Klettern kann jeder
Wettkampfklettern unter Beeinträchtigten ist auf dem Vormarsch. Doch für die Paralympics braucht es mehr internationale Teams.

An einem regnerischen Samstag versammeln sich rund dreissig Athleten in der Kletterhalle von Sheffield. Sie alle sind beeinträchtigt, manche sind sehbehindert, andere haben Prothesen oder neurologische Beeinträchtigungen. Was sie verbindet, ist die Leidenschaft fürs Klettern. Prothesen und Rollstühle werden abgelegt, es geht nur nach oben, keine Einschränkung soll davon abhalten.
«Das Klettern hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Es ist meine Leidenschaft, mein Job, mein Lebensinhalt», sagt Matthew Phillips, der aktuelle Weltmeister in der Kategorie der Oberarm-Amputierten. Der 19-Jährige strahlt eine ansteckende Energie aus und wird am Ende des Tages auf dem Podest stehen. Sein rechter Arm endet knapp unterhalb des Ellbogens.
Phillips findet mit bloss einer Hand nur bedingt Halt an den Klettergriffen, vor allem mit den runden Strukturen hat er Mühe. Dennoch schafft er Routen bis zum Grad 7c – ein Schwierigkeitslevel, das auch nicht beeinträchtigte Kletterer fordert. Erst vor vier Jahren hat er das Klettern entdeckt, vorher war er Schwimmer. «Seither bin ich ein anderer Mensch. Zuvor war ich eher zurückgezogen und introvertiert», sagt er.
So wie Phillips erging es vielen, die sich in Sheffield ans Seil binden und erst loslassen, wenn sie entweder das Top erreicht haben, oder am Ende ihrer Kräfte sind. Sie entdeckten Klettern als eine Herausforderung, der sie sich ungeachtet – oder gerade trotz – ihrer körperlichen Einschränkung stellten, und fanden darin eine Erfüllung. «Würde ich nicht klettern, sässe ich vermutlich nur zu Hause herum», sagt Kenneth Ellacott, der in der Kategorie der neurologisch Beeinträchtigten startet.
Die Stimmung während des Wettkampfs ist entspannt. Es geht zwar um nichts weniger als die englische Meisterschaft im Paraclimbing, die auch Selektionskriterium für die Nationalmannschaft ist. Doch im Vordergrund steht das Miteinander. Man kennt sich, tauscht sich aus, feuert seine Mitstreiter an.
Fernziel Paralympics
Klettern hat sich in den letzten zwanzig Jahren rasant entwickelt. Aus einer Randsportart, die für Abenteuer und Adrenalin in der Wildnis stand, hat sich längst ein Breitensport entwickelt, der vielfach in Kletterhallen stattfindet und für jedermann zugänglich ist, auch für beeinträchtigte Menschen. Unterschiedliche therapeutische Wirkungen werden der Sportart zugeschrieben, von Förderung der Motorik und Körperwahrnehmung bis hin zu verbessertem Selbstwertgefühl und Vertrauen.
Kletterwettkämpfe unter Behinderten haben aber noch keine lange Tradition. 2003 wurde in Chamonix (F) der erste internationale Wettkampf ausgetragen. Da es keine gesonderten Kategorien gab, traten Athleten mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen gegeneinander an. So massen sich etwa Sehbeeinträchtigte mit Amputierten – von einem fairen Wettkampf konnte keine Rede sein.
Je mehr Athleten antreten, desto fairer können die Kategorien eingeteilt werden.
Inzwischen hat sich einiges getan. Der internationale Sportkletterverband (IFSC) nahm Paraclimbing unter seine Fittiche und organisierte 2011 die erste Weltmeisterschaft, an der 35 Athleten aus 11 Nationen vertreten waren. 2018 wurde die Paraclimbing-WM in Innsbruck (Ö) erstmals zeitgleich mit der Sportkletter-WM veranstaltet, was die Bekanntheit der Disziplin förderte und das Interesse beim Publikum weckte. Bei den diesjährigen Weltmeisterschaften in Briançon (F) nahmen bereits 158Athleten aus 24 Ländern teil.
Die drei Hauptkategorien Blind, Amputiert und Neurologisch beeinträchtigt werden je nach Teilnehmerfeld noch spezifischer unterteilt. «Einen fairen Wettkampf zu organisieren, ist nicht einfach», sagt Belinda Fuller, Trainerin im britischen Paraclimbing-Team. «Denn die körperlichen Voraussetzungen sind sehr individuell, gleichzeitig muss man die Kategorien definieren und kann da nicht allzu spezifisch vorgehen. Sonst tritt am Ende jeder in seiner eigenen Kategorie an.»
Fuller betreut in Sheffield eine Vielzahl an Athleten, die von überall aus dem Land angereist sind. «Je bekannter Paraclimbing wird, desto mehr Athleten wird es geben und desto fairer können die Kategorien eingeteilt werden», sagt sie. Es brauche mehr Nationen, die Paraclimbing fördern, damit die internationalen Wettkämpfe weiter wachsen und das Fernziel, bis 2028 an den Paralympics vertreten zu sein, realistisch ist. Die Chancen dazu stehen nicht schlecht, immerhin erfährt das Sportklettern derzeit durch die erstmalige Austragung an den Olympischen Spielen 2020 einen Hype.
Die Schweiz wartet ab
Längst nicht alle Sportkletter-Nationen fördern auch das Paraclimbing. Nebst England sind die USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und der Iran stark vertreten. In der Schweiz existiert die Idee erst auf dem Papier: Der Schweizerische Alpenclub (SAC) hat ein Fo?rderkonzept erstellt, das die Lücke schliessen soll. Schliesslich ist im Grundgedanken des Verbands verankert, dass im SAC alle willkommen sind, unabha?ngig von Alter, Geschlecht, Religion, Sprache und Herkunft.
Ziel sei es, in Zukunft nicht nur den herkömmlichen Leistungssport zu fördern, sondern auch den wettkampfmässigen Behindertensport, sagt Hanspeter Sigrist, Chef Leistungssport Swiss Climbing. Er betont aber, dass man vonseiten SAC erst auf Paraclimbing setzen möchte, wenn genügend Strukturen bestehen, um Interessierten eine nachhaltig funktionierende Förderung bieten zu können: «Wir haben andere Nationen beobachtet, die mit grossem Elan an die Sache herangingen, danach ist es aber wieder eher ruhig geworden.» Solches wolle man vermeiden. Man sei aber im Gespräch mit Plusport, der Schweizerischen Fachstelle für Behindertensport.
Sollte sich die Schweiz in Zukunft als Austragungsort einer Kletterweltmeisterschaft bewerben, müssten alle Disziplinen vertreten sein. Dann wäre es das Ziel des SAC, dass man als Gastgebernation auch im Paraclimbing ein eigenes Team stellt.
Raus in die Wildnis
In Sheffield verfolgen rund sechzig Zuschauer die spektakulären Finals. Es wird mitgefiebert und gestaunt, etwa als Jesse Dufton in der Kategorie der Sehbehinderten Stück für Stück die Wand hochgleitet. Als unwissender Zuschauer würde man nicht sofort erraten, dass Dufton nichts sieht. Er findet die bunten Griffe und Tritte durch Intuition, zusätzlich gibt ihm seine Partnerin über Funk Anweisungen.
Dufton hat in der Kletterszene grosse Bekanntheit erlangt, nachdem er als erster Blinder den berüchtigten Felspfeiler «Old Man of Hoy» an der Küste Schottlands bezwungen hatte. Er meisterte die 137 Meter hohe Route im Grad E 1 (E steht für «extreme») im Vorstieg, musste im teils brüchigen Fels sämtliche Sicherungspunkte in Form von Klemmgeräten selber anbringen – ohne zu sehen, ob sie gut platziert sind und einen Sturz auch halten würden.
Der Brite hat somit gezeigt, dass Klettern für Beeinträchtigte auch ausserhalb der Halle stattfinden kann. Er spricht weniger über seine Wettkampfziele, sondern lieber darüber, was er draussen am Fels vorhat. Sheffield liegt mitten im Peak District, wo sich die dunklen Gritstone-Felsbänder aus der grünen Hügellandschaft erheben. «Da gibt es noch viele Routen, die ich schaffen will. Der nächste Schritt wäre E 2, das müsste auch drinliegen», sagt er nüchtern Bezug nehmend auf die englische Extreme-Skala.
Solche Leistungen und das wachsende Interesse beim Publikum dürften dem Paraclimbing weiteren Aufschwung verschaffen. Belinda Fuller ist optimistisch: «Je bekannter es wird, desto mehr Leute werden sich sagen: Vielleicht kann ich selber auch eine Wand hochkommen, ganz egal, was meine körperlichen Voraussetzungen sind.»
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