
Mit ihrer ersten grossen Rede hat Christine Lagarde als Präsidentin der Europäischen Zentralbank am Freitag in Frankfurt deutlich gemacht, welche Rolle sie künftig zu spielen gedenkt. Die meisten Kommentatoren haben sich nach dem Vortrag unter dem Titel «Die Zukunft der Wirtschaft der Eurozone» hauptsächlich auf ihre Aussagen zur Geldpolitik gestürzt. Wenig überraschend hat Lagarde keinen Abschied von der überaus expansiven Geldversorgung ihres Vorgängers Mario Draghi angekündigt – immerhin aber eine «strategische Überprüfung» der Geldpolitik, die in nächster Zeit beginnen soll.
Das Auffälligste an Lagardes Rede war allerdings, dass die Geldpolitik als neue Domäne der neuen EZB-Chefin eine verschwindend kleine Rolle gespielt hat. Erst am Schluss kam sie kurz und wenig konkret mit dem oben Erwähnten darauf zu sprechen.
Man hätte meinen können, Lagarde spreche noch immer als Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF). Wie jener legte die neue EZB-Chefin den Finger auf die ihrer Meinung nach zu grosse Bedeutung der Exporte aus der Eurozone in andere Weltgegenden. In dieser Abhängigkeit sieht sie Risiken: «Wir sehen weltweit einen Wandel weg von der Nachfrage aus anderen Ländern hin zur inländischen Nachfrage», erklärte sie. Mit Daten unterlegt forderte sie eine Stärkung der Euro-Binnenwirtschaft, die die Abhängigkeit von der übrigen Weltwirtschaft mindern soll.
Das Rezept des IWF
Als Massnahme schlägt Lagarde vor allem höhere Staatsausgaben vor – hauptsächlich für Investitionen. «Die staatlichen Investitionen sind heute in der Eurozone deutlich geringer als vor der Krise», hielt die EZB-Chefin dazu fest und meinte weiter: «Investitionen sind ein besonders wichtiger Teil der Antwort auf die heutigen Herausforderungen.» Einerseits würden sie aktuell die Nachfrage stützen und andererseits die Eurowirtschaft der Zukunft stärken, sie digitaler und grüner werden lassen.
Obwohl Lagarde das Land nicht explizit nennt, zielen ihre Ausführungen vor allem auf Deutschland ab. Kein anderes Land der Eurozone ist so sehr von Exporten abhängig. Nicht zuletzt fordert deshalb der IWF von Deutschland schon seit längerem höhere Staatsausgaben – vor allem für Infrastrukturinvestitionen.
Lagarde liegt mit ihrer Analyse nicht falsch. Als Chefin des IWF war sie genau die richtige Person, um diese vorzubringen. Nicht aber als Chefin der EZB. Wie in der Schweiz die Nationalbank, ist die Europäische Zentralbank unabhängig von der Politik und legt darauf auch grossen Wert. Einmischungen in die Geldpolitik durch Politiker gelten deshalb als anrüchig.
Das falsche Jobverständnis
Indem nun Lagarde umgekehrt den Politikern den Tarif erklärt, schwächt sie die Unabhängigkeit der Notenbank. So geht noch mehr unter, dass die EZB – unter der Leitung von nicht gewählten Technokraten – eigentlich nur ein sehr eingeschränktes Mandat haben sollte.
Die Analyse von Lagarde lehnt sich zudem auffällig an jene des französischen Präsidenten Emmanuel Macron an, der ihre Wahl vor allem vorangetrieben hat. Das gilt nicht nur für die von Lagarde geforderten Investitionen in die europäische Wirtschaft, sondern auch für ihren Hinweis darauf, dass zu wenig gemeinsam getragene Risiken der Währungsunion genauso schaden würden wie zu viele. Auch das ist eine verdeckte Kritik an Deutschland, denn als wirtschaftlich stärkstes Euroland würde wohl Deutschland am meisten bezahlen müssen, wenn bei einer gemeinsamen Bankeinlagenversicherung schwache Institute untergehen würden. Deshalb wehrt sich das Land dagegen.
Dass Lagarde vor allem Politikerin ist, wurde vor ihrem Amtsantritt von vielen als Vorteil für ihren neuen Job gesehen. Mit ihrer Rede machte sie jetzt deutlich, dass darin für die Unabhängigkeit und die Legitimität der Notenbank auch eine Gefahr besteht.
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Lagarde hat ihre Rolle noch nicht gefunden
In ihrer ersten grossen Rede zeigte sich die neue EZB-Chefin in erster Linie als Politikerin. Damit droht sie die Unabhängigkeit der Notenbank zu schwächen.