Die bunteste und erfolgreichste SprinterinSie ist eine Legende und reist mit einem Koffer voller Perücken an
Shelly-Ann Fraser-Pryce gewinnt seit 14 Jahren Titel und Medaillen – über 200 m die nächste. Im Ziel gibt es Gratulationen für Mujinga Kambundji, die Achte wird.
Am Ende liegen sie sich unten auf der Bahn in den Armen und oben auf den Zuschauerrängen erst recht. Der WM-Final über 200 m ist das nächste jamaikanische Fest im Hayward Field in Eugene. Und die Tröten, die die jungen Frauen und alten Männer mitgebracht haben, sind so schrecklich laut wie ihre Shirts leuchtend gelb. Shelly-Ann Fraser-Pryce, die 35-jährige Legende des Sprints, umarmt innig ihre jamaikanische Landsfrau Shericka Jackson, dann geht es weiter zu Mujinga Kambundji. Zusammen haben sie eben ein Rennen bestritten, das nur ganz minim über dem Weltrekord endete. Das sind Ereignisse fürs Leben.
Für einmal aber wirbelten die Beine Jacksons noch ein wenig schneller als die von «Mommy Rocket», wie Fraser-Pryce liebe- und achtungsvoll auch genannt wird. Sie ist Mutter eines fünfjährigen Sohnes und demonstriert allen, dass sie deswegen trotzdem Weltspitze sein kann. Und das seit Jahren, bald Jahrzehnten. Aber heute war es der Goldtag von Jackson. Im unheimlich dicht besetzten Feld schaffte sie die halbe Bahnrunde in der Fabelzeit von 21,45 Sekunden und gewann ihren ersten Einzeltitel.
Fraser-Pryce hat vieles erlebt, seit sie 2007 erstmals an einer WM teilnahm – nur eine solche Leistung noch nie.
21,45 Sekunden? «Ja, das ist kein Scherz, und ich bin so froh, dass ich in diesem Rennen dabei gewesen bin», sagte Fraser-Pryce später im Interview mit NBC. Die nur 1,52 m grosse Athletin hat vieles erlebt, seit sie 2007 erstmals an Weltmeisterschaften teilnahm – nur eine solche Leistung noch nie. «Das war ein brillantes Rennen von Shericka!»
Siegerin Jackson selber betonte immer wieder, wie «dankbar» sie sei, dass sie sich wieder unter den Besten habe etablieren können, «das letzte Jahr war ein Desaster». Die Zeit der 28-Jährigen ist deshalb verrückt, weil sie nur elf Hundertstel über dem Weltrekord von Florence Griffith-Joyner aus dem Jahr 1988 liegt und dieser eigentlich unantastbar scheint. Die Amerikanerin trat kurz nach dem Wunderlauf an den Spielen in Seoul zurück – nur kurz bevor Trainingskontrollen eingeführt wurden. 1998 starb sie erst 38-jährig.
Und nun also die erneute Annäherung – die sich mit der Einführung der Super-Spikes zumindest teilweise erklären lässt. Fraser-Pryce selber, die beim Griff in ihren Perücken-Koffer mit der fünften Variante in dieser Woche verzückte und in Pink lospreschte, wurde in 21,81 Zweite. Das bedeutete die 13. WM-Medaille, allein fünfmal ist sie schon Weltmeisterin über 100 m geworden.
Fraser-Pryce ist in ihrer Heimat eine Sportheldin, der man bereits zu Aktivzeiten vor dem Nationalstadion in Kingston eine Statue errichtet hat. Im Ausland aber hat sie lange nicht die Beachtung gefunden, die sie verdient hätte. Das hat nichts mit ihren Leistungen, sondern vielmehr mit ihrem übergrossen Landsmann zu tun: Sie sprintete lange Jahre und bis zu seinem Rücktritt 2017 im Schatten von Usain Bolt. Während der 11-fache Weltmeister und 8-fache Olympiasieger mit seinen Entertainer-Qualitäten die Zuschauer auch nach getaner Arbeit fesselte, flog sie immer irgendwie unter dem Radar.
«Die Leute glauben immer, jenseits der 30 gehe es bergab, aber das stimmt nicht.»
Diese Zeiten sind vorbei, sie ist die erfolgreichste Sprinterin je und möchte für die Jüngeren ein Vorbild sein. Sie sagt, diese bräuchten eine solche Inspiration, um die eigenen Ziele erreichen zu können. «Und dann glauben die Leute immer, jenseits der 30 gehe es mit uns bergab, aber das stimmt nicht.» Sie scheint sich dem Alter irgendwie widersetzen zu können. Sie sagt zwar, Training, Wettkämpfe und das Aufziehen eines Sohnes seien sehr anspruchsvoll, «ich muss sehr viel arbeiten, und ich musste einige Rückschläge überstehen». Aber: Sie sei noch immer hungrig, noch immer motiviert, und noch immer überzeugt, schnell bleiben zu können oder gar noch schneller zu werden.
Ganz ähnlich argumentierte Kambundji nach ihrem bereits zweiten Final an dieser WM. In 22,55 war sie Achte geworden und natürlich nur bedingt zufrieden. Sie war im Vergleich zum Halbfinal eine halbe Sekunde langsamer, dort war sie in 22,05 Schweizer Rekord gelaufen. Und in Doha vor drei Jahren hatte sie die Bronzemedaille in 22,51 gewonnen. «Es ist keine gute Zeit», sagte sie sehr ehrlich und mit einem Lächeln, das verriet, dass sich die Enttäuschung jedoch in Grenzen hält. «Es war nicht mein bestes Rennen dieser WM, aber ich möchte das keineswegs damit begründen, dass ich auf der Innenbahn habe starten müssen», sagte sie. Die ist der engen Kurve wegen nicht beliebt.
«Das schwierigste Rennen war der Halbfinal, und ich bin stolz, dass ich dort meine Leistung brachte.»
Kambundji betonte einmal mehr, wie wichtig es ihr gewesen sei, den Final überhaupt erreicht zu haben. «Das schwierigste Rennen war für mich der Halbfinal. Ich bin stolz, dass ich dort meine Leistung gebracht habe. Ich wusste, dass ich Schweizer Rekord laufen muss, um weiter zu kommen. Und das ist mir gelungen.» Dieser Kampf sei gleichzeitig ihre Motivation für die nächste Saison. «Da will ich dann so weit sein, dass ich leichter durch den Halbfinal komme.» Sie freue sich «mega» über Rang 5 über 100 und den nationalen Rekord – «zudem habe ich ja in vier Wochen an der EM noch einmal eine grosse Chance.»
Nicht nur Fraser-Pryce sagte nach dem Wettkampf, sie sei «so müde» gewesen. Auch Kambundji spürte das halbe Dutzend Einsätze. Am Freitag kommen beide zu ihrem freien Tag und die Schweizer Staffel damit zu einer Premiere an einer Grossveranstaltung: Noch nie hat sich die Leaderin der Schweizer 4x100 m-Staffel den Vorlauf (Nacht auf Samstag, 02.40 Schweizer Zeit) am Fernsehen angeschaut. Welches Standing Kambundji mittlerweile erreicht hat, realisierte sie unmittelbar nach dem Rennen und später beim Verlassen des Stadions. Bereits zum vierten Mal wurde sie zur Dopingkontrolle gebeten – und beim Ausgang erwartete sie eine Schlange Menschen, die auf ein Autogramm von ihr warteten. Es waren vorwiegend jamaikanische Zuschauerinnen und Zuschauer.
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