oder ob sie in die Irre gehen?»
Marius grinste breit. «Oh je, hat Eric mir meine beiden Artikel immer noch nicht verziehen? Dabei habe ich doch in einem Folgekommentar öffentlich ausgiebig den Wert seiner Arbeit betont und deutlich gemacht, dass nur seine Schlussfolgerungen, wie seine Resultate zu interpretieren sind, aus meiner Warte zu diskutieren seien… Ist er trotzdem weiterhin gekränkt deswegen? Mann, diese Theoretiker.»
«Eric hat tatsächlich», meinte Martin mit einem diskreten Hüsteln, «etwas von deinen Artikeln erwähnt.»
Marius warf den Kopf in den Nacken und begann herzlich zu lachen.
Martin und ich wechselten einen Blick.
Diese Reaktion war nicht, was wir erwartet hatten.
Es war über Video nicht ganz einfach zu beurteilen, zumal die Bild- und Tonspur nicht ganz synchron liefen und es zu irritierenden Verschiebungen kam.
Und doch – ich hatte keinen Zweifel daran, dass Marius Bernhard völlig authentisch reagierte. Um diesen Heiterkeitsausbruch zu produzieren, hätte er ein ausgesprochen begabter Schauspieler sein müssen. Ich fand keinerlei Anspannung in seinem Gebaren, nichts Künstliches, Aufgesetztes. Nur helles Vergnügen.
«Entschuldigung», meinte Marius dann und bemühte sich sichtlich um Contenance. «Es tut mir sehr leid, wenn ich Eric mit meinen Voten beleidigt habe. Wir Philosophen lieben den Diskurs, das Konfliktgespräch, wir zelebrieren es, ganz anders als die Theoretiker. Wenn die mit einer Theorie nicht einverstanden sind, dann strafen sie sie durch Nicht-Beachtung, sie ignorieren sie, frei nach dem Motto live and let live. Wenn ein Physiker einen Vortrag hält, dann rechnet man nur fünf Minuten Zeit für die Diskussion ein, der Löwenanteil geht an die Redezeit. Bei uns Philosophen ist das völlig anders – auf 45 Minuten Vortrag folgen obligat weitere 45 Minuten hitzige Diskussion. Wir sind konfrontativ, ohne es feindselig zu meinen, wir lieben Wortgefechte, erheben sie zu einer Kunstform. Was für uns Wissenschaftsphilosophen noch als milder Tonfall gilt, kann ein Theoretiker schon als Kriegserklärung auffassen. Ich fürchte», er hob entschuldigend die Achseln, «Eric hat mich falsch verstanden. Ich finde seine Ideen so interessant, dass sie diskutiert werden müssen. Er verfolgt eine spannende Spur, aber aus meiner Sicht muss er seine Interpretation überdenken, die Art, wie er seine Resultate einordnet. Die Aufmerksamkeit, die ich seiner Arbeit widme, ist im Grunde ein Kompliment. Ich wünschte mir, er würde ein wenig lockerer werden. Und ein klein bisschen weiter über den Tellerrand hinausblicken.»
Ich überprüfte alles genau, soweit es mir möglich war – den Tonfall, sein Mienenspiel, seine Körperhaltung.
Da war nichts. Keine Anspannung, kein Versuch, sich zu verstellen, etwas zu verbergen. Sein Verhalten schien mir völlig natürlich.
Folge 28
«Du meinst», präzisierte ich listig, «für unseren Krimi ist im Feld der Wissenschaftsphilosophie nichts zu holen? Keine schwelenden Konflikte, keine Vergeltungsmassnahmen, keine Ehrverletzungen?»
Er grinste breit. «Ich fürchte nein. Unser kriminalistisches Potential ist beklagenswert gering. Was wir tun, ist im Grunde nicht besonders spannend, zumindest nicht für die Allgemeinheit. Wir sitzen den ganzen lieben langen Tag hinter unseren alten Rechnern, wir lesen, denken und schreiben. Leider», er verzog in gespieltem Bedauern das Gesicht, «sehr wenig sexy. Wenn ihr riesige Maschinen, enorme Energien und gewaltige Geldsummen haben wollt, dann wendet euch an die Experimentalphysiker. Hat nicht sogar Dan Brown in einem seiner Thriller etwas über das CERN geschrieben?»
