Kommentar: Zwerge können nicht autonom sein
Im Kanton Bern findet dieses Jahr eine Abstimmung statt, die für die weitere Entwicklung des Kantons wegweisend ist. Das Volk entscheidet im September, ob Gemeinden in Ausnahmesituationen zu Fusionen gezwungen werden sollen.
Der Grosse Rat hat die Änderungen gestern beschlossen. Es ist nicht anzunehmen, dass die SVP in der zweiten Lesung daran noch rütteln kann. Allerdings darf man sich vom grossen Wort «Zwangsfusion» nicht blenden lassen. Diese Vorlage wird sicher nicht zu einer von oben verfügten Fusionswelle führen. Dazu sind die Bedingungen viel zu restriktiv definiert. Eine Gemeinde muss schon in einer sehr üblen Schieflage sein, damit der Kanton Zwang anwenden kann. Oder aber sie verhindert eine Grossfusion, die eine Mehrheit der anderen Gemeinden wünscht. So oder so wird der stark konservativ und ländlich geprägte Grosse Rat sicher nicht leichtfertig Zwangsfusionen anordnen, die stets unpopulär sind. Fazit: Man darf sich von dieser Reform nicht zu viel erhoffen oder muss sie – je nach Sichtweise – nicht fürchten. Sie wird wenig bewirken. Bestenfalls fördert sie freiwillige Fusionen. Das ist eigentlich zu wenig. Der Kanton Bern sollte sich höhere Ziele setzen. Eine radikale Fusionspolitik könnte ihn stärken und voranbringen. Dieser Kanton krankt an der Vielzahl kleiner Gemeinden, die nur schon wegen ihrer Grösse nicht in der Lage sind, die komplexen, vielfältigen Aufgaben zu erbringen, die der Staat heute erbringen muss. Das führt dazu, dass Bern heute besonders stark zentralisiert ist – dass die Kantonsverwaltung ständig wächst und Aufgaben übernimmt, die andernorts bei den Gemeinden angesiedelt sind. Vor allem werden neue Aufgaben – aktuell etwa im Vormundschaftsbereich – fast immer beim Kanton angesiedelt, weil die meisten Gemeinden nicht in der Lage wären, sie zu übernehmen. Die Folgen sind schlecht: Der Kanton wendet notgedrungen überall – von der Stadt Bern bis ins Oberhasli – dieselben Massstäbe an und schreibt dieselben Standards vor. Dabei wissen alle, dass die Gemeinden die Aufgaben effizienter erbringen und auch den örtlichen Verhältnissen anpassen könnten. Nicht alles, was in Bern nötig ist, ist im Oberhasli auch nötig. Deshalb gilt: Wer die Gemeinden und ihre Autonomie wirklich stärken will, der soll nicht das alte Lied von Demokratie und Selbstbestimmung absingen. Der soll die Gemeinden über Grossfusionen richtig stärken, auf dass sie wieder mehr Aufgaben übernehmen und allein erbringen können. Solche Gemeinden könnten dem Kanton auch mal die Stirn bieten und wären nicht mehr auf die diversen technischen Hilfestellungen der Kantonsverwaltung angewiesen. Die Reduktion der Anzahl Gemeinden von 382 auf 30 bis 50 böte noch andere Vorteile. Man könnte die komplexen Lastenverteiler, über die heute die enormen Kosten von Schule und Sozialhilfe weitgehend intransparent aufgeteilt werden, abschaffen oder zumindest vereinfachen. Ein Finanzausgleich von reichen zu armen Gemeinden würde genügen. Ansonsten könnten die gestärkten Gemeinden eigenverantwortlich befehlen und bezahlen. Wie liesse sich die Gemeindeautonomie besser stärken? Weiter könnte man all die Regionalverbände und anderen kommunalen Kooperationen abschaffen, in denen sich die Gemeinden zusammengetan haben. Damit würden die Demokratie und die direkte Mitsprache der Bevölkerung wieder gestärkt. Regionalkonferenzen wären auch nicht mehr nötig. Man könnte sich auch fragen, wie weit es die Regierungsstatthalter noch braucht. Auf jeden Fall sollte der Grosse Rat Gemeindedirektor Christoph Neuhaus beauftragen, Chancen und Risiken einer offensiven Fusionspolitik abzuklären. Von sich aus wird er sicher nicht aktiv. Zu hoffen ist auch, dass die milde Zwangsfusionsvorlage Bestand hat. In der Realität mag sie wenig bewirken. Eine klare Zustimmung wäre aber ein Fingerzeig dafür, dass die Politik die Gemeindegrenzen gelegentlich einmal überwinden und einen neuen Kanton Bern denken dürfte.