Kein Sex ist auch keine Lösung
Am Anfang landen Liebespaare ständig im Bett. Dann verdrängen Kinder, Wäscheberge und die Steuererklärung die Lust. Aber Sex muss sein.

Die Frau ist Mitte oder Ende 30, sie wohnt in einem Haus am Waldrand, sie hat zwei kleine Kinder, mit denen sie zu Hause bleibt, und einen Mann, den sie liebt. Seit acht Monaten haben sie nicht mehr miteinander geschlafen, aber darüber reden sie nicht. Wenn sie wieder mal nebeneinander im Bett liegen und die Frau denkt, sie hält es nicht mehr aus, dieses schweigende Nicht-angefasst-Werden, bittet sie ihren Mann um einen Gefallen: Ob er sie nach Zecken untersuchen könne.
Jedes Mal hofft sie, dass eins zum anderen führen könnte, und jedes Mal führt es nur zur Enttäuschung: Der Mann findet keine Zecken, will selbst nicht nach Zecken abgesucht werden, und die Frau fragt sich, was bloss los sein könnte. Die Frau gibt es nicht wirklich, sie ist eine Figur aus der Kurzgeschichte «A Love Story» von Samantha Hunt, die kürzlich im Magazin «The New Yorker» erschienen ist. Aber ihr Problem teilen sehr viele Menschen, wenn man denjenigen glaubt, die sich beruflich damit beschäftigen.
Sextoys, Partnertausch und Affären als Medikation
Die Sexdürre trifft insbesondere Paare mit Kindern, aber sie trifft nicht nur sie. Der gängige Verlauf ist bekannt: Es treffen sich zwei, sie finden einander interessant und anziehend, dann auch verliebenswert. Es folgt eine Phase des extremen körperlichen Aufeinanderabfahrens, in der man eigentlich nie etwas Wichtigeres zu tun hat, als Gelegenheiten zu organisieren, bei denen man sich ausziehen kann. Im Idealfall kommt es parallel dazu zu einem emotionalen Ineinanderhineinfahren, sodass alsbald die Bindung etabliert ist. Und schon verändern sich die Dinge.
Getrennte Wochenenden oder Abende auf dem Sofa, an denen man sich nicht entkleidet, werden wieder denkbar und auch wünschenswert. Dann gemeinsamer Hausstand, vielleicht ein Kind, vielleicht viel Arbeit. Man gewinnt ungeahnte Mengen an Wäsche, Steuerunterlagen und Familienaktivitäten dazu und verliert dabei unversehens alte Gewohnheiten wie Sport, Abende in einer Bar oder eben Sex.
Von einer Selbstverständlichkeit zum Problem
«Beziehung und dauerhafter Sex vertragen sich einfach nicht», ist ein Satz, der in Sexkolumnen seinen festen Platz hat und mit einem Wahrheitsanspruch daherkommt wie die Aussage «Die Erde ist rund». Verwirrend ist das schon: Der Wunsch, mit einer bestimmten Person sehr viel Zeit zu verbringen und so oft wie möglich ins Bett zu gehen, ist das Fundament der meisten Liebesbeziehungen in modernen Gesellschaften.
Die meisten Menschen wollen in Liebesbeziehungen ihre sexuellen Bedürfnisse ausleben – und sie wollen Beziehungen, in denen sie das können. Wer in einer festen Partnerschaft lebt, hat eigentlich beste Voraussetzungen dafür, sich diese Wünsche zu erfüllen. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb, wird Sex fast unausweichlich von einer Selbstverständlichkeit zum Problem.
Kein Stück Seife, das sich abnützt
Sexuelle Frustration ist einer der häufigsten Gründe, die Paare vor der Trennung oder bei Affären angeben. Kilometerlange Regale mit Ratgeberbüchern bieten Abhilfe an: «Gesundgevögelt in zwölf Wochen – Praxisbuch für Paare und alle, die es werden wollen» oder «Guter Sex trotz Liebe. Wege aus der verkehrsberuhigten Zone» oder «Wild Life. Die Rückkehr der Erotik in die Liebe» oder «Wieder Paar sein! Erfüllte Zweisamkeit trotz Arbeit und Kind».