Kapitel 9
Unwillkürlich klammerte ich mich an meinem Buch fest, einem schmalen blauen Bändchen mit englischem Titel: «A day at CERN». Ich drückte mir das Buch fest an die Brust, wie einen Talisman, der mich schützen und leiten sollte.
Ich war nicht unvorbereitet, beileibe nicht. Ich hatte den kleinen Band ausgiebig studiert.
Zuvor hatte ich nur knapp gewusst, dass das Europäische Zentrum für Kernforschung überhaupt existierte, irgendwo in Genf. Diffus war mir bekannt gewesen, dass dort irgendwelche Teilchen beschleunigt wurden, mehr nicht. Es hatte mich auch nie im Geringsten interessiert.
Nun, dank der Lektüre, wusste ich deutlich mehr, wenn auch lange noch nicht alles. Und ich hatte die beeindruckenden Informationen zur Kenntnis genommen, die im Buch dargelegt wurden – den Umfang des Large Hadron Collider, des Beschleunigerrings, der nicht weniger als 27 Kilometer betrug, eine gewaltige Anlage in fast hundert Metern Tiefe. Die Tatsache, dass die Energie, die das CERN jährlich verbrauchte, um die Kollisionen möglich zu machen, dem Bedarf einer Kleinstadt entsprach. Dass ungefähr dreitausend Menschen fest angestellt am CERN arbeiteten, bei Weitem nicht nur Physiker, sondern auch ganz viele Techniker und Ingenieure für die Infrastruktur, und dass sich ausserdem zahlreiche Tausend User, also Externe von Universitäten aus hundert Nationen auf dem CERN-Gelände tummelten, eine bunte, vielsprachige Mischung. Dass die Jahreskosten des CERN eine Milliarde Schweizerfranken betrugen. Ich hatte sogar gelesen, dass das CERN allein am schweizerischen Standort in Meyrin nicht weniger als 460 Gebäude umfasste.
All dieses Wissen hatte allerdings nicht bewirkt, dass ich mich sicher und souverän fühlte. Vielmehr empfand ich angesichts der ehrfurchtgebietenden Grösse dieser Anlage eine für mich atypische Nervosität, ja Schüchternheit. Ich konnte knapp an mich halten, mich nicht an Martins Ärmel festzuklammern.
Es war Mittwoch, mein arbeitsfreier Tag. Martin hatte sich eigens freigenommen, um Eric und mich nach Genf zu begleiten. Und ich hatte mit meiner Exkursion in die Hochburg der Experimentalphysik bei Marc kräftig Ehefrauen-Punkte gescheffelt – er war über mein ehrliches Interesse an wissenschaftlichem Fortschritt zutiefst begeistert und nahm meinen Ausflug als sicheres Zeichen dafür, dass ich mich für sinnvolle Inhalte zu interessieren begann, statt, wie er erläutert hatte, auf dumme Ideen zu kommen. Ich hatte mein schlechtes Gewissen entschlossen im Keim erstickt – der Zweck heiligte die Mittel, und Linda hatte von Physik wahrscheinlich keinen blassen Schimmer. Diese Runde ging an mich.
«Habt ihr die Besucherausweise, die ich euch habe ausstellen lassen? Ohne die könnt ihr euch im CERN nicht bewegen», vergewisserte sich Eric.
Martin und ich nickten folgsam.
«Dann kommt», sagte Eric knapp, und ging uns mit langen, zielstrebigen Schritten voraus. Martin folgte ihm, und ich trabte als Schlusslicht hintendrein.
Wir waren mit dem Zug nach Genf Hauptbahnhof gereist, danach mit dem Tram Nummer 18 knappe zwanzig Minuten gefahren, bis wir die Endstation CERN erreicht hatten.
