Im Kreis der Teufelin
«Das Labyrinth der Lichter» schliesst Carlos Ruiz Zafóns düstere Barcelona-Quadrilogie mit einem Hoffnungsschimmer ab. Denn die katzenhafte Heldin Alicia Gris setzt ihre sieben Leben raffinierter ein als die Monster der Franco-Diktatur.

Vorab eine Warnung: Wer diesen Roman liest, sollte gar nicht erst versuchen, den Überblick zu behalten. Wie der Titel sagt, befinden wir uns in einem Labyrinth, und obwohl es auf dem hellen Umschlag des Schmökers als «Labyrinth der Lichter» bezeichnet wird, führt es erst einmal in die tintenschwarzen Tiefen von Kellern, Verliesen und einer unterirdischen Geheimbibliothek.
Letztere ist als Brennpunkt des Geschehens allen bekannt, die schon die drei ersten Bände von Carlos Ruiz Zafóns Opus magnum gelesen haben: «Im Schatten des Windes» (2003), «Das Spiel des Engels» (2008) und «Der Gefangene des Himmels» (2012). Figuren aus diesen Romanen tauchen wieder auf, zahlreiche Bezüge und Zitate erweitern das hier vorliegende Wendeltreppenlabyrinth um zusätzliche Windungen.
Doch wer erstmals hinabsteigt in den fantastischen Kosmos des Kultautors, braucht sich darum nicht zu kümmern – jedes der Bücher ist auch als in sich abgeschlossene Geschichte zu lesen.
Alice im Horrorland
Barcelona, 1938. In einer blutigen Bürgerkriegsnacht reisst eine Bombe die kleine Alicia aus den Armen ihres Retters und schleudert sie durch eine Glaskuppel in die Tiefe. Am Grunde des märchenhaften Gebäudes, in das die Kriegswaise gefallen ist, wird sie vom alten Isaac gefunden und gepflegt.
Er ist der Hüter aller Bücher, die je geschrieben worden sind. Aus ihnen ist der unterirdische Palast gebaut, in dem auch Alicias Lieblingsbuch, «Alice im Wunderland», in Sicherheit ist. Denn draussen verbrennen die Faschisten nicht nur Menschen, sondern auch deren Ideen, sprich: Bücher.
Ein schwarzes, chronisch schmerzendes Brandmal an der Hüfte entstellt den milchweissen Körper der erwachsenen Alicia und behindert sie zeitweise auf den Diebestouren, mit denen sie sich über Wasser hält.
Ein Agent der politischen Polizei Francos entdeckt ihr Talent und holt sie nach Madrid in seine Spezialeinheit. Mit Opiaten, die ihre Schmerzen lindern, macht er Alicia gefügig und setzt sie für die schwierigsten Missionen ein. Dabei macht sie sich ihre teuflische Schönheit ebenso zunutze wie ihre Kombinationsgabe und ihr Geschick im Umgang mit Waffen.

Gratwanderung
1959 soll Alicia Gris nach Barcelona zurückkehren, um nach Mauricio Valls zu suchen. Der Minister, der früher das Gefängnis auf dem Barceloneser Hausberg Montjuïc führte und Tausende von politischen Gefangenen foltern und töten liess, ist plötzlich verschwunden. Alicia findet seine Spur und stösst dabei auf ein vertuschtes Verbrechen, an dem fast die gesamte Politelite beteiligt war.
Gleichzeitig trifft sie wieder auf jenen Mann, der sie in der Kriegsnacht 1938 aus den Flammen retten wollte und dem sie durch die Bombe entrissen wurde. Er, der Alicia in all den Jahren für tot gehalten hatte, führt sie zur Buchhändlerfamilie Sempere, Freunde ihrer Eltern und Zeugen ihrer heilen Vorkriegskindheit.
Nun bricht der stählerne Panzer der Kampfkatze auf, und das, was normale Menschen «Gefühle» nennen, macht sie verwundbar. Als sich auch noch Zusammenhänge zwischen dem Verschwinden von Minister Valls und dem Tod einer Frau aus dem Sempere-Clan zeigen, muss sich Alicia entscheiden. Auf welcher Seite steht sie?
König des Gothic-Romans
Carlos Ruiz Zafón wäre nicht der König der spanischen Gothicromans, wenn nun eine Läuterung der dunklen Heldin und ihre Rückkehr in den Kreis der Gutmenschen folgte. Vielmehr schickt er die Lesenden mit ihr auf eine halsbrecherische Gratwanderung und hält die Spannung bis zum Epilog. Wie er das tut, beschreibt die Szene, in der Alicia das Buch eines verschollenen Literaten liest, der Zafón selbst sein könnte:
«Nach kurzer Zeit hatte sie sich in den Seiten verloren, war in die Fülle von Bildern und Rhythmen eingetaucht. (...) Die Erzählung verknüpfte die Worte mit goldgeschmiedeten Bändern und zog die Augen in eine Lektüre von Timbres und Farben hinein, die im Geist ein Schattentheater schufen.»
Carlos Ruiz Zafón: «Das Labyrinth der Lichter», S. Fischer, 941 S.
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