Sextoys, Affären oder Partnertausch gehören zu den empfohlenen Medikationen. Wer das so liest, bekommt das Gefühl, Sex zwischen liebenden Langzeitpartnern müsse definitiv eine unheimlich komplizierte und möglicherweise nicht ganz natürliche Angelegenheit sein.
Der Berliner Sexualtherapeut Christoph Joseph Ahlers, der mit «Vom Himmel auf Erden» (Goldmann-Verlag) das derzeit lesenswerteste Buch zur menschlichen Sexualität geschrieben hat, sagt: «Es gibt die verbreitete Vorstellung, dass langjährige Beziehungen zwangsläufig sexuell einschlafen, weil man sich zu gut kennt, sich zu vertraut ist und der Reiz des Unbekannten und Neuen abhandenkommt. Dem kann ich nur widersprechen. Das entspräche dem Bild, dass man einander ein Stück Seife ist, das sich nach längerem Waschen abnutzt und verbraucht.»
Nicht auf den warmen Regen der Erregung warten
Klar: Am Anfang muss einer, den man gut findet, ja nur im Türrahmen erscheinen, und man ist bereit, sich auszuziehen. Sex, Spontaneität und eine unwiderstehliche Urgewalt gehören in unserer Vorstellung unzertrennlich zusammen. Wir sitzen da einem kulturell erzeugten Irrtum auf, sagt Ahlers.
«Die grösste Falle in der Vorstellung von Sex in partnerschaftlichen Beziehungen ist das Lauern auf Erotik, Lust und Leidenschaft, die einen aus dem Nichts heraus überfallen soll. Wie ein warmer Regen der Erregung. Diese ominöse Vorstellung von ‹Lust auf Sex›, die aus dem Nichts von selbst entsteht, gibt es so nicht, denn sie ist eine fiktionale Vorstellung aus Hollywood.»
«Diese ominöse Vorstellung von ‹Lust auf Sex›, die aus dem Nichts von selbst entsteht, ist eine fiktionale Vorstellung aus Hollywood.»
Wer also viele Jahre mit demselben Partner ins Bett gehen will, und das wollen ja die meisten, muss sich nicht damit abfinden und muss sich auch nicht darauf einstellen, nur noch ein paarmal im Jahr in den Genuss zu kommen. Vielmehr geht es darum, zu lernen, dass Sex, wenn man sich eine Weile kennt, anders funktionieren kann und darf.
Sex als Instandhaltungsmassnahme
Neben dem aufregenden Spontansex, von dem immer alle träumen und reden, gibt es nämlich zwischen liebenden Körpern noch eine, vielleicht nicht immer superorgiastische, aber nichtsdestotrotz unerlässliche und genussfördernde Nischenaktivität, der man sich zu zweit hingeben kann. Nennen wir es Sex als Instandhaltungsmassnahme.
Die Rede ist von der Art Sex, die man auf dem schmalen Grat zwischen «Keine Lust» und «Warum eigentlich nicht?» hat. Zwar findet er in unseren kulturell geprägten Vorstellungen irgendwie nicht so richtig statt, doch kann man davon ausgehen, dass er in den Betten und auf den Sofas glücklicher Paare regelmässig praktiziert wird. Instandhaltungssex ist das Miteinanderschlafen zum Zweck der Herstellung und Aufrechterhaltung körperlicher Nähe.
Obwohlsex sorgt für ein gutes Gefühl
Es ist Obwohlsex. Obwohl ich müde bin, obwohl ich so viel zu tun habe, obwohl wir morgen früh aufstehen müssen, obwohl wir jetzt genauso gut einfach noch eine vierte Folge von «House of Cards» gucken könnten, obwohl ich von mir aus jetzt eher in die Badewanne gehen würde: Lass uns ein bisschen zusammen sein. Die Art von Sex, die einen vielleicht nicht immer aus der Haut fahren lässt, aber auf jeden Fall dafür sorgt, dass man sich in seiner Haut sehr wohlfühlt.
Es ist eine sträflich unterbewertete und für jede Langzeitbeziehung absolut lebenswichtige Form des Miteinanderseins. Schon als Kleinstkinder lernen wir – im besten Fall – körperliche Nähe und Zuwendung als wichtigste Form der Zuneigung und Sicherheit kennen. Ahlers spricht von «Intimkommunikation». Den Wunsch danach verlieren wir nie.