Rechts von uns ragte imposant der hölzerne Globe auf, das weitum bekannte Wahrzeichen des CERN, und wir standen auf der mit den Fahnen aller Mitgliedländer beflaggten, leuchtend blau gestrichenen Esplanade des Particules.
Jetzt führte Eric uns linkerhand in die weitläufige Halle der Besucher-Rezeption im Gebäude 33, wo unsere Ausweise geprüft wurden, ehe uns Zugang zum Allerheiligsten gewährt wurde.
«Nur für das Protokoll: Ich finde die Idee, dass hier etwas zu erfahren sei, nach wie vor hirnrissig», vermeldete Eric im Gehen, während er mit uns lange, schmucklose Korridore entlangmarschierte. Sein Tonfall war gereizt. «Ihr seht ja, wie immens gross hier alles ist. Der Gedanke, dass ein einzelner Berner Theoretiker wie ich als bedeutsam genug angesehen werden könnte, um kriminelle Machenschaften zu inspirieren, die vom CERN ausgehen, ist absurd.»
«Ja, Eric», erwiderte Martin geduldig, «das haben wir bereits besprochen, und wir haben deine Meinung zur Kenntnis genommen. Gut möglich, dass du Recht hast. Aber wir wollen uns trotzdem umschauen. Im schlimmsten Fall haben wir dann etwas gelernt, nicht wahr?» Er zwinkerte mir fröhlich zu.
«Ihr wisst natürlich in groben Zügen, was hier gemacht wird», meinte Eric. Es klang nicht nach einer Frage, eher nach einer Forderung.
Folge 29
«Allerdings», meldete ich mich nun geschäftsmässig zu Wort, mein Gehtempo beschleunigend, um mit den Männern Schritt zu halten. «Hier geht es um Hochenergie-Physik. Der Large Hadron Collider, kurz LHC», dozierte ich selbstgefällig, «ist der grösste Teilchenbeschleuniger der Welt. Das Grundprinzip ist, dass aus ganz gewöhnlichem Wasserstoff mittels eines elektrischen Felds positiv geladene Protonen gewonnen werden, deren Geschwindigkeit dann über eine Kette von unterschiedlichen Beschleunigern Schritt für Schritt erhöht wird, bis sie schliesslich im LHC ankommen und dort beinahe Lichtgeschwindigkeit erreichen – ein Prozess, der den Einsatz enormer Cryomagnete und unfassbarer Energiemengen erfordert. Die Hälfte der Protonen werden dabei im Uhrzeigersinn durch den LHC gejagt, die andere Hälfte im Gegenuhrzeigersinn. Und dann, wenn der Teilchenstrahl maximal gebündelt und beschleunigt ist, werden an vier verschiedenen Stellen des LHC-Rings die beiden Strahlenbündel zur Kollision gebracht. Die meisten Protonen rasen ungestört aneinander vorbei, aber einige kollidieren frontal – und daraus, paff», ich machte eine dramatische, expansive Handbewegung, «entstehen neue Partikel, die dann in den vier Detektoren – ATLAS, CMS, LHCb und ALICE – ausgewertet und untersucht werden. Und das nicht nur einmal, sondern permanent. Immerhin zirkulieren je 2’800 Pakete von jeweils hundert Milliarden Protonen in beiden Richtungen – und umrunden, weil sie fast mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind, den gewaltigen Beschleunigerring elftausendmal pro Sekunde. In jeder einzelnen Sekunde kommt es zu fast einer Milliarde Kollisionen, von denen nur die vielversprechendsten Tausend weiter ausgewertet und analysiert werden – eine gewaltige Arbeit. So wurde 2012 auch das Higgs Boson entdeckt, eine wissenschaftliche Sensation von globaler Bedeutung.»
Befriedigt nahm ich Martins bewundernden Seitenblick zur Kenntnis.
