Ein Nobelpreisträger mit dem Pathos der Weltfremdheit
Der Franzose Jean-Marie Gustave Le Clézio, Literaturnobelpreisträger 2008, beschwört das einfache Leben in seinem umfangreichen Werk – mit antizivilisatorischen Untertönen.

Als vor mehr als 20 Jahren der letzte Literaturnobelpreis an Frankreich ging und 1985 Claude Simon auszeichnete, hätte es auch Jean-Marie Gustave Le Clézio treffen können. Denn das war seine grosse Zeit. Damals, als die französische Literatur langsam und mühevoll aus dem Schatten des Nouveau Roman trat, als sie wieder Welt spiegeln wollte, anstatt mit den Glasperlen der Theorie zu spielen, als sie wieder erzählte: Da war Le Clézio der Mann der Stunde. Erzählen, das tat er nämlich, seit er 1963 debütiert hatte mit dem fantasievollen Entwicklungsroman «Le procès-verbal» (auf Deutsch «Das Protokoll», 1965).
Das Buch führte eine Art Kaspar Hauser in die französische Literatur ein, der es sich bei Bettlern, Strassenkünstlern und Fischern wohl sein lässt. Als der Ernst des Lebens in Gestalt von Schulen, Fürsorgeanstalten und anderen Verbiegungsinstrumenten auf ihn zukommt, verlässt er nicht nur sein Leben im Einklang mit der Natur und ihrem menschlichen Strandgut, sondern verabschiedet sich gleich ganz aus dem Buch. Einfach so. Up, up and away...
Ein Hauch von Weltfremdheit
Seit der Geschichte dieses Naturkindes veröffentlichte der Sohn einer Französin und eines Engländers, der 1940 in Nizza zur Welt kam, unablässig Buch um Buch. Er verfasste Romane, Erzählungen, romanhafte Biografien, Essays. Er hatte umso mehr Zeit, sich fast ausschliesslich dem Schreiben zu widmen, als er sein Leben, sehr unfranzösisch, weitgehend fernab der Kapitale verbrachte, fernab der zivilisierten Welt, fernab des Literaturbetriebs.
Als der scheue, zurückhaltende Mann im Jahr 2000 von seinem damaligen deutschen Verlag Kiepenheuer & Witsch dazu gebracht wurde, zum ersten Mal eine Lesereise durch Deutschland zu machen, konnte ein überraschtes Publikum die Bekanntschaft eines sanften, freundlichen Idealisten machen, dessen hochherzige, menschheitsverbrüdernde Sentenzen nicht immer frei waren vom Pathos der Weltfremdheit.
Leser mit einigem historischen Bewusstsein mochten sich daran erinnern, dass der Lobpreis des einfachen, ursprünglichen Lebens, ein gelinder antizivilisatorischer Affekt und die Vorliebe für einsame, aber gutherzige Männer und Frauen, die sich in der «Gesellschaft» schwertun, ihnen in den Dreissiger- und Vierzigerjahren auch von deutschen Autoren nahegebracht worden waren – von Ernst Wiechert etwa. Dessen Romane «Das einfache Leben» und «Die Jerominkinder » waren in Le Clézios Jugend die Sorte Belletristik gewesen, die der französische Taschenbuchmarkt von jenseits des Rheins am liebsten druckte; nicht ausgeschlossen also, dass Le Clézios Schwärmen für das Vorzivilisatorische, Unverbildete auch deutsche Einflüsse aufgenommen hat.
Ein Liebhaber exotischer Kulissen
Anders als Wiechert oder Hans Carossa hielt sich Le Clézio jedoch nicht mit Kritik an den geistig-moralischen Zuständen in seinem Land auf. Das interessierte ihn im Grunde nicht, und lange Zeit ignorierte er Frankreich sogar. Was ihn vielmehr faszinierte, was er immer wieder gestaltete und was zunehmend sein Markenzeichen werden sollte, das waren die naturbelassenen Breiten der Dritten Welt. Es gibt wohl in der französischen Literatur – mit Ausnahme des grossen Weltumseglers Pierre Loti – keinen Autor, der sich so intensiv hineinversetzte, ja hineinbohrte in die exotischen Kulissen ferner Länder.
