Bildung in BrasilienLernen für ein besseres Leben
Im bitterarmen Nordosten Brasiliens leiden Kinder unter den Folgen der Pandemie. Viele haben den Anschluss an die Schule verloren und sind sich selbst überlassen. Ihnen wollen die «Sternenwochen» helfen.

Das Boot legt frühmorgens ab in Salvador da Bahia. Die Fahrt führt von der modernen Millionenstadt hinaus zur Insel Maré, zurück in eine düstere Vergangenheit. Und zu den vergessenen Kindern Brasiliens.
Brasilien, sagt die Legende, kam in einem Zuckerrohrfeld zur Welt. Um die Zuckerrohrfelder zu bewirtschaften, wurden ab dem 16. Jahrhundert Sklaven aus Afrika importiert. Einigen gelang die Flucht. Sie überlebten an schwer zugänglichen Orten wie der Insel Maré in der Allerheiligenbucht. Hier sind die Nachkommen der Sklavinnen und Sklaven bis heute von den Annehmlichkeiten der modernen, globalisierten Welt ausgeschlossen.
Das zeigte sich mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. In den Quilombos, wie die Gemeinden der afrostämmigen Bevölkerung genannt werden, besitzen die allerwenigsten Familien ein Handy, geschweige denn einen Computer, um von Lehrpersonen digital erreicht zu werden. Bis heute haben in der Region über 70’000 Kinder keinen Zugang zu Bildung und somit kaum eine Chance, je aus der Armut herauszufinden.
Es herrscht Ebbe bei unserer Ankunft auf Maré. Im Schlick wälzt sich ein Schwein, und Gustavo Damasceno da França (9) hilft seinem Vater Joelson, das Boot zu reparieren. Der Motor ist kaputt. Weil sie zum Fischen nicht mehr aufs Meer rausfahren können, ist die Nahrung knapp. Zudem seien noch drei Stromrechnungen unbezahlt.
Immerhin kann Gustavo erstmals seit Ausbruch der Pandemie wieder halbtags in den Unterricht. Davor verteilte die Schule alle zwei Wochen einen Korb mit Grundnahrungsmitteln. Den erhielt nur, wer auch die Hausaufgaben für die nächsten zwei Wochen mitnahm. «Damit», sagt die Lehrerin Josilene de Jesus Trinidade, «ist es uns gelungen, den Kontakt zu den meisten Kindern aufrechtzuerhalten.»

Wegen der Pandemie blieben in ganz Brasilien über fünf Millionen Kinder zwischen 6 und 16 Jahren während Monaten ohne jeden Kontakt zur Schule. Seit Juli dieses Jahres wurde der Unterricht in den meisten Gegenden wieder aufgenommen. Unicef stattete die Schulen mit Hygiene-Kits und Plakaten zum sicheren Umgang mit dem Virus aus. «Das half sehr», sagt die Lehrerin Josilene de Jesus Trinidade, «um Eltern und Kindern die Angst vor dem Wiederbeginn zu nehmen.» Zusätzlich versorgt Unicef Schulen mit modernen Lehrmitteln, die sowohl direkt im Klassenzimmer als auch im Online-Unterricht funktionieren.
«So viel hat sich seit der Sklavenzeit nicht verändert.»
Elivandro Paraguaçú, ebenfalls Lehrer auf der Insel Maré, weiss, wie sehr die moderne und globalisierte Welt auch in der Abgeschiedenheit präsent ist – vorwiegend mit ihren Nachteilen. Auf dem Festland gegenüber der Insel wurde eine riesige Industrieanlage gebaut. «Das geschah», sagt der 41-Jährige, «ohne jede Rücksicht auf unsere Bevölkerung. Die Ölförderung hat Mangrovenwälder zerstört. Im Blut und in den Haaren unserer Kinder, die sich von Fischen ernähren und im Meer schwimmen, finden wir Spuren von Metallen wie Blei und Cadmium, Abfallprodukte der Industrie.»
Paraguaçú ist auf der Insel aufgewachsen. Mit dem Studium, das er sich schwer erkämpft hat, ist er zum Umweltschützer geworden. «So viel hat sich seit der Sklavenzeit nicht verändert», sagt er, «noch immer sind wir schwarzen Menschen benachteiligt und müssen für unsere Rechte kämpfen.»

Eine Studie von Unicef zeigt, wie sehr Corona die grossen sozialen Unterschiede im Land verstärkt hat. Im Juni dieses Jahres konnten 40 Prozent der Kinder mit wohlhabenden Eltern bereits wieder in die Schule gehen, aber nur 16 Prozent der Kinder der armen Bevölkerung. Am meisten benachteiligt sind die Bewohnerinnen und Bewohner von Quilombos und indianischen Reservaten im Nordosten Brasiliens. Hier, wo viele Schulen kaum über sanitäre Einrichtungen verfügen, lieferte Unicef Seifen, Masken sowie Unterrichtsmaterial und bereitet die Lehrpersonen auf den digitalen Fernunterricht vor.
Kaum sanitäre Anlagen, Lüften ist unmöglich
Im Quilombo Dandá, 40 Kilometer ausserhalb von Salvador, leben 130 Familien. Die Hoffnung, mit der sie ihr winziges Schulhaus gebaut haben, ist am Eingang verewigt: «Bildung ist die Möglichkeit, unser emotionales, körperliches und soziales Wohlergehen zu fördern.» Nur ist die Primarschule wegen der Pandemie seit anderthalb Jahren geschlossen.

