Schönheit kennt viele Gesichter
Hier wird auf schönes Ebenmass verzichtet: Im Tanzstück «On Beauty» suchen Menschen mit und ohne Behinderung nach visueller Vielfalt und ausdrucksstarken Abweichungen. Die Koproduktion des Vereins Beweggrund und der Compagnie Drift ist ab morgen in der Berner Dampfzentrale zu sehen.

Jemand bläst in eine goldene Trompete. Auftakt zur Probe? Nicht ganz. Bevor es losgeht, muss noch allerlei ausdiskutiert werden. Und zwar auf Englisch, Französisch und Schweizerdeutsch. Die Tänzer Viacheslav Zouvkov und Budlana Baldanova sowie die Rollstuhlfahrerin Mirjam Gasser und der Gehbehinderte Raphaël de Riedmatten wirken fast symbiotisch, wie sie sich in engem Austausch gegenseitig beraten.
Die Compagnie Drift aus Zürich fand mit der Berner Gruppe Beweggrund einen idealen Partner, um ihrer Sehnsucht nach Vielfalt und Andersartigkeit gerecht zu werden. Seit 1987 entwickeln Béatrice Jaccard und Peter Schelling Stücke, die sich durch eine poetische Formensprache und viel Experimentierfreude auszeichnen. Der Verein Beweggrund setzt sich seit 1998 dafür ein, den integrativen Tanz zu fördern. «In unseren Produktionen stehen behinderte und nichtbehinderte Menschen gleichberechtigt auf der Bühne», erklärt Susanne Schneider. Ihre Erfahrung mit dieser Form von Bühnenarbeit bringt Schneider nun bei der Koproduktion «On Beauty» mit ein.
Vom Rollstuhl aufs Band
Noch brütet die Regie über am Boden ausgelegten Zetteln. Irgendetwas scheint in der Choreografie noch nicht ganz klar zu sein. «Drift» bedeutet auf Deutsch so viel wie «abweichen» oder auch «sich treiben lassen». Nimmt die Gruppe das Credo vielleicht allzu wörtlich? Gerade als man sich das zu fragen beginnt, geht die Probe los.
Ein Mann spricht mit zugehaltener Nase eine Art Einstiegsdialog. Aus dem Dunkeln heraus kommt Mirjam Gasser auf dem Rollstuhl angefahren und umkreist mit prüfendem Blick die in der Mitte in einem Knäuel liegenden Tänzer. Dann ein Moment des Schocks: Die junge Frau lässt sich kopfüber aus dem Rollstuhl fallen. Fast schon möchte man eingreifen. Doch die Gruppe fängt die Gestürzte auf. Diese wirkt plötzlich gar nicht mehr zerbrechlich, sondern königlich. Die Tänzer bilden mit ihren Körpern eine Art Förderband, auf dem sie Mirjam Gasser transportieren, während diese mit hinter dem Kopf verschränkten Armen den Ausblick geniesst.
Mit Klumpfuss zur Macht
Lose haben sich die Choreografen an Shakespear'schen Figuren inspiriert. Bei Shakespeare gibt es beispielsweise den Herrscher Richard III. Von Natur aus hässlich und missgebildet, verfolgt er als einziges Ziel die Erlangung der Macht. «Es gibt diese Klischees, Behinderte müssten zwangsläufig lieb sein», erklärt Susanne Schneider. Das sei natürlich Blödsinn. «Bei Shakespeare findet man einen ziemlich selbstverständlichen Umgang mit Behinderungen», glaubt auch Peter Schelling. Die mit Klumpfüssen oder Buckel versehenen Herrscher seien zwar oft böse, aber auch mächtige Identifikationsfiguren. Die Kostüme verweisen mit kleinen Details wie Halskrausen oder einzelnem Tand auf diesen Bezug. «Doch ganz so historisch, wie sich die Performer fürs Pressefoto gekleidet haben, wird es am Ende nicht ausschauen», verrät Schelling. In solchen Roben liesse es sich auch nicht auf dem Boden herumrobben, wie es die Tänzer zu archaisch-sphärischer Musik tun.
Die Gesunden ziehen die Beine hinter sich her, als könnten sie diese nicht bewegen, und gebärden sich dabei wie Kriechtiere. Bei diesem Stück wird auf schönes Ebenmass ganz bewusst verzichtet. Gesucht wird nach neuen Möglichkeiten der Bewegung. Auch nichtbehinderte Tänzer stossen an Grenzen, weiss Mirjam Gasser, die in «On Beauty» ihr Debüt gibt.
«Das ist noch nicht in Stein gemeisselt», fasst Jaccard die Probe zusammen. Abdriften jederzeit möglich.
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