«Nur das Zersprengte wird der Realität gerecht»
Als Kind aus Bulgarien geflüchtet, erzählt Ilija Trojanow in seinem aktuellen Roman «Nach der Flucht» von seinen Erfahrungen. Diese Woche eröffnete er mit einer engagierten Rede die Solothurner Literaturtage. Ein Gespräch über das Fremde, Sicherheit und Weltliteratur.
«Die Flucht wirkt fort, ein Leben lang», schreibt Ilija Trojanow in seinem neuesten Buch. Er ist als Kind 1971 mit seinen Eltern aus dem kommunistischen Bulgarien nach Deutschland geflüchtet, später lebte er in Kenia und Südafrika, heute wohnt er in Wien. Trojanow wurde weltberühmt mit seinem Roman «Der Weltensammler» (2006). Seine Bücher basieren auf genauer Recherche: Für «Eistau» (2011) ist er in die Antarktis gefahren, für «Macht und Widerstand» (2015) hat er 15 Jahre lang Zeugnisse von Überlebenden des bulgarischen Gulags gesammelt und Zeitzeugen befragt. Der aktuelle Roman «Nach der Flucht» ist an Trojanows Biografie angelehnt.
Herr Trojanow, «Nach der Flucht» widmen Sie Ihren Eltern, «die mich mit der Flucht beschenkten». Weil Sie froh sind, nicht in Bulgarien leben zu müssen?Ilija Trojanow: Weil ich die Welt erfahren durfte anstatt eines einzigen Landes. Weil ich dadurch freier und unabhängiger geworden bin und am Ende des Regenbogens ein Topf Glück wartet. Weil mich meine Eltern damals nicht um Zustimmung gefragt haben, ich war ja erst sechs Jahre alt, und es höchste Zeit war, dass ich ihre Entscheidung nachträglich gutheisse.
Die Utopie aller Geflüchteten sei die Ankunft, schreiben Sie. Die Ankunft in einer anderen Gesellschaft ist aber oft schwierig. Wie anders sehen die Geflüchteten die Welt?Wer sind die anderen? Das ist die Frage, die sich «Nach der Flucht» stellt. Wer entscheidet, wer die anderen sind? Was ist uns wirklich fremd, jenseits von Manipulationen und Konditionierungen und Vorurteilen und Blindstellen? Der Geflüchtete erfährt, wie fliessend die Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem ist, insofern erkennt er manches klarer als jene, die in schematischen Kategorien denken.
«Nach der Flucht» ist ein fragmentarischer Essay. Ist das die nötige Form dazu, vom Nicht-angekommen-Sein zu erzählen?Flucht und Exil verweigern sich ja allem, was fest ist, allem, was aussieht wie Heimat, was sicher ist und ein ruhiger Hafen oder – wie es an einer Stelle heisst – ein «Arsch auf dem Kanapee». Ich habe gemerkt, dass nur das Zersprengte diesen Realitäten gerecht wird, das Fragmentarische, das scheinbar Unfertige, das im Detail aber präzise ausgearbeitet ist.
Ihre Rede, die Sie zur Eröffnung der Solothurner Literaturtage gehalten haben, trägt den Titel «Einladung zur Weitläufigkeit». Was sollten wir für Bücher lesen, um unseren auf Europa konzentrierten Blick zu öffnen?Wenn man sich anschaut, was wir von der Weltliteratur rezipiert haben, von der klassischen wie auch der zeitgenössischen, so muss ich konstatieren: Wir haben ihr bislang nicht gefrönt, sondern gefastet. Eine sehr einseitige literarische Ernährung, die jeder Diätplaner über den Haufen werfen würde. Wieso sich im Provinziellen einigeln, wenn man inzwischen im deutschsprachigen Raum Zugriff hat auf die Dichtungen der Welt! Statt bestimmte Farben der Palette und Töne der Skala zu ignorieren, sollten wir die existierende Vielfalt geniessen. Wenn Sie in einer Buchhandlung spontan denken: Davon habe ich noch nie etwas gehört – greifen Sie zu!
Ilija Trojanow:«Nach der Flucht», S. Fischer Verlag, 125 Seiten.Buchtaufe an den Solothurner Literaturtagen: Landhaussaal, Samstag, 17 Uhr.Die Solothurner Literaturtage finden noch bis am Sonntag statt.
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