Dass er dabei auch eine politisch korrekte Forderung der Zeit erfüllte und sich der Sache der «Kolonialisierten» annahm, wie es mit Frantz Fanon seit den Sechzigerjahren hiess, unterlief ihm im Grunde eher nebenbei. Der als kolonialismuskritisch rezipierte Roman «Désert» von 1980 (auf Deutsch «Wüste», 1989) hat seine literarischen Stärken jedenfalls weniger in der Klage, die französischen Kolonialherren hätten Nordafrika zerstört, als vielmehr in der suggestiven, geradezu hymnischen Beschwörung des Nomadenlebens in der Wüste, das Le Clézio zur Metapher für die absolute Freiheit wird.
Jenseits der marktbestimmten Gesellschaften Europas und des Westens muss die Freiheit wohl grenzenlos sein – das wurde immer deutlicher die Botschaft des Jean-Marie Gustave Le Clézio. Er erreichte mit ihr in den Siebziger-, Achtzigerjahren auch hierzulande die Menschen. Besonders seine romanhafte Biografie der Kultfigur Frida Kahlo, die natürlich in seiner Galerie der selbstbewusst eigensinnigen Gutmenschen nicht fehlen durfte, wurde populär («Diego et Frida», 1993; auf Deutsch 1995). Auch hier nutzte der Autor wieder die Gelegenheit, die indianische Vergangenheit Mexikos hochzuhalten und sie als Kraftquell zur Selbstfindung seiner beiden Protagonisten aufzuwerten.
Ähnlich war er bereits in «Le rêve américain ou la pensée interrompue» von 1988 verfahren, wo er der Frage nachhing, was wohl aus dem Westen geworden wäre, wenn das spirituell ausgerichtete, Moral und Politik versöhnende Weltbild präkolumbianischer Kulturen die Chance gehabt hätte, stärker auf die europäischen Eroberer und ihre Nachfolger auszustrahlen. Kenner der Materie haben zu diesen Spekulationen vor allem angemerkt, dass der Autor bei der Darstellung der Ureinwohner Amerikas deutlich zur Verklärung neige. Überhaupt leidet die exotische Farbigkeit der Kulissen, die Le Clézio in seinen Büchern zugegebenermassen virtuos heraufbeschwört, an einem gewissen Schematismus, der seinem rousseauistischen Denken geschuldet ist. Die Intaktheit des Naturzustands ist eben immer das Gute; das, was der Mensch daraus gemacht hat, hingegen das Schlechte.
Paradiesische Zustände
Es liegt in der Natur der Dinge, dass Überzeugungen dieser Art sich im Laufe des Lebens eher verfestigen als verflüssigen. So hat denn auch Le Clézio mit seinem vorletzten Roman, der Deutschland erreichte («Ein Ort fernab der Welt», erschienen 2000), endgültig Ernst gemacht mit seiner Suche nach dem unentfremdeten Leben. Gab es in den Romanen «Onishta» (1991) und «Etoile errante» (1992) noch die Konfrontation mit der wirklichen Welt – der Biafrakrieg, das Frankreich des Vichy-Regimes –, so herrschen im «Ort fernab der Welt» endgültig paradiesische Zustände, die der Held des Buches, Léon Archambeau, auf einer kleinen Insel vor Mauritius findet.
Hier erlöst den Frankreichflüchtigen die Inderin Suryavati mit ihrer reinen, unverfälschten Liebe – und alles wird gut, bleibt gut, wird immer gut sein. Auch der reich instrumentierte «vollblütige» Duktus, dieses Schwelgerische, Hymnische, Sinfonische, das alle Texte Le Clézios kennzeichnet und passagenweise durchaus reizvoll ist, kann hier über die edle Langweile nicht hinwegtrösten, die nun einmal verströmt, wer der Weisheit letzten Schluss gefunden hat.
Überzeugender fiel da schon sein Nachfolgebuch aus, «Der Afrikaner» (auf Deutsch 2007), in dem der Autor seinem Vater ein Denkmal setzt. Der arbeitete als Tropenarzt im Dienste des britischen Kolonialreichs in Nigeria und weckte Le Clézios Interesse für den dunklen Kontinent. Frankreich ist vom Stockholmer Komitee sehr lange nicht bedacht worden; das ist wohl wahr. Und richtig ist es auch, darauf hinzuweisen, dass die französische Gegenwartsliteratur nicht nur über exhibitionswütige Damen und einen Traktätchenautor wie Michel Houellebecq verfügt. Doch weit mehr als Le Clézio hätte der Virtuose des Erinnerns, Patrick Modiano, den Preis verdient.
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