«Krieg und Frieden» in neuer Übersetzung
Tolstoi-Roman Von Martin Ebel Der Roman, den viele als den grössten seiner Gattung bezeichnen, ist gar keiner – wenn es nach seinem Autor geht. Tolstoi bezeichnete «Krieg und Frieden» als «das, was der Autor ausdrücken wollte und konnte, in der Form, in der es ausgedrückt ist». Mit 2300 Seiten – in der neuen Ausgabe – sprengt das Werk jedes Mass, in Aufbau und Zusammensetzung alles bisher Dagewesene. Der Autor verfolgt nicht nur das Schicksal von drei Familien über die für Russland entscheidenden sieben Kriegsjahre 1805 bis 1812, er lässt etwa 250 Personen auf- und abtreten, fiktive mit historischen zusammentreffen. Er ist darüber hinaus auch ein geschichtsphilosophischer Riesenessay. Die Sicherheit im Detail, der Sinn für psychologische Konsequenz und die Disziplin im Entwerfen von Szenen: All diese Qualitäten fehlen dem Romancier, wenn er über den Sinn der Geschichte nachdenkt oder die Kräfte, die sie antreiben. So originell und sogar modern diese Gedanken für seine Zeit sind – dass es nicht die grossen Männer sind, die Geschichte machen, nicht mal Napoleon, sondern das Zusammenwirken unendlich vieler Einzelfaktoren: Der Denker Tolstoi ufert aus, wiederholt sich, kreist um die immer selben Gedanken. Das hat Leser schon immer ermüdet und Übersetzer zu Kürzungen ermuntert. Was natürlich nicht geht: Den Tolstoi muss man ganz durchqueren oder gar nicht, denn es ist kein Fluss, den man auf die Schnelle überwindet, sondern ein Ozean, auf dem man wochenlang herumtreibt, oft ohne Ziel und Richtung, und manchmal bleibt man eben in einer Flaute stecken. In Natascha steckt viel Leben Die neue Übersetzung von Barbara Conrad ist auf dem Niveau, das man heute bei den grossen Klassikern nicht mehr unterschreiten darf (und das der Hanser-Verlag seit Jahren vorbildlich praktiziert). Sie ist vollständig, also auch mit dem zweiten, gern weggelassenen Epilog, sie ist nahe am Original auch da, wo dieses «unbeholfen» oder «sperrig» wirkt – Begriffe, die verraten, dass man die Ästhetik des Autors nicht mag oder begreift. Wiederholt Tolstoi also ein Wort, dann sucht die Übersetzerin nicht nach Varianten, nur weil das früher beim Schulaufsatz als gutes Deutsch galt, sondern bildet Wiederholung und Intensivierung nach. Schliesslich bleibt es, wo im russischen Original französisch gesprochen wird, auch in derÜbersetzung bei der Fremdsprache (mit deutschen Fussnoten).Frühere Übersetzungen hatten da lediglich einen Halbsatz, als «Farbe», auf Französisch beibehalten. Hier wirkt nun etwa das Besäufnis Pierre Besuchows mit dem französischen Hauptmann, dem er das Leben gerettet hat, viel authentischer. Ein Vergleich mit der bis dahin jüngsten deutschen Version von Marianne Kegel (im Handel etwa bei der Winkler-Dünndruckausgabe), die auch nicht schlecht ist, zeigt, dass Barbara Conrads Deutsch insgesamt eleganter und genauer ist – und dem Sprachgefühl heutiger Leser eher entspricht, ohne im Geringsten zeitgeistig zu sein. Also: Der Winter kommt, Nässe und Nebel drohen. Mit den beiden Bänden «Krieg und Frieden» ist man gut gerüstet. Und wer Natascha Rostowa nur in Gestalt der entzückenden Audrey Hepburn kennt, wird sich wundern, wie viel Leben im Original steckt! Lew Tolstoi: Krieg und Frieden. Aus dem Russischen und mit Kommentar von Barbara Conrad. Hanser, München 2010. 2288 S., 2 Bde, ca. 82 Fr.
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