Kambundji brilliert erneutWM-Fünfte – und trotzdem keine Jubelstürme
Mujinga Kambundji beweist einmal mehr ihre Weltklasse und läuft an der WM über 100 Meter in 10,91 Sekunden auf Rang 5. Dennoch hält sich ihre Zufriedenheit in Grenzen.
«Ich dachte schon, der Final sei weg.» Mujinga Kambundji zieht die Augenbrauen hoch, wenn sie über die bangen Momente nach ihrem Halbfinal über 100 m spricht, in dem sie in ihrer Serie nur Vierte geworden war. Und dann nur noch hoffen konnte. Gebannt hatte sie unten auf der Bahn auf das Verdikt gewartet – endlich kam die Erlösung per Anzeigetafel: In 10,96 Sekunden hatte sie als Achte und Letzte den Einzug in ihren nächsten grossen Endlauf an internationalen Meisterschaften geschafft. Und es wurde im erneut nicht ausverkauften Hayward Field von Eugene ein besonderer Final.
Nie zuvor hat es an Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen einen Endlauf gegeben, der so stark besetzt war. Alle acht Sprinterinnen wiesen eine Bestzeit von unter 10,90 Sekunden auf – Kambundji mit dem Schweizer Rekord von 10,89 die am wenigsten tiefe. Die Leistungsdichte hat nur schon seit Tokio weiter zugenommen. Alle drei jamaikanischen Olympia-Medaillengewinnerinnen versammelten sich, Titelverteidigerin Shelly-Ann Fraser-Pryce heute nicht mit rosa-lila Perücke, sondern mit hellgelb-grüner. Da waren zwei US-Amerikanerinnen, und mit der Britin Dina Asher-Smith startete neben Kambundji eine zweite Europäerin. Eine, die das Gefühl bestens kennt, gerade eines der wichtigsten Rendez-vous verpasst zu haben: Asher-Smith war im Tokio-Final über 100 m nicht dabei gewesen.
Natürlich war Kambundji klar, dass sie im Final anders laufen musste als noch im Halbfinal, wenn sie ihr Potenzial ausschöpfen und mehr als eine mittelmässige Zeit erreichen wollte. Und dann lieferte die 30-jährige Bernerin in der bereits kühlen Abendluft eine weitere ihrer Glanzleistungen an internationalen Titelkämpfen ab: Sie sprintete auf der wenig attraktiven Innenbahn in 10,91 Sekunden zu ihrer zweitbesten Zeit, wurde hervorragende Fünfte – und war nur teilweise zufrieden.
«Der Final war dann besser, aber auch da fehlte mir auf den letzten 15 Metern die Lockerheit.»
«An Meisterschaften zählt der Platz», sagte sie nach dem Wettkampf in den Katakomben – und wies damit darauf hin, dass sie mit diesem zufrieden ist, nicht aber mit der Zeit. «Früher habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, an einer WM den 100-m-Final bestreiten zu dürfen – jetzt ist dieser Traum wahr geworden», fügte sie an. Ganz verbergen konnte sie allerdings nicht, dass sie sich mehr erhofft hatte. Im Halbfinal hatte sie sich bereits nach rund 60 Metern verkrampft und sich so noch ins Ziel gekämpft. «Der Final war dann besser, aber auch da fehlte mir auf den letzten 15 Metern die Lockerheit.»

Ganz klar: Die Ansprüche sind im vergangenen Jahr gestiegen. Bei der Athletin, mindestens so sehr aber auch bei ihrem Trainer. Adi Rothenbühler hatte noch vor der WM gesagt, man habe im Training die Intensität noch einmal steigern können, er hat ihr einen Schweizer Rekord zugetraut, eine Zeit unter 10,89 also. «Und sie weiss, dass sie schneller laufen kann, als dass sie es nun gezeigt hat». Seine leichte Verstimmung rührte vor allem daher, dass Kambundji in den vergangenen Monaten mit einer neu gewonnenen Lockerheit unterwegs gewesen war – nur nicht jetzt, da es besonders wichtig gewesen wäre.
