Kein Geld, kein Job und keine Perspektiven
Eigentlich hat der Angeklagte noch sein ganzes Leben vor sich. Die Frage ist nur: Was für eines? Seine Tage verbringt der 24-Jährige, der mit fiktiven Onlinegeschäften Dutzende von Leuten betrogen hat, mit Nichtstun. Und vielleicht bald im Gefängnis.

Angeklagte bemühen sich in der Regel nach Kräften, sich ihren Richterinnnen und Richtern von ihrer «Schoggiseite» zu präsentieren. Doch der 24-Jährige Schweizer mit nordafrikanischen Wurzeln, der an diesem Morgen vor dem Regionalgericht Emmental-Oberaargau sass, dachte nicht daran, Werbung in eigener Sache zu betreiben.
«Ich zocke auf meiner X-Box, schlafe und langweile mich», antwortete er gleichgültig, als Einzelrichterin Regula Masanti sich bei dem Arbeitslosen nach dessen Tagesabläufen erkundigte.
«Mir fehlt die Motivation»
Auf die Idee, eine Lehrstelle zu suchen oder arbeiten zu gehen, sei er durchaus schon gekommen, fügte er an. Nur: Dafür, sich ernsthaft nach einem Broterwerb umzusehen, «fehlt mir einfach die Motivation».
Für seinen Lebensunterhalt komme einerseits die Sozialhilfe auf. Andererseits erhalte er von seinem Stiefvater hin und wieder einen Zustupf. Das Verhältnis zur Mutter sei getrübt: «Sie nervt nur», sagte der Mann. Ständig bitte sie ihn um Geld und sage ihm, was er zu tun und zu lassen habe. Freunde habe er keine, und zum Ausüben seiner Hobbys – Billardspielen, Schwimmen und Schachspielen – würden ihm die finanziellen Mittel fehlen.
Mehrfach vorbestraft
Mit der Justiz hat der Mann nicht zum ersten Mal zu tun. Im Kanton Freiburg wurde er wegen betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Zuvor hatte er sich Jugendstrafen eingehandelt.
Nun klagte ihn die Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau wegen Betrugs – in den meisten Fällen gewerbsmässig begangen – an. Das Verfahren läuft seit zweieinhalb Jahren.
Auf Onlineplattformen bot er Smartphones und andere elektronische Geräte an. Die Interessenten überwiesen den Kaufpreis nach dem Ablauf der Auktionen auf das Post- und Bankkonto des «Verkäufers», doch die Ware sahen sie nie.
Weiter soll der Mann übers Internet eine Uhr und Schuhe bestellt und als Schuldner seinen Stiefvater angegeben haben.
Während der Voruntersuchung und auch vor Gericht gab der Beschuldigte sämtliche Verfehlungen zu. Als Grund für seine illegalen Tätigkeiten nannte er seine Spielsucht. Diese habe er inzwischen überwunden. Spielen tue er zwar weiterhin, aber Geld gebe er dafür keines mehr aus, behauptete er.
54 Privatklägerinnen und -kläger sind in der 20-seitigen Anklageschrift aufgeführt. Nach Ansicht der Ermittlungsbehörden beläuft sich die Deliktsumme auf knapp 25 000 Franken.
«Nicht superprofessionell»
Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft sagte in ihrem Plädoyer, der Beschuldigte sei «nicht superprofessionell, aber mit System» vorgegangen. Von zwanghaftem Gamen könne gemäss dem psychiatrischen Gutachten nicht die Rede sein: «Dem Angeklagten ging es nur darum, auf eine möglichst einfache Weise in so kurzer Zeit wie möglich zu so viel Geld wie möglich zu kommen.» Zweimal sei er wegen seiner Deals in Untersuchungshaft gesteckt worden. Beeindruckt habe ihn dies offenkundig nicht: «Noch während der laufenden Strafverfahren delinquierte er weiter.»
«Ich zocke, schlafe und langweile mich.»
Der Angeklagte sei ihrer Ansicht nach trotz allem «kein schlechter Mensch», ergänzte die Anklägerin. Mit Blick auf seine verkorkste Jugendzeit in ständig wechselnden Wohnungen und Heimen, seine Gewalterfahrungen schon im Kindesalter und angesichts der Tatsache, dass er sich bis heute weigere, das Leben mit einer Therapie in den Griff zu bekommen, seien seine Zukunftsperspektiven jedoch «gleich null».
Bedingt oder unbedingt?
Die Staatsanwältin empfahl der Richterin, dem Mann eine unbedingte Freiheitsstrafe von 17 Monaten aufzuerlegen. Zuvor müsse er eine stationäre Therapie antreten. Dies werde von der forensisch-psychiatrischen Expertin, die den Beschuldigten begutachtet hatte, «dringend empfohlen».
Als «total überrissen» taxierte der Fürsprecher des Mannes diesen Antrag. Mit einer bedingten Freiheitsstrafe von fünf Monaten sei sein Klient ausreichend bedient. Auf eine stationäre Massnahme könne verzichtet werden; sie würde nur etwas bringen, wenn sein Klient ein Minimum an Bereitschaft aufbrächte, sich behandeln zu lassen. Davon sei er aber – was das Gutachten ebenfalls bestätige – weit entfernt.
Auch der Pflichtverteidiger führte zugunsten des Mannes dessen «nicht einfache» Jugend ins Feld. Sie habe zu einer «Halt- und Strukturlosigkeit» geführt, die bis heute anhalte, obwohl es nicht an Menschen und Institutionen gefehlt habe, die ihm hätten helfen wollen.
Kleine Fortschritte
Auf dem Weg in ein geregeltes Leben mache sein Klient allerdings – wenn auch nur kleine – Fortschritte. Seine Spielsucht habe er überwunden, und seit neun Monaten sei er nicht mehr straffällig geworden.
All diese Bemühungen würden «vernichtet», wenn der Mann, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, hinter Gitter müsste, sagte der Anwalt.
Regula Masanti wird ihr Urteil heute verkünden. In seinem Schlusswort beteuerte der Beschuldigte, was er getan habe, tue im Leid. «Wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen», sagte er – und wirkte in diesem Moment zum ersten Mal während dieser Verhandlung wie ein ganz normaler Angeklagter.
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