«Die Zimmer sind klein und können nicht gelüftet werden», begründet die Lehrerin Marizete Santos de Santana. Sie hat einen von Unicef unterstützten Kurs besucht. «Das war hilfreich, auch wenn die Umsetzung schwierig war. Wir besassen nicht mal einen Drucker, um den Kindern Aufgaben für zu Hause zu übergeben», sagt sie. An digitalen Unterricht ist in Dandá nicht zu denken. «Zwar haben wir eine Whatsapp-Gruppe eingerichtet, doch nur ein Fünftel der Kinder hat ein Handy.»

Dass der Kontakt zu den übrigen Kindern nicht abbricht, liegt auch an Paula Lopes, üblicherweise für die Verpflegung der Kinder zuständig. «Als Angehörige eines Quilombo haben wir gelernt, uns gegen Benachteiligungen zu wehren. Noch vor wenigen Jahren wurden unsere Hütten niedergebrannt, weil die Leute nicht wollten, dass wir als rechtmässige Landbesitzer anerkannt werden», sagt sie. «Der Kampf hat uns zusammengeschweisst. Wir wissen, wer Hunger hat und wer Unterstützung braucht. Wir helfen, wo es geht. Wenn nur die Kinder dazu auch ihre Hausaufgaben machen.»
Der Quilombo Dandá liegt an der B93, der Hauptstrasse, über welche die Eisenteile, Chemikalien, Elektrogeräte und Schuhe aus dem grossen Industriezentrum an der Allerheiligenbucht in schweren Lastwagen in die Welt gefahren werden. Obwohl sie ihren Motorenlärm täglich hören, könnte diese Welt derjenigen von Clara (10) und Lucas (11) nicht ferner sein. Jeden Morgen um drei Uhr stehen die beiden auf, queren die B93 und suchen im Urwald dahinter nach Strickpalmen. Sie klettern den Stamm hinauf, und hoch über dem Boden schneiden sie die Piassava weg, die zähen Fasern der Blattscheiden, die nach dem Verwelken der Blätter übrig bleiben. Sklavenarbeit.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Piassava tonnenweise nach Europa verschifft. Mit den Besen, die daraus gefertigt wurden, reinigten die Strassenkehrer London oder Berlin. In Brasilien wird die Piassava noch immer zu Besen verarbeitet, für 15 Kilo erhalten die Familien von Lucas und seiner Cousine Clara vierzig Reais, ungefähr sieben Franken. Die beiden Kinder sehnen sich danach, dass die Schule wieder beginnt, obwohl sie für den Weg eine gute halbe Stunde brauchen. Aber das ist immer noch besser, als Piassava zu schneiden im Dschungel, wo Spinnen leben, Riesenschlangen oder die Shushupe – die grösste Giftschlange Amerikas.
Sicherheit und Geborgenheit bieten
«Die Schule», sagt Bruno Viecili vom Unicef-Büro in Salvador da Bahia, «ist gerade in den armen Gegenden ein Ort, der Sicherheit und Geborgenheit bietet. Deshalb ist es so wichtig, dass die ärmsten Kinder rasch zurückkehren. Und sich dort, trotz Covid-19, sicher fühlen können.» Als Teil eines umfassenden Projekts, das den vergessenen Kindern Brasiliens eine bessere Zukunft erschliessen soll, unterstützt Unicef deshalb 20 Schulen in den ärmsten Regionen des Landes. Darunter die Gemeindeschule Pericles Reni de Souza in der Gemeinde Simões Filho.
Noch immer ist auch hier kein Präsenzunterricht möglich. Doch eine Kindertanztruppe soll auftreten, weil Besuch da ist, aber dann ruft die 13-jährige Raquel an und sagt, sie könne nicht teilnehmen, etwas sei geschehen. Simões Filho in der Nähe von Salvador gehört zu den gewalttätigsten Orten in Brasilien. Die Statistik zählt jährlich 114 Morde pro 100’000 Einwohnenden, über 200-mal mehr als in der Schweiz. Die Direktorin schickt den Schulbus los, denn Raquel will ihren Auftritt nicht verpassen. So kommt das Mädchen doch.

Raquel, was ist geschehen? – Sie schweigt. – Raquel, wie ist es, in einem armen Viertel von Simões Filho aufzuwachsen? – «Es ist gut, auch wenn es schwierig ist.» – Was ist schwierig? – «Die Ernährung, die Leute haben Hunger, es gibt keinen Ort, wo man spielen kann. Am Abend kann man nicht raus. Da stehen die bewaffneten Jungs herum.» – Was arbeitet der Vater? – «Ich kenne meinen Vater nicht.» – Was war los heute Morgen? – «Da lagen drei Leichen auf der Strasse. Deshalb hatte ich Angst, in die Schule zu kommen. Aber dann kam ich doch. Ich wollte unbedingt tanzen.» – Hast du die Toten gekannt? – «Ich habe sie gekannt. Einer gehörte zur Drogenbande, die andern zwei waren unschuldig.»
Und so wird aus einer Statistik plötzlich eine Geschichte. Und sie lässt einen nicht mehr los.
Fehler gefunden?Jetzt melden.