So könnte es damals gewesen sein
In ihrem Roman «Marthas Gäste» erzählt Stef Stauffer aus Münchenbuchsee von ihrer weitläufigen Verwandtschaft. Gestützt auf Dokumente, Erinnerungen und ihre Einfühlungsgabe erschafft sie ein stimmigen Zeitbild.

«Unser Haus war immer voll. Da kamen die Verwandten und Bekannten, die Freundinnen von mir. Und essen wollten sie auch. So hat das Marthi für alle gekocht. Hat daneben auch den Garten gemacht und die Tiere und eben dafür gesorgt, dass niemand Hunger haben musste. Hat einfach immer alles gemacht.»
Die gegen Achtzigjährige im Altersheim, die im Roman «Marthas Gäste» über sich redet, vergisst zwar zunehmend alles, an früher erinnert sie sich aber genau: Nicht nur an ihr eigenes Leben und das ihrer Eltern, auch an vieles, was den zehn Geschwistern ihres Ehemannes und deren Familien geschah. Denn im kleinen Haus in Münchenbuchsee, wo sie mit ihrem Mann, dessen Bruder, den drei Töchtern samt ihrem Vater und der Schwiegermutter gelebt hat, waren sie alle häufig zu Gast.
Aus Dokumenten
Martha war die Grossmutter der Autorin. Doch woher kommen all die Geschichten von Liebe und Heirat, Geburt, Krankheit und Tod, Berufswahl, Hausbau, Geldsorgen, Töff- und Autofahrten, Erfolg oder Enttäuschung und vor allem Arbeit, Arbeit, Arbeit? «Ich habe sie erfunden», sagt Stef Stauffer, 1965 geboren und in Münchenbuchsee aufgewachsen, wie schon ihre Eltern und ihre Grosseltern. Aber nicht einfach geflunkert: Als ihr Buch «Bis das Ross im Himmel ist» (2014) über die Jugenderinnerungen ihres Vaters erschienen war, habe ihr die Mutter gesagt: «Von meiner Seite hätte es auch etwas!» Und ihr drei dicke Ordner übergeben mit Briefen, Fotos und allerlei Dokumenten wie Verträgen oder Schuldscheinen.
An ihre Lieblingsgrossmutter Martha, an deren Garten, Kaninchen und gute Küche, später auch an ihren Altersabbau, bewahrt sie eigene farbige Erinnerungen. Die in markanten Episoden angedeuteten Lebensgeschichten ihrer Verwandtschaft, vor allem von Grossvaters Seite, dagegen hat sie rekonstruiert: erstaunlich stimmig, wie nicht nur die Zuständigen, sondern wohl alle Zeitgenossen bestätigen können.
Schweizer Sozialgeschichte
Gespiegelt wird so ein Jahrhundert mittelständischer Sozialgeschichte der Schweiz, was anregt zu nachdenklichem Vergleich: So viel hat sich in so kurzer Zeit so stark verändert! Zugleich sind diese skizzierten Biografien so typisch schweizerisch: Alle Männer lernen einen Beruf und bringen es zu einigem Wohlstand. Die Frauen arbeiten nicht weniger, jedoch zu Hause, und ordnen sich unter – ausser der einen emanzipierten, die nach dem Tod ihres Liebsten lange ledig bleibt und als Damenschneiderin über eigenes Geld verfügt. Und all das geschieht verschont von der Weltgeschichte: Die beiden Weltkriege werden kaum erwähnt.
«Das war nie ein Thema», erklärt Stef Stauffer, «und auch über Politik wurde nicht diskutiert. Man lebte bezogen auf das Nächstliegende.» Was hat sie zu ihrem Buch animiert? «Da waren so viele Geschichten, die das Leben schrieb und die sonst vergessen gingen!»
Dass sie aus der Sicht der Betroffenen in ihrer je eigenen Sprache erzählt werden, macht sie glaubhaft lebendig. «Es war mir beim Schreiben, als ob meine Grossmutter neben mir sitzen würde», sagt die jetzt in Zürich und im Tessin lebende Autorin. Mit spürbarer Zuneigung fühlt sie sich ein in die Porträtierten, zeigt auch Verständnis für den autoritären Grossvater.
Zu hoffen bleibt, dass eine nächste Ausgabe ergänzt wird mit einer Personentafel: Man verirrt sich bei der Lektüre in den verwandtschaftlichen Beziehungen. Aber das kurzweilige Buch will auch gar nicht als Sippengeschichte gelesen werden, sondern als lokal verankertes, packendes Zeitbild.
Stef Stauffer:«Marthas Gäste». Roman. Zytglogge-Verlag, 206 S.
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