«Diese verrückten Jahre»
«Keine Autobiografie, sondern ein Zeitgemälde» sei sein neues Buch «Ein Topf voll Zeit», betont Kurt Marti. Darin berichtet der 87-jährige Berner Schriftsteller und Pfarrer über die dramatischen Jahre von 1928 bis 1948. Und über seinen persönlichen Weg vom Jusstudenten zum Nydegg-Pfarrer.

«Unter Rentnerinnen und Rentnern, etliche wie ich im Greisenalter, grassiert eine Epidemie, die man Memoiritis nennen könnte», verspottet Kurt Marti sich selber im Vorwort zu seinem diese Woche erscheinenden Erinnerungsbuch «Ein Topf voll Zeit». Und fügt an, sein «intellektuelles Immunsystem» habe ihn zur Einschränkung gezwungen auf seine Jugendjahre im Schatten des niedergehenden alten Europas.
Unbeschwerte Jugend
«Ursprünglich habe ich meine Erinnerungen nur für meine Kinder und Enkel festhalten wollen», sagt Kurt Marti im Gespräch über sein neues Buch, der gut dreissigste Titel in der langen Liste seiner Lyrik- und Prosapublikationen. «Doch dann wurde mir bewusst, dass ich zu der wegsterbenden Generation gehöre, die den Aktivdienst im Zweiten Weltkrieg miterlebt hat. Für diese verrückten Jahre, die das Bewusstsein der Schweiz so nachhaltig geprägt haben, gibt es doch kaum literarische Zeugnisse.» Er selbst hat, nach einer privilegierten Berner Kindheit und Schulzeit, die Kriegsjahre recht idyllisch erlebt: Als Gymnasiast war Marti freiwilliger Fliegerbeobachter, später Korporal bei einer Gebirgseinheit im Berner Oberland. «Dort herrschte eher ein sportlicher Freizeitbetrieb. Der Krieg schien seltsam entrückt.» Natürlich habe man die ständige Bedrohung gespürt, «doch in erster Linie waren wir jung und wollten leben». Recht leicht fiel dem Jusstudenten auch der Entschluss, zur Theologie zu wechseln. «Dabei wusste ich nicht, ob ich überhaupt Pfarrer werden wollte. Es schien mir einfach das interessantere, breitere Studium. Über meine Tauglichkeit würde später die Gemeinde entscheiden.» Stark geprägt hat sein Denken der progressive Theologe Karl Barth. Seine Zweifel sei er natürlich nie ganz losgeworden, «wie wohl jeder gute Pfarrer», gesteht Kurt Marti. Doch er habe sich in der Nydegg-Pfarrei akzeptiert gefühlt und sehr gerne dort gearbeitet, im Umgang mit den Menschen auch Stoff für sein Schreiben gefunden. Die ersten Mundartgedichte, die seinen Ruf begründeten, entstanden aber erst in den Fünfzigerjahren. «Vorher ging es darum, einen Beruf und eine Familie aufzubauen.»
Momentaufnahmen
Begeistert hat ihn die Lyrik aber schon früh, vor allem die Gedichte von Rilke, George oder von den Expressionisten. Vor allem jedoch beschäftigte ihn die weltpolitische Entwicklung. In seinem Buch schiebt sie sich in präzisen Momentaufnahmen immer wieder zwischen die persönlichen Episoden. Beides wurde aus der blossen Erinnerung festgehalten, ohne die Stütze von Tagebüchern, Materialsammlungen oder späteren Recherchen. Ob dem Gedächtnis wohl zu trauen sei, fragte sich der Autor selber. Deshalb habe er sich abgesichert «mit dem uralten Trick, das Ich hinter der dritten Person Einzahl zu verstecken». Diskrete Distanz So macht denn in seinem Buch eine literarische Figur, genannt «der Bub» oder später «der Jüngling», seine Erfahrungen, was dem Stil manchmal eine etwas altväterische Note verleiht. Dasselbe gilt für die erotischen Szenen, nur angedeutet als «avanciertere Liebkosungen» oder «eskalierte Zärtlichkeiten». Darin spiegle sich auch der Geist der Zeit, welche die Sexualität nicht nur anders erlebt, sondern auch anders darüber gesprochen oder vielmehr geschwiegen habe, sagt Kurt Marti zu diesem Einwand. Doch sein starkes Bedürfnis nach Diskretion lässt die Menschen in seinem Buch manchmal erscheinen wie verblasste Fotografien. «Ich wollte eben keine Autobiografie schreiben, sondern ein Zeitgemälde», betont der Autor. Deshalb habe er auch dem Wunsch des Verlags nach Dokumentarfotos nicht nachgegeben. «Das wäre sonst zu persönlich geworden.» Und eine Fortsetzung werde es sicher nicht geben. «Seit meine erste und wichtigste Leserin nicht mehr da ist, mag ich nicht mehr schreiben», sagt Kurt Marti. Doch seine letzten Herbst gestorbene Frau Hanni, Gefährtin während über sechzig Jahren, lebt als Lichtgestalt in seinem Erinnerungsbuch weiter.
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