Die Aussenansicht scheint eine andere zu sein als die Innenansicht, denn ein wenig objektiver betrachtet fällt Kambundjis Bilanz der vergangenen zwölf Monate hervorragend aus: Als Olympiasechste über 100 m ist sie nach Oregon gekommen, als WM-Fünfte kehrt sie nach Hause zurück, Kambundji ist mittlerweile Stammgast in den Finals auf höchstem Level. In der Zwischenzeit wurde sie in Belgrad als viertschnellste Frau je Hallen-Weltmeisterin über 60 m und vermochte auf diesem hohen Niveau die Sommersaison anzugehen. Schon früh folgten in Bern und Zürich die Schweizer Rekorde auf beiden Sprintdistanzen.
Die Konstanz ist ihre neue Stärke
Kambundji hat sich nicht nur in der Weltspitze festgesetzt, sie demonstriert auch eine nie da gewesene Konstanz. Zeiten über elf Sekunden gibt es allerhöchstens noch in Vorläufen, wenn überhaupt. Leistungen darunter sind Alltag geworden. Dass es mental jedoch einen Unterschied macht, ob man gegen nationale Gegnerinnen antritt oder die stärkste internationale Konkurrenz wartet, scheint logisch. Und eine leichte Verkrampfung vielleicht gar nicht zu verhindern.
Dass die Medaillen in diesem Final wohl alle an die Jamaikanerinnen gehen würden, war wie schon vor den Olympischen Spielen in Tokio keine falsche Annahme. Dass sich mit Fraser-Pryce aber die mit 35 Jahren älteste in fast unfassbaren 10,67 Sekunden durchsetzte, ist doch verwunderlich. Die Mutter eines fünfjährigen Sohnes verteidigte damit ihren Titel von Doha erfolgreich und mit komfortablem Sechs-Hundertstel-Vorsprung auf ihre Landsfrau Shericka Jackson.
Olympiasiegerin Elaine Thompson-Herah, die in 10,81 Bronze gewann, hatte sich den Ausgang dieses Rennens möglicherweise auch goldiger vorgestellt. Einen Tag vor WM-Beginn hatte sie bekannt gegeben, dass sie sich von ihrem langjährigen Ausrüster Nike trennt und fortan von Puma unterstützt wird. Ein solcher Wechsel mitten in der Saison und kurz vor Titelkämpfen ist zumindest mutig, wenn nicht übermütig. Zumal die neuen Sprintschuhe mit Karbonsohlen einer doch längeren Angewöhnungszeit bedürfen.
Keine Amerikanerin vor der Schweizerin
Was den Wert der Leistung Kambundjis eindrücklich unterstreicht, ist die Tatsache, dass sich keine der Amerikanerinnen vor ihr zu klassieren vermochte. Und die USA hat einen Ruf als Sprintnation zu verteidigen. Bei den Männern war es am Vortag zu einem «clean sweep» gekommen, alle drei Medaillen waren an die Amerikaner gegangen. Nur noch die Britin Asher-Smith vermochte sich vor der Schweizerin zu platzieren, in 10,83 musste sie dafür aber nationalen Rekord laufen.
Nach dem erfolgreichen Wochenende steht Kambundji vor einer befrachteten Woche mit ihren Einsätzen über 200 m und der Staffel. Bereits am Montag steht für sie der Vorlauf über die halbe Bahnrunde an, an den darauffolgenden Tagen dann der Halbfinal und der mögliche Final. Ihre Erinnerungen an die WM vor drei Jahren in Doha sind frisch, als sie in 22,55 die Bronzemedaille gewann. «Klar ist, dass ich in diesem Halbfinal nicht chillen darf, wenn ich weiterkommen will», sagt sie. Das sieht Rothenbühler ebenso. Das Niveau von damals sei nicht mehr vergleichbar mit dem heutigen, sagt er. Auch Kambundji hat mit der Verbesserung ihres Rekordes auf 22,18 dazu beigetragen.
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