«Die Datenmengen, die hier entstehen, gespeichert, verarbeitet und analysiert werden müssen», fuhr ich fort, «sind so gewaltig, dass sie die Entwicklung des LHC Computing Grid erforderlich machten, eines weltweit verteilten Rechen- und Speichernetzwerks. Und», ich hob meinen Zeigefinger, «am CERN wurde Ende der Achtzigerjahre der Grundstein für die Entwicklung des World Wide Web gelegt. Ohne CERN gäbe es heute kein Internet.»
Wenn ich gehofft hatte, auch Eric mit meinem neu akkumulierten Fachwissen zu beeindrucken, hatte ich mich getäuscht.
«Immerhin», meinte er kühl, «das allergröbste Basiswissen ist vorhanden. Gut. Dann muss ich zumindest nicht wieder auf Grundschulniveau zu erklären beginnen.»
Er warf mir einen gereizten Blick zu, und ich erwog kurz, ihn gegen das Schienbein zu treten, liess es dann aber bleiben.
«Wo sind wir hier?», fragte ich stattdessen.
«Im Gebäude Nummer 4», erwiderte Eric knapp. «Theoretische Physik. Und ihr seid absolut sicher, dass ihr die ganze Zeit mit mir mitlaufen wollt?», fügte er noch gereizter hinzu. «Es gibt für euch nichts Spannendes zu sehen. Ich führe Gespräche mit Fachkollegen, nichts weiter.»
Martin setzte sein mildes, nachsichtiges Therapeutenlächeln auf, das auch ein angreifendes Rhinozeros besänftigt hätte. «Wir würden trotzdem gerne dabei sein. Wir werden nicht stören, versprochen.»
«Ich nehme euch beim Wort», erwiderte Eric mit zusammengebissenen Zähnen. «Ihr lasst mich einfach arbeiten, ja?»
Mittlerweile waren wir in einem engen Korridor angekommen. Ganz hinten links schloss Eric eine Tür auf und liess uns in sein zeitweiliges CERN-Büro ein.
Dieses glich, so fand ich, seinem Büro an der Universität Bern in beeindruckendem Masse. Auch hier dominierte eine grosse, altmodische, mit verwischten Formeln vollgekritzelte Wandtafel den Raum, daneben Papiere, ein PC, sachliche Möblierung mit unverkennbarem Industrie-Touch. Nichts Besonderes.
«Was passiert jetzt?», wollte Martin wissen.
«Ich treffe mich mit einem Kollegen aus Schweden, später dann mit einem südamerikanischen Postdoc, den ich an einer internationalen Konferenz kennengelernt habe und mit dem ich seitdem regelmässig in Verbindung stehe. In der Folge nehme ich an einem Ideenaustausch beim Mittagessen teil, drüben im Restaurant 1. Dann schaue ich mit einem französischen Forscherkollegen Resultate an, und schliesslich besuche ich als Gast ein ATLAS-Meeting im Gebäude 40. Da will ich euch allerdings nicht dabeihaben, verstanden? Ich setze euch derweil in der Cafeteria ab.»
Wir nickten kooperativ und versprachen gerade, uns blendend zu benehmen, als ein bärtiger, bärenartig gebauter und sackartig gekleideter älterer Mann an den Türrahmen klopfte.
«Are you ready, Eric?», fragte er mit unverkennbar nordischem Akzent.
Eric stellte uns dem Neuankömmling namens Lars kurz als «friends from Berne» vor, was diesem als Einleitung vollkommen zu genügen schien. Er drückte uns mit einem freundlichen «Nice to meet you» die Hände, um sich dann umgehend Eric zuzuwenden.
Die beiden nahmen aus dem Stand eine lebhafte Diskussion auf, argumentierten mit Vehemenz, notierten unverständliche Schriftzeichen auf die bereits halbvolle Wandtafel, widersprachen einander, einigten sich wieder.
Uns ignorierten sie komplett.
Lesen Sie hier weiter: «Jenseits der Gier» ab Folge 30
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