Marvin Gaye singt von «Sexual Healing»
Vor allem für Männer ist Sex nicht einfach etwas, das man macht, weil gerade alles so erotisch knistert. Sie fühlen sich dabei oft auch einfach nur wohl und aufgehoben – nicht ohne Grund beschwört Marvin Gaye in seinem berühmtem Song die Vorstellung des «Sexual Healing». Für Frauen ist es aus verschiedenen Gründen oft komplizierter: Für viele von ihnen sei Sex vor allem in der Anfangszeit mit einem Partner interessant, als Bindungsmittel an den Partner, und später zur Fortpflanzung, beobachtet Ahlers.
Das habe viel mit Sozialisierung zu tun. In der Mittelphase des Lebens, in der Frauen hochbeschäftigt und oft überanstrengt sind, tun sie sich schwer, die Sache anders zu sehen: «Sexualität wird von Frauen oft als letztes Autonomierefugium empfunden», sagt der Therapeut. «Sie haben das Gefühl, sie sind schon den ganzen Tag dazu da, sich um alles zu kümmern. Sie arbeiten, sie machen den Haushalt, sie sind für die Kinder da, vielleicht stillen sie noch. Und dann kommt abends noch der Typ und will auch noch was. Das ist dann die letzte Möglichkeit, sich zu verweigern.»
«Sexualität wird von Frauen oft als letztes Autonomierefugium empfunden.»
Aus der zunächst erklärlichen Lustlosigkeit wird mit der Zeit eine schlechte Gewohnheit: «Viele Frauen realisieren nicht, dass sie sich selbst von einer Quelle des Wohlgefühls und der Entspannung abschneiden.» So wird aus Nähe schleichend ein Nebeneinander – und der Weg zurück ist oft beschwerlich. Wenn man ein tolles Fahrrad nie fährt und selten ölt, fühlt man sich auf dem Sattel irgendwann auch nicht mehr wohl. Mit Sex ist es nicht anders. Man muss ihn pflegen – auch wenn es einen gerade nicht überfällt. Sonst rostet die Beziehung ein.
Manchmal sollte man es einfach tun
Wie Christoph Joseph Ahlers sagt: «Es geht hier nicht um den Ratschlag, sich alle zehn Tage zum Sex zu verabreden. Das erinnert an Körperertüchtigung, so wie die täglichen Kniebeugen am offenen Fenster. Vielmehr geht es darum, ein Verständnis von Sexualität als Kommunikation zu entwickeln: ein Bewusstsein dafür, dass sexuelle Interaktion in partnerschaftlichen Beziehungen sich nicht in dem Zweck der sexuellen Erregung oder der Fortpflanzung erschöpft, sondern vor allem eine Möglichkeit sein kann, Grundbedürfnisse nach Angenommensein und Zugehörigkeit zu erfüllen. Dieses Bewusstsein fehlt in unserer Kultur.»
Es geht darum, ein Verständnis von Sexualität als Kommunikation zu entwickeln.
Nicht nur, dass sich jeder Mensch grundsätzlich besser fühlt, wenn er liebevoll angefasst wird: Die Erfahrung zeigt ja auch, dass Sex zu den Sachen gehört, die besser werden, je öfter man sie macht. Wer seinem Partner häufig körperlich nahe ist, versteht die eigenen Wünsche besser – und kann die Begehren des anderen auch deutlicher spüren. Was also tun, wenn einem der Partner abends auf dem Sofa Avancen macht, man aber nur an Schlaf, unbeantwortete E-Mails oder das eigene Ungeduschtsein denken kann?
Keine Sorge, jedem sei es unbenommen, müde, gestresst und ungeduscht zu bleiben. Es klingt nicht sehr romantisch, aber wer seine Beziehung wichtig findet, sollte Sex wirklich manchmal einfach nur haben, um ihn zu haben. Um die Nähe nicht aufzugeben. Und mal im Ernst: Manchmal ist absolut nichts so erholsam und erfrischend wie eine müde, ungeduschte Nummer mit jemandem, den man